Hallo Kerensa,
Uff, das hat mir einen spannenden Nachmittag verschafft. Ich muss zugeben, dass ich mich beim Schreiben weniger mit dem Text auseinander gesetzt habe, als ich es vielleicht gesollt hätte. War mehr aus einer Idee heraus geschrieben.
ABER ich habe mich jetzt noch mal dahinter geklemmt, habe mir ein Lexikon zur Seite genommen und - es passt doch.
Sowohl meine Beschreibung der Liebe als Geisteszustand als auch die Benutzung des Wortes "Seele", sofern man das Gedicht etwas einschränkt (deshalb ist auch der Titel "L'Amoureux Maniaque" ganz sinnreich, dazu aber später).
Ich werde jetzt zuerst auflisten, was ich über die Liebe - aus meiner eigenen Erfahrung - weis, anschließend werde ich beschreiben, wie ich daraus das Prinzip der Liebe definiere, in wie weit Liebe als Gefühl oder als Geisteszustand angesehen werden kann und in wie weit das Gedicht eingeschränkt werden muss;
Über die Liebe konnte ich folgende Dinge beobachten:
Das Lexikon gibt uns folgende Definitionen der Liebe: Einerseits das Gefühl der körperlichen Anziehung und der Affektikon, das zwei Menschen verbindet, andererseits die Devotion gegenüber einer Bezugsperson, einer Gottheit oder ein Ideal.
Letzteres passt sehr gut zu meiner Beobachtung, dass die Liebe die Werte eines Menschen vollkommen verändern kann; man passt sich den Werten der Person an oder erweitert seine Werte in dem Masse, dass sie diese Devotion zulassen.
Dieser Effekt kann sich noch ausweiten auf weitere Gebiete; Man liebt, akzeptiert das Objekt dieser Liebe vollständig und lernt, mehr Toleranz gegenüber anderen Dingen und Meinungen walten zu lassen. ODER, aus dem Reflex, das Objekt zu schützen vor jeglicher Ungerechtigkeit etc. und der Übertragung dieser Einstellung auf andere, die Ersetzung der bisherigen moralischen Werte (zum Beispiel: kapitalistische Denkweise, Justiz, Mediengläubigkeit) durch universelle Werte wie Gerechtigkeit, Friedfertigkeit, Ehrlichkeit (vgl. die Stadien der moralischen Reife nach Kohlberg).
Also, dem entsprechend kann der Aspekt der Devotion in der Liebe auch darüber hinaus gehen, als dass bloß die Werte des Objektes übernommen werden.
Wenn wir nun eben jene Lieben betrachten (ich gebe zu, die meisten Lieben werden nicht so weit gehen), wäre es dann nicht möglich, dass dieser Effekt der "Horizonterweiterung" noch übertrieben werden kann, sodass die Liebe ihre eigenen Werte einbringt?
Ich stütze mich hier auf meine eher vage Vermutung, DASS die Liebe eine moralische Eigendynamik besitzt und die Menschen verändert, ihnen eine "bessere Sicht" über ihr Leben und das, was sie beeinflusst, verschafft. Es ist letztendlich nicht SO unwahrscheinlich, da die Liebe an sich, sofern sie denn das erste Mal im Leben einer Person in Erscheinung tritt, einen unglaublich wichtigen Wert darstellt, was es erleichtert, andere Werte zu kritisieren und fallen zu lassen.
[Bei mir konnte ich das zum Beispiel daran beobachten, dass ich wesentlich weltoffener geworden bin und vermehrt angefangen habe, meine eigenen Ideen zu entwickeln, anstatt das zu akzeptieren, was naheliegend und bequem oder "Gesetz" war.]
Da dies nicht nur ein Gefühl ist, sondern eine dauerhafte Veränderung unserer Denk- und Handlungsweise, denke ich, kann für bestimmte Lieben "État d'esprit" verwendet werden.
Nun zu der zweiten Strophe des Gedichtes, "L’âme qui le débarrasse du poids de cette réflexion";
In der ersten Strophe erfahren wir, dass unsere Bedürfnisse, da sie immer in irgend einer Weise der Liebe übergeordnet sein können, die absolute Liebe und damit ihre Werte unmöglich machen. Irgendwann wäre jeder an dem Punkt, für die Erfüllung eines Bedürfnisses zu betrügen.
Das bringt uns zu der Frage, wie weit wir diese Grenzen ziehen. Ab wann haben wir eine körperliche Beziehung aus Liebe, also aus freiem Willen, ab wann lassen wir unseren Trieb über uns regieren? Letztendlich beginnen wir, die Liebe selbst zu hinterfragen. Was ist schlecht daran, nur für seinen Trieb zu leben?
Dieser Prozess kann sich so lange hinziehen, bis wir wieder eine Person finden, die eben diese Werte mit uns teilt, die es uns möglich macht, zu lieben ohne die Angst, sich selbst oder den anderen zu betrügen.
Es ist letztendlich ein Weg der Mäßigung, in dem die Werte der Liebe für die beiden Personen auf ein Maß herabgesetzt sind, dass es für sie akzeptabel macht.
Ich denke, es ist an dieser Stelle, wo die Seele einsetzt: Das _menschliche_ Lebens- und Denkprinzip, nicht dass einer überzogenen Theorie noch das eines brutalen Realismus, sondern der Mittelweg, der Versucht, es erträglich für alle zu machen.
Du fragst, ob die Seele nicht das ist, was uns am vernünftigen Handeln hindert, aber was IST vernünftig? Ist es Vernunft, unsere Bedürfnisse zur Gänze zu erfüllen? Oder ist es Vernunft, der Liebe zu folgen, egal wie weit wir es für uns selbst noch verantworten können?
Weder noch, oder?
Vernunft ist meiner Meinung nach immer subjektiv, immer relativ zu dem System, in dem wir uns befinden. An der Wallstreet wäre es höchst unvernünftig, auf der Anzeigentafel eine romantische Liebeserklärung einzublenden. Für denjenigen, der sie einblendet ist es aber das absolut vernünftigste auf der Welt, weil er es offensichtlich mit sich vereinbaren kann, auch wenn er sich komisch dabei vorkommen wir, weil er ein gewohntes system umschmeißt.
Ich denke, die Seele ist dann erst VERLOREN, wenn wir anfangen, unvernünftig zu handeln, gegen unsere (ganze) Natur, wenn wir anfangen, im Stechschritt einem Führer zu folgen und uns dabei von unseren Bedürfnissen nach Macht und Geld ruhig stellen lassen oder wenn wir alles aufgeben, was wichtig für uns war, sogar uns selber, um einem verstiegenem Ideal zu folgen. Meiner Meinung nach ist DAS der Zeitpunkt, wo bei jedem, einzeln für sich, die Seele aufhört.
Liebe Kerensa, ich hoffe, ich konnte dir meinen Gedankengang anschaulich machen - es mag vielleicht etwas verworren gewesen sein.
Auf jeden Fall danke ich dir für dein Interesse und würde mich freuen, wenn du deine Meinung zu diesem Thema schreibst.
Bon soir et bonne nuit, à +
Bien à toi
Till
PS: Alles, was ich hierzu geschrieben habe, basiert auf einer persönlichen Erfahrung ebenso wie den Überlegungen, die ich mir dazu gemacht habe. Dazu kommt, dass ich jung und unerfahren bin, also mag einiges, was ich schreibe, auf Unverständnis stoßen oder nicht ganz exakt sein. Ich freue mich also über weitere Diskussionsbeiträge.