La Paloma

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Dimpfelmoser

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La Paloma

Er betrachtete die überschaubare Szenerie des pittoresken kleinen Hafens. Alte Kutter, gezeichnet von Jahrzehnten harter Arbeit auf See und heute vor allem Kulisse für sielhafenromantisches Touristentreiben, rieben sich sanft an den Kaimauern. Auf der Promenade, welche das Hafenbecken zu drei Viertel umschloss, beobachtete er, wie Personen unterschiedlichen Alters damit beschäftigt waren, sich selber in eigenartige Posen zu werfen. Offenbar bemühten sie sich, das, was man ein ‚Selfie‘ nannte, möglichst perfekt und mit einer urlaubsangemessenen Prise Schiff, Himmel oder Wasser im Hintergrund herzustellen. Erwin schüttelte leicht den Kopf, während er einen Schluck etwas zu heißen Tees mit einem leichten Schlürfen aufsog. Schon immer hatte ihm das Verständnis dafür gefehlt, dass so viele Menschen den Aufwand betrieben, irgendwelche Dinge, Orte oder andere Menschen in irgendwelchen Apparaten einzufangen, oder auf kleinen Bildschirmen das zu betrachten, was die umgebende Wirklichkeit doch direkt preis gab. Warum, dachte er, sahen sie nicht schlicht und ergreifend hin, vertrauten ihren eigenen Augen und fütterten den Speicher ihrer eigenen Erinnerungen und nicht den ihrer technischen Helferlein?

Diese Menschen, da war sich Erwin sicher, und er konnte einen leisen Seufzer bei diesem Gedanken nicht unterdrücken, hatten wirklich verlernt, ausschließlich und mit allen Sinnen im Hier und Jetzt zu sein. Wenn ihr wüsstet, dachte er, und schickte dem ersten einen zweiten, deutlicher vernehmbaren Seufzer hinterher, wie wertvoll es ist, einfach da zu sein, sich ganz einfach und vollständig in der Gegenwart zu befinden. Könntet ihr ermessen, was es bedeutet, diese Möglichkeit endgültig verloren zu haben, wäret ihr nicht so versessen auf eure Fotos, an die ihr euch später ohnehin nicht mehr erinnert, oder mit denen ihr, falls ihr sie doch aus den Untiefen eurer Apparate hervorzaubert, eure Mitmenschen quält. Und was schaut ihr euch dann an? Erwin blickte nach links, direkt auf das Profil von Fridas Gesicht. Ihr seht nur Erinnerungen aus zweiter Hand, von denen ihr vielleicht glauben mögt, es seien die euren. Doch gehören sie euch nicht mehr. Und ihr bekommt sie auch niemals mehr zurück.

Frida war nun schon seit fast zehn Minuten damit beschäftigt, ein kleines Stück Apfelkuchen in seine Bestandteile zu zerlegen. Gelegentlich, wenn ein Splitter ihres fragmentierten Gedächtnisses es zuließ, die zentrale Eigenschaft eines Kuchens mit dem Konzept Essen in einen funktionierenden Sinnzusammenhang zu bringen, führte sie die Gabel zum Mund, und ein Zucken ihrer Mundwinkel schien zu dokumentierten, dass sie über den fruchtig-süßen Geschmack erstaunt und erfreut war. Vorsichtig legte Erwin seine Hand auf Fridas rechten Arm, der eben von neuem beginnen wollte, ihrer Hand alle Freiheiten für die nächste Zerstörungwelle auf dem Kuchenteller zu geben. Auch wenn es dafür keinen sichtbaren Beleg gab, war sich Erwin dennoch sicher, dass Frida seine Berührung auf einer tieferen Ebene realisierte, und dass sie in diesem Moment in irgendeinem Winkel ihres inzwischen so weit entfernten Verstandes mitbekam, dass er, der Mann, mit dem sie seit über fünfzig Jahren verheiratet war, ihr über diesen kleinen, sanften Kontakt mehr mitteilte als nur eine ordnende Botschaft an ihren Arm, ihre Hand, ihre Finger zu senden. Diese Botschaft war so simpel wie zentral, trug sie doch all das in sich, was Erwin selber noch in dieser Welt hielt. Ihr Kern waren diese schlichten vier Wörter: Ich bin bei dir. Von der Seite fixierte Erwin Fridas Augen, die selber starr auf den Kuchen gerichtet waren. „Es ist alles in Ordnung, Liebes“, sagte er. „Es ist alles in Ordnung.“ Seine Hand ruhte für ein paar Sekunden auf Fridas Arm, und er nahm wahr, dass ihre Hand gleichfalls zur Ruhe kam, mit dem sinnlosen Kuchengemetzel nicht weiter fortfuhr. Er sagte kein weiteres Wort und glitt mit jedem Herzschlag, den er in diesen Augenblicken so intensiv spürte, dass er glaubte, er transferiere seine eigenen Gedanken und Gefühle über diesen kleinen Hautkontakt direkt in Fridas Seele, tiefer in eine intensive, schmerzhafte Empfindungsmelange aus Dankbarkeit und Trauer.

