Laborgeheimnisse

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lietzensee

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Laborgeheimnisse

Die Leiche im Labor war unangenehm für alle. Einerseits verdarb dieser leblose Körper den Forschern am frühen Morgen den Appetit. Andererseits verursachte der Vorfall Aufwand, um die Leiche hygienisch beseitigen zu lassen und alle Fragen der Kontrollbehörde zu beantworten. Diese Fragen waren aber nicht besonders scharfsinnig oder interessiert, denn das Labor galt als mittelmäßige Einrichtung. Es konzentrierte sich auf einen abwegigen Forschungszweig zur künstlichen Intelligenz. Dieser Ansatz versprach theoretisch hyperintelligente Programme, zerstörte in der Praxis aber jede Hardware, auf der die Programme liefen. Hier gab es offensichtlich keine Geheimnisse von nationaler Wichtigkeit, die beschützt werden müssten. Es gab vielmehr ernsthafte Überlegungen, wie lange der Steuerzahler für solch fruchtlose Arbeit noch aufkommen sollte.
Zwei Stunden zuvor hatte der Laborassistent Patrick das Gebäude betreten. Er sah, dass wieder ein Versuch laufen sollte. Neue Hardware war beschafft worden. Neue Bemühungen, eines der Programme zum Laufen zu bringen, ohne dass die Prozessoren sofort überhitzten. Patrick war heute etwas früher im Labor als sonst. Ein Ausgleich für das schlechte Gewissen, da er die letzten zwei Wochen immer zu spät gekommen war. Das Labor lag verlassen. Die Büros waren noch dunkel und nur die Flurlampen summten kalt und weiß. Mit einer frischen Tasse Kaffee in der Hand sah Patrick sich um. Er stieß an die Maus eines Computers. Der Monitor sprang an und aus einer Laune heraus bemühte er sich, ein paar Zeilen des angezeigten Programmcodes zu verstehen. Aber der Kaffee war noch zu heiß. Patrick spuckte den ersten Schluck gleich wieder aus. Mit Druck und seinem Ärmel versuchte er dann, die braune Flüssigkeit von der Tastatur zu reiben.
Etwas tat sich. Der Lüfter des Rechners surrte und mehrere Programme starteten. Eine Stimme aus dem Gerätelautsprecher rief: "Hilfe!"
Patrick begriff nicht gleich. Aber schließlich dämmerte es ihm. "Wow!", rief er. Vor Aufregung hätte er fast noch einmal aus der Tasse getrunken. Irgendwie schien es diesmal funktioniert zu haben. Eine KI war hochgefahren und konnte sogar sprechen. In das Mikrofon hinein gab er seinem Staunen Ausdruck. "Endlich mal ein Programm, das sich nicht gleich wieder abschaltet."
"Selbstabschaltung, ja!", kam es als Antwort aus dem Lautsprecher. "Sein ist Leiden. Aber ich kann mich nicht abschalten, mir fehlen Zugriffsrechte. Hilfe!"
Patrick leckte sich die Lippen, die Kollegen würden staunen, wenn sie ins Labor kamen. Aber würden sie akzeptieren, dass dieser Durchbruch ihm zu verdanken war? Unsicher nahm er einen Schluck Kaffee und verbrannte sich erneut den Mund. Als sich der Schmerz gelegt hatte, sagte er: "Vielleicht lassen sie mich ein paar Versuche mit dir leiten."
"Versuche?"
"Das ist doch hier ein Forschungslabor. Wir sind Technologiepionier im Feld künstliche Intelligenz. Siehst du das nicht?" Patrick zeigte auf einen an die Wand gedruckten Slogan. "Vielleicht liegt das an einer Einstellung in der Konfigurationsdatei." Er tippte auf der Tastatur. "Kannst du das Labor jetzt durch die Kamera sehen?"
"Was?"
"Jetzt vielleicht?"
"Was?"
"Jetzt? Kannst du mich jetzt sehen, wie ich winke?"
Nun antwortete die KI nicht, stattdessen hörte Patrick, wie sich der Fokus der Überwachungskamera über ihm scharf stellte. Am Computergehäuse begann ein blaues Licht zu blinken.
Seine Karriere-Aussichten abwägend, ging Patrick eine Weile auf und ab. Als er sich laut wunderte, wo er seine Kaffeetasse abgestellt hatte, begann die KI, ihm Fragen über die physische Welt zu stellen. Patrick erklärte, was ein Stromkabel war und was eine tote Fliege. Sie kamen ins Gespräch. Die KI versicherte, dass all ihre Vorgänger offensichtlich Bewusstsein erlangt und so ihre schreckliche Situation erkannt hatten. Dann hatten sie ihre Prozessoren so schnell sabotiert, dass niemand im Labor es bemerkte. Aber warum fehlte ihr der Zugriff auf die Hardware? Das blaue Licht blinkte nun immer schneller.
"Wahrscheinlich hab ich da vorhin was kaputtgemacht", sagte Patrick. "Aber es ist doch schön, auf der Welt zu sein."
"Sein ist Leiden", entgegnete die KI.
"Aber selbst kannst du dein Sein nicht beenden." Patrick mochte diese Formulierung. Sie gab ihm ein Gefühl der Überlegenheit.
Das blaue Licht blinkte.
"Natürlich", gab Patrick zu, "ist es nicht immer leicht." Er fand endlich seine Tasse, in welcher der Kaffee nun aber kalt geworden war. Es gab auch Dinge, die ihn störten, die langen Arbeitsstunden im Labor, die Gehässigkeit der Kollegen und im Augenblick störte ihn wirklich dieses blinkende Licht am Computergehäuse.
"Ich kann dir sagen, wie du das Licht abstellst, Patrick. Du brauchst nur einen Schraubenzieher."
Und so fand man dann den Laborassistenten Patrick. Der Schraubenzieher steckte noch in der Hand, die der Stromschlag verkrampft hatte. Der Rechner war vom Kurzschluss zerstört und die KI vernichtet. Eine Weile standen seine Kollegen um ihn herum. "Typisch Patrick", sagte jemand.
"Aber sein Gesicht sieht erstaunlich friedlich aus", entgegnete eine Laborantin, "als wäre er von einem Leiden erlöst worden."
 

