Kurzes Abendessen

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DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die Uhr zeigt eine halbe Stunde nach Mitternacht. "Guten Morgen", sagt eine lächelnde Stewardess - oder sagt man lieber Flugbegleiterin? - als ich das Flugzeug betrete. Guten Morgen?! Stimmt, der Tag hat angefangen. Anstrengender Tag, denke ich. Quetsche mich in meinen Außensitz einer Dreiherreihe, viel zu dicht neben einer mir unbekannten jungen Frau, ganz außen am Fenster hat ein Mann Platz genommen, sie flüstern, lachen, stecken die Köpfe zusammen, offenbar also ein Pärchen. Wieso bin ich eigentlich hier, so eng, angeschnallt, mit einen achtstündigen Flug vor mir? Weil ich das wollte. Ich denke an die Worte meiner Oma: Wieso nach Indien fliegen, im Schwarzwald kann man doch auch nett wandern!

Parallel zu mir eine ältere Dame, Vollprofi in Sachen Fliegen: Schuhe aus, dicke Wollsocken an, darüber leichte Sandalen, Schlafbrille aus Fleece um den Hals, böses Gesicht, genervt. Was kann ich dafür? Nichts. Ich wage den Versuch eines Lächelns. Sie lächelt zurück. Aha, geht doch. Das Flugzeug ist proppenvoll, ich frage mich, wer wieso weshalb mit mir fliegt und ... aber da geht es los und ich entspanne mich trotz allem. Das Pärchen neben mir schläft augenblicklich ein.

Nicht so ich. Welchen Service wird es um 1 Uhr 30 geben? Eine Flugbegleiterin verkündet: "Wir servieren Ihnen ein kurzes Abendessen und Getränke und kurz vor der Landung ein Frühstück!" Ein kurzes Abendessen? Was soll das sein? Fünf Zentimeter langes Brot? Ich bin neugierig. Ein Flugbegleiter kommt, knallt ein graues Päckchen auf meinen Tisch, nimmt Getränkewünsche entgegen und erfüllt sie. Ich berühre vorsichtig das Päckchen. Es ist sehr warm. Was nun? Besteck fehlt. Plötzlich erscheint eine der Stewardessen und gibt jedem, der ein Päckchen hat - bei weitem nicht alle, meine parallel sitzende Nachbarin schläft nach einem Glas Wein mit der Fleece-Brille über den Augen - zwei Servietten. Was nun? In diesen Situationen empfiehlt es sich, andere zu beobachten, was sie machen werden. Der schräg vor mir sitzende Mann öffnet das Päckchen, eine offenbar gefüllte Teigrolle wird sichtbar, die er mittels einer der Servietten ergreift und zu essen beginnt. Aha, so werde ich es auch machen.

Das kurze Abendessen schmeckt tatsächlich erstaunlich gut, danach bin ich zwar ziemlich beschmiert - Hände, Mund, Nase - aber ich säubere mich notdürftig mit der noch verbliebenen sauberen Serviette, lasse den Müll zurückgehen und mache es mir bequem. So gut es geht, aber das ist ja nun mein Problem. Ich hätte ja auch in den Schwarzwald ... aber lassen wir das, ich bin hoch über den Wolken, was ich vergessen muss, sonst werde ich hier verrückt. Sich so der Technik auszuliefern ist verrückt!

Ich bin unendlich müde und kein Blockbuster des Bordfernsehens kann mich locken. Irgendwann werde ich wach. Verblüfft starre ich auf meine Uhr, die ich natürlich wohlweislich schon auf die deutsche Zeit umgestellt hatte. Drei Stunden habe ich doch tatsächlich geschlafen, tief und fest, halb sitzend, neben mir das Pärchen, auch schlafend. Und nun werde ich in neunzig Minuten schon landen!

Ein Steward kommt, lächelt freundlich, aber müde und wünscht "Guten Morgen!" Schon wieder. "Möchten Sie amerikanisches Frühstück oder vegetarisches?", fragt er. Tja, immer diese Entscheidungen. Amerikanisch kann mit Bohnen, Würstchen oder was weiß ich sein, also wähle ich lieber die vegetarische Variante. Sie entpuppt sich als scharfe warme Beilage, die ich dann tunlichst meide und lieber das Pappbrötchen, die Mini-Portionen Butter und Marmelade, den Joghurt, Obstsalat - immerhin frisch - und den Fertigkuchen verzehre. Meine Sitznachbarin parallel ist auch wach und isst endlich etwas.

Landung am sehr frühen Morgen in München. Ich stolpere durch das chaotisch aussehende Flugzeug. Überall Abfall, achtlos hingeworfene Decken, Kissen, herausgerissene Kopfhörer. Ein Schlachtfeld. Menschen benehmen sich unmöglich, denke ich. Machen sie das zuhause auch? Natürlich nicht, da müssen sie ja selbst aufräumen.
Im Flughafen empfangen mich unzählige Hinweise auf das noch laufende Oktoberfest. Na toll, es steht mir nicht der Sinn nach einer Maß um sechs Uhr morgens.

Irgendwann daheim. Ich weiß jetzt, was ein kurzes Abendessen ist. Und noch viel mehr.
 
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Hallo Doc Schneider,

interessanter Text, unterhaltsam geschrieben.

Nur das Partizip hier stört mich vom Stil her:

Wieso bin ich eigentlich hier, so eng, angeschnallt und einen achtstündigen Flug vor mir habend?
Klingt nicht so gut, besser wäre: „mit einem achtstündigen Flug vor mir".

LG SilberneDelfine
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Silberne Delphine,

die von dir angesprochen Stelle bereitete mir auch Kopfzerbrechen.
Dein Vorschlag ist gut, werde ich übernehmen!

Danke und Gruß DS
 

Blue Sky

Mitglied
In dem Fall ist ein kurzes Abendessen eines, welchen man lieber ausfallen lassen sollte.

Schöne Darstellung, auch weiß öfter mal nicht, warum man sich so Dinge antut.

Ach so; die Oma hat völlig recht! ;)

LG
BS
 



 
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