Die Dankbarkeit speiste sich aus der Tatsache, dass er mit seinen inzwischen vierundachtzig Lebensjahren hier und jetzt, an diesem Ort, mit seiner geliebten Frau einen Tee trinken und ein Stückchen Kuchen essen konnte. Mit seiner Frau, die vor geraumer Zeit auf eine Reise gegangen war, von der sie niemals zurückkehren würde. Dies war die Ursache für die Trauer, die er nun schon seit fast fünf Jahren mit sich herumtrug, und die sich so tief in sein Empfindungsgeflecht eingebrannt hatte, dass sie immer wieder alles zu überdecken schien, was ihm an Lebensfreude spendenden Gedanken geblieben war. Fünf Jahre, dachte Erwin, und musste dagegen ankämpfen, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen. Fünf Jahre waren inzwischen seit der Diagnose vergangen, die sie damals, was ihr ein kleiner Teil seiner selbst bis zum heutigen Tage ein wenig übel nahm, so demütig, ja sogar ein wenig heiter aufgenommen hatte. Er hingegen war für ein paar Wochen verloren gegangen in einem infernalischen Tsunami seiner Emotionen, nachdem ihn die Endgültigkeit des Befundes vollständig durchdrungen hatte. Stetig sah er sich innerlich mit der unmittelbar drohende Gefahr des Ertrinkens konfrontiert und verzweifelte an seiner Unfähigkeit, für sich, und vor allem für Frida, das rettende Ufer zu entdecken.

Tatsächlich war es Frida selber gelungen, ihn Zentimeter um Zentimeter zurück an Bord ihres kleinen Bootes zu holen, mit dem sie seit über fünfzig Jahren gemeinsam durch ihr Leben segelten. Frida nahm ihre Erkrankung an, akzeptierte vom ersten Tag an den neuen Kurs, und vermittelte ihm mit all ihrer Geduld und, wie er fand, durchaus unangemessenen Zuversicht, die sie Gottvertrauen nannte, dass seine Rolle nicht mehr die eines Navigators oder gar Kapitäns sein könne. So hatte er mit der Zeit zu akzeptieren gelernt, dass sie beide, Frida und Erwin, nur noch Passagiere auf einer Jolle waren, dessen Segel gesetzt, dessen Ziel nicht mehr infrage zu stellen war, und ihr neuer Auftrag schlicht darin bestand, demütig zu schauen, wohin diese letzte Reise führen würde. Einzig der Zeitpunkt der Ankunft blieb unklar. Was er sich in all seinen Kämpfen mit den Dämonen, die während dieser letzten Etappe stetig präsent waren, selber geschworen, Frida jedoch niemals hatte mitteilen können, war seine Absicht, sie an ihrem imaginären Ziel niemals alleine von Bord gehen zu lassen.

Erwin erinnerte sich, als er sich erneut seinem eigenen Kuchen widmete, an den letzten klaren Moment Fridas, in dem sie ihm zu verstehen gegeben hatte, was sie sich für ihren Mann, für seine Zukunft wünschte. Er erinnerte sich, wie er damals, vor einem knappen Jahr, in das Krankenhaus gegangen war, welches Frida seit einer guten Woche erneut für eine Behandlung beherbergte. Für eine Behandlung, die, davon war er zu diesem Zeitpunkt fest überzeugt, nichts weiter sein könne als ein Placebo zur Beruhigung der Ärzte, und vielleicht auch zu seiner eigenen. Frida war nach einem Nachmittagsschlaf in eben dem Augenblick aufgewacht, wo er an ihrem Bett stehend damit beschäftigt war, ein paar frische Blumen in die kleine Vase auf ihrem Klapptischchen zu zwängen. Erwin sah sich selber wieder ungläubig auf Frida hinabblicken in ihre wunderbaren, klaren Augen und auf ihren so schönen, ihn anlächelnden Mund. Er hörte, wie sie seinen Namen sprach. „Erwin, mein Erwin. Du bist da.“ Sah sich selber, erstarrt und unfähig, zu reagieren, irgendetwas zu sagen. Hörte, wie sie langsam, doch mit großer Klarheit in der Stimme, fortfuhr. „Du musst raus, Erwin. Lebe, mein Schatz. Lebe unser Leben. Lebe es für mich weiter. Und lass mich gehen. Erwin, lass mich gehen!“