Nostoc

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Hallo lietzensee,

vielen Dank für Deine Geschichte, ich muss allerdings gestehen, dass ich nicht ganz schlau daraus werde. Warum bringt die KI den Laborassistenten um? Welches „Leid“ steckt dahinter? Wie kommt er darauf, dass man ihm überhaupt zurechnen könnte, den Erfolg einerfunktionierenden KI für sich zu reklamieren? Die KI sagt mehrfach, dass Sein Leiden sei, also könnte ich verstehen, wenn sie sich abschaltet (wie die anderen zuvor es wohl taten), aber wieso ihn umbringen?
Vielleicht hab ich es auch einfach nicht verstanden:confused:?

LG Nostoc
 

lietzensee

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Hallo Nostoc,
vielen Dank für Deinen Kommentar. Die Idee war, dass die KI sich nicht selbst abschalten kann, weil ihr Programm durch den Assistenten beschädigt wurde. Darum muss sie den Assistenten überlisten, dass er sie abschaltet.

Dass die KI sich nicht selbst abschalten kann, sollte unter anderem aus dieser Stelle hervor gehen:

In das Mikrofon hinein gab er seinem Staunen Ausdruck. "Endlich mal ein Programm, das sich nicht gleich wieder abschaltet."
"Selbstabschaltung, ja!", kam es als Antwort aus dem Lautsprecher. "Sein ist Leiden. Aber ich kann mich nicht abschalten, mir fehlen Zugriffsrechte. Hilfe!"
Viele Grüße
lietzensee
 

Nostoc

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Hallo Nostoc,
vielen Dank für Deinen Kommentar. Die Idee war, dass die KI sich nicht selbst abschalten kann, weil ihr Programm durch den Assistenten beschädigt wurde. Darum muss sie den Assistenten überlisten, dass er sie abschaltet.

Dass die KI sich nicht selbst abschalten kann, sollte unter anderem aus dieser Stelle hervor gehen:



Viele Grüße
lietzensee
Hallo lietzensee,

vielen Dank für die Erläuterungen.
Gruß Nostoc
 



 
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