Erwin sah sich am Bett seiner Frau schwanken, sah sich selber zusammensacken, wortlos auf einen Stuhl fallen, in Tränen ausbrechen. Sah die Krankenschwester mit einem Arzt ins Zimmer kommen, ihn zu beruhigen, ihn aus dem Zimmer zu geleiten. Ihm die Fahrt nach Hause zu organisieren, ohne seine Frau. „Ihre Frau, Herr Schneider, ist bei uns in guten Händen, machen Sie sich keine Sorgen.“ Vor seinem inneren Auge stand er sich selber gegenüber, betrachtete sich in all seiner Unfähigkeit, etwas anderes zu tun als das, was ihm diese Menschen rieten. „Wir geben Ihnen ein Beruhigungsmittel, hier, nehmen Sie von diesen Tabletten morgens und abends eine. Und dann kommen Sie in einigen Tagen wieder hierher und besuchen Ihre Frau.“ Erwin erinnerte sich, wie er dann drei Tage später wieder zum Krankenhaus kam, um erneut am Bett seiner Frau zu stehen. Sah sich auf Frida hinabblicken, die ihn nicht mehr erkannte. Lass mich gehen. Das waren die letzten Worte, die er von dem Menschen, der ihm alles bedeutete, gehört hatte. Lass mich gehen.

Erneut wanderte Erwins Blick zum Hafen, dann zu der Seite der Promenade, wo ein paar Bänke den Flanierenden Platz zum Verweilen boten. Auf einer saß Frau Harms, die ihnen diesen kleinen Ausflug ermöglichte, Eis essend und gelegentlich in ihre Richtung blickend. Mit Mühe und unter Aufbietung seines ganzen Charmes war es Erwin gelungen, Fridas resoluter Betreuerin diesen kleinen Ostfriesentee außerhalb des eigentlich vorgesehenen Programms ihres Nordseeaufenthaltes abzuringen. Ein einziges, letztes Mal noch, hatte er sie bekniet, wünschte er sich, alleine mit seiner Frau zu sein, ohne Betreuung, Beaufsichtigung, Bevormundung. Sich einmal noch der Illusion hingeben, selbstbestimmt zu sein, Normalität zu simulieren und gemeinsam im Hier und Jetzt zu leben, und sei es auch nur eine halbe Stunde in einen kleinen Café bei einem Ostfriesentee und einem Stück Kuchen. Natürlich, das war Erwin vollkommen klar, musste und würde Frau Harms in der Nähe bleiben, immer in Sichtweite der beiden, immer aufmerksam und bereit, sofort zu reagieren, sollte es die Situation erforderlich machen.

Nun gut, Herr Schneider“, gab sie Erwin zu verstehen, nachdem sie die beiden an den Tisch geleitet hatte. „Wenn es ein Problem gibt, winken Sie mir einfach kurz zu. Ich bin dann sofort bei Ihnen. Sehen Sie dort hinten die Bänke? Da setze ich mich hin und lasse Ihnen ein wenig Zeit.“ Erwin nickte, bedankte sich und schob Frida eine Speisekarte hinüber, wohl wissend, dass sie die Karte nicht würde lesen, geschweige denn überhaupt erkennen können, dass es sich um eine Speisekarte handelte. „Ich habe Ihrer Frau“, sagte Frau Harms im Gehen, „ein ganz leichtes Mittelchen gegeben. Seien Sie also unbesorgt.“ Erwin dankte ihr erneut, was eher ein Reflex als ein aufrichtiges sich erkenntlich zeigen war, denn ob dieser letzten Information lagen ihm ein paar deutlich weniger gesittete Formulierungen auf der Zunge.

Nun blickte er hinüber zu ihrer Anstandsdame, diesen Begriff fand er gerade überaus passend, und wünschte sich, ein paar Jahrzehnte jünger zu sein, um ihr in angemessener Weise mitteilen zu können, was er von ihrer Art hielt. Schnell jedoch war dieser Gedanke und die ihn begleitende aggressive Gefühlswallung verflogen, und Erwin wendete den Blick ab, um nicht noch durch eine unbedachte, zufällige Bewegung ein spontanes Herbeieilen der Harms zu verursachen. Zugleich wanderte seine rechte Hand zum wiederholten Male in sein Jackett, um die Innentasche abzutasten, zu prüfen, ob sie immer noch enthielt, was er dort schon vor einigen Tagen platziert hatte, während er daran arbeitete, diesen Ausflug Wirklichkeit werden zu lassen.

Die Wahl dieser Region für ihren Aufenthalt - Erwin wollte es in der Vorbereitung nicht Urlaub nennen, obwohl es als solcher verkauft wurde - war keineswegs zufällig. Mit Frida hatte er in den früheren, in ihren guten Jahren häufig den Sommerurlaub in dieser Region verbracht. Stets genossen sie das Schlichte und Ungezwungene, das diesen Wochen immer zu eigen war. Sie mochten das Vertraute der immer gleichen Pension, der immer identischen Stationen in ihren fast immer identischen Wochenprogrammen. Und ihr Highlight war stets dieser kleine Ort mit seinem schmucken Sielhafen, in dem sie während ihres allerersten Nordseeurlaubes die ‚La Paloma‘ entdeckt hatten. Seitdem waren sie, bis zu dem Jahr, in dem sie Fridas Diagnose aus der Bahn warf, jedes Jahr in diese Region, an diesen Ort, zu diesem Schiff zurückgekehrt.

Schau, Liebes, dort hinten liegt sie“, hatte er Frida zugeflüstert, direkt nachdem Frau Harms außer Hörweite gewesen war. „Dort ist die gute, alte Taube, unsere La Paloma. Ach, Frida, was würde ich dafür geben, noch einmal mit dir hinaus aufs Meer zu fahren.“ Vorsichtig strich Erwin durch das vom Wind leicht zerzauste Haar seiner Frau, um sich dann intensiv der Karte zu widmen und den wenigen anderen Gästen des Cafés nicht allzu viel seiner Emotionen zu offenbaren. Während er für sich und Frida die kleine Bestellung zusammenstellte, spähte er mehrere Male in Richtung der verwitterten Silhouette des alten Krabbenkutters, von dem gerade frisch gefangene Nordseekrabben umgeladen und zugleich, verpackt in schlichte Papiertüten, für kleines Geld an die wartende Kundschaft verkauft wurden. Es war eben dieser alte, abgesehen von seinem besonderen Namen unscheinbare Kutter, der Erwin dazu bewogen hatte, noch einmal mit Frida an diesen Ort, in dieses Café kommen zu wollen.

Jetzt fixierte er die ‚La Paloma‘ und sein Ärger über die Harms machte Platz für eine warme Woge der Erinnerung, die ihn augenblicklich umhüllte und zugleich hoffen ließ, dass sie auch ein wenig zu Frida hinüberschwappen möge. Trotz der oberflächlichen Akzeptanz ihres Zustandes hatte ein kleiner Teil in ihm geglaubt, der Blick auf das Schiff, die Erwähnung seines Namens könne irgendeine Reaktion Fridas hervorrufen, würde sie für einen Moment zu ihm zurück bringen. Wie sehr er sich wünschte, Frida möge dieses unmittelbare ungefilterte Erleben der Wirklichkeit, der Gegenwart eines so bedeutendes Symbols ihres gemeinsamen Lebens tatsächlich sehen und verstehen. Wie sehr er sich wünschte, seine Frau würde es nochmals schaffen, ihm zu zeigen, dass sie verstand, wo sie war, wo sie gemeinsam waren. Dass sie verstand, worauf sie blickte, und dass sie ihn sah. Ihn ansah. Ihn erkannte.

Angesichts der geschäftigen Verkaufsaktivitäten am alten Kutter sehnte sich Erwin danach, dass es Frida, genau wie ihn, über ein halbes Jahrhundert zurück zog in die Weltstadt Hamburg, wo sie die aufregendsten Tage ihres noch jungen gemeinsamen Lebens verbracht hatten, kurz nach ihrer Trauung in dem kleinen, gemütlichen Eifeldörfchen, das für so viele Jahre ihre Heimat gewesen war. Ihre gemeinsame Leidenschaft für das Kino hatte sie vor so vielen Jahren zusammengebracht. Zusammen ließen sie sich aus der bieder-spießigen Provinz von John Wayne in den Wilden Westen, von Robert Taylor in das mystisch-mittelalterliche Britannien, von Charlton Heston ins biblische Judäa oder von Elizabeth Taylor ins antike Ägypten entführen. All diese Abenteuer beeindruckten sie jedoch nicht so nachhaltig wie die Geschichte von Hannes Kröger auf St. Pauli. Und keine Filmmusik konnte sie mehr bewegen als ‚La Paloma’, das fortan ihr Lied war. Die Melodie, zu der Erwin Frida, als die Zeit dafür gekommen war, um ihre Hand bat.

Es war für sie keine Frage, dass sie ihre Hochzeitsreise in der Heimat des blonden Hans verbringen würden. Und was für großartige, aufregende, faszinierende Tage es damals waren. Wie ein Echo eines eben erst vernommenen Tons hallten die Bilder in Erwin nach, während er Fridas Hand ergriff, die Kuchenschlacht, die sie eben wieder aufnehmen wollte, ignorierend. Zusammen mit seiner Frau ging er wieder in Richtung der Landungsbrücken, um endlich in Wirklichkeit und in Farbe die große, weite Welt zu sehen, in Form der riesigen Pötte in dem noch viel riesigeren Hafen. Wie sie sich erschraken, als ihnen plötzlich zum ersten Mal tätowierte Menschen über den Weg liefen. Erwin spürte die erregenden Wellen dieses Gefühls, das eine Mischung aus Faszination und Verwirrung war und sich aus der Erkenntnis speiste, wie selbstverständlich diese für sie beide so grobschlächtig und finster wirkenden Gestalten ihre Körperkunst zur Schau trugen. Wie sehr sie davon irritiert waren, als ihnen der Seelöwe, denn so nannten sie später, als sie sich gemeinsam an die aufregenden Tage an der Elbe erinnerten, diesen bärtigen Berg von einem Mann, eine Tüte mit frisch gefangenen Krabben schenkte, die sie sich selber nie zu kaufen getraut hätten. Und was der Mann ihm, offensichtlich amüsiert von seiner Scheu, die er wie eine Monstranz vor sich hertrug, freundlich lächelnd mit auf den Weg gab, indem er ihm in die Augen blickte und sagte, „Jung, pass ob din Deern op!“, das konnte Erwin in diesem Moment in dem kleinen Sielhafen mit Blick auf den Krabbenkutter so deutlich hören, als stünde der Seelöwe direkt neben ihm.

Erwin drückte Fridas Hand etwas fester und wurde von seinen Erinnerungen ein paar Meter weiter gezogen auf die sündige Meile, die sie am Tag nach ihrem Hafenabenteuer entlang schlichen. Was waren sie, naiv und unbedarft, erneut erschrocken, als sie das erste Schaufenster sahen, in dem sich Objekte zur Schau stellten, von denen Sie nur ansatzweise nachvollziehen konnten, welchen speziellen Zwecken diese wohl dienen mochten. Er konnte wieder fühlen, wie Frida ihn plötzlich von diesem Fenster wegzog, ohne ein einziges Wort zu sagen, aber mit einer Vehemenz, die ihm signalisierte, dass ihre Kapazität für neue, ihr Weltbild durcheinander wirbelnde Impressionen schon mit dieser ersten Visualisierung von Frivolität vollständig erschöpft war. Wie gern hatte er sie in späteren Jahren, wenn er sie ein wenig necken wollte, mit ihrem darauf folgenden Spießrutenlauf, vorbei an all den leichten Mädchen und schweren Jungs, entlang der Reeperbahn, entlang der Großen Freiheit, und vorbei am Hippodrom, wo sie keinem Hannes Kröger begegneten, aufgezogen, wohl wissend, dass Frida ihm dies nie sonderlich lange übel nehmen konnte.

Jetzt, in diesem Moment des Erinnerns, fühlte Erwin erneut, wie sehr sie damals die Ahnung der Möglichkeiten eines von allen Regeln befreiten Lebens zusammengeschweißt hatte. Ein Leben, das, so faszinierend es auch sein mochte, niemals das ihre hätte werden können. Er blickte zurück und sah, wie sehr sie diese Tage in Hamburg darin bestärkt hatten, einander all das geben zu können, was ihnen im Leben tatsächlich wichtig sein würde. Die großen Abenteuer mochten auf der Leinwand attraktiv und erstrebenswert aussehen, aber Frida und Erwin, waren sich selber genug und würden voneinander niemals mehr erwarten, als ihren einfachen, klaren Weg gemeinsam zu gehen. Dieses Wissen, diese Sicherheit war ihnen gegeben, dieses größtmögliche Geschenk war ihnen gemacht worden. Doch nun, und dieser Gedanke durchstach Erwin mit brutaler Klarheit und beendete den Strom seiner Erinnerungen, war Fridas Erinnerungsspeicher unwiederbringlich verloren, die Chronik ihrer gemeinsamen Zeit in ihr gelöscht, die ihrer Zweisamkeit stetig innewohnende Selbstvergewisserung ausradiert. Ihr gemeinsames Leben war Geschichte, ihr gemeinsamer Weg verlassen. Keine weitere Erzählung aus früheren, guten Jahren, keine sehnsüchtige Weise, die er ein letztes Mal für Frida summen würde, besäße die Macht, dies zu ändern. Erwin ließ Fridas Hand los, die ihm plötzlich nichts weiter signalisierte als kaltes Vergessen und triste Vergänglichkeit.

Vorsichtig fingerte er das kleine Fläschchen aus seinem Jackett und stellte es neben seine leere Teetasse. Dann goss er sich den Rest der nun auf eine für ihn trinkbare Temperatur herab gekühlten braunen Flüssigkeit nach und vergewisserte sich ein weiteres Mal, dass Fridas Tasse immer noch ganz gut gefüllt war. Wieder griff er nach dem bis zum Rand mit GHB gefüllten Fläschchen, aber seine Hand verharrte, das Gefäß vorsichtig umschließend, auf der Tischplatte. Wie einfach es gewesen war, dieses Zeug in Köln zu besorgen. Und wie umfassend man sich über Dosierung und Wirkung dieser ‚K.-o.-Tropfen‘ im Internet informieren konnte. So wusste Erwin, dass der Inhalt des Fläschchens, gleichmäßig verteilt auf ihre beiden Tassen, das Ziel ihrer Reise sehr bald in Sichtweite kommen lassen würde. Seine Hoffnung, sein einziger, allerletzter Wunsch, Frida doch noch einmal aus ihrem inneren Labyrinth hervorzulocken, war zerstoben, und so saß er neben seiner Frau und wusste, dass es nur noch ein paar Minuten dauern würde, bis die Harms sie abholen käme. Wusste, dass nun der Moment für diese eine, letzte Entscheidung gekommen war.

Sie müssen aber darauf achten, Herr Schneider, dass Ihre Frau auch etwas trinkt!“, hatte ihn die Betreuerin mit strengem Blick ermahnt, als sie aus dem Kleinbus ausgestiegen waren. „Ihre Frau trinkt wirklich zu wenig. Da müssen Sie schon ein wenig aufpassen.“ Erwin wusste, die resolute Ostfriesin würde Frida nicht aufstehen lassen, ohne ihr dabei zu helfen, die Teetasse vollständig zu leeren. „Ach Frida“, seufzte er erneut, „wir hatten doch so viele schöne Jahre, Liebes.“ Erwin griff das Fläschchen fester, beugte sich etwas zu ihr hinüber, und fing sehr leise an zu singen:

Ein Wind weht von Süd und zieht mich hinaus auf See
Mein Kind, sei nicht traurig, tut auch der Abschied weh
Mein Herz geht an Bord und fort muss die Reise gehn
Dein Schmerz wird vergehn und schön wird das Wiedersehn

Vorsichtig küsste er Frida auf die Wange und blickte dann zu Frau Harms hinüber, signalisierte ihr durch ein kurzes Winken das Ende ihrer Teezeit. Ein sanftes Lächeln umspielte seinen Mund. Erwin wartete.
 
Zuletzt bearbeitet:

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Eine sehr einfühlsam geschriebene Geschichte!

Vielleicht etwas vorhersehbar, aber gut umgesetzt.

Die Großschreibung der Pronomen in der wörtlichen Rede kannst du noch verbessern.

Ab und zu ein Adjektiv entfernen ginge auch.

Gerne gelesen!

Gruß DS
 

Dimpfelmoser

Mitglied
Hallo DS,

vielen Dank für das Lesen und vor allem Empfehlen. Schreibung der Pronomen ist verbessert, bei den Adjektiven muss ich mir noch ein paar Gedanken machen.

Viele Grüße
Dimpfl
 



 
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