Land of the free

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Michele.S

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George schrak aus einem Albtraum hoch. Zuerst wusste er nicht, was ihn geweckt hatte. Dann fiel es ihm wieder ein. Natürlich, ein LKW-Fahrer hatte beim Vorbeifahren gehubt. Sie machten sich einen Spaß daraus uns zu wecken und schließlich traf es ja die Richtigen. Den Abschaum der Gesellschaft. George war 43 Jahre alt und ein verurteilter Sexualstraftäter.
Vor über 20 Jahren hatte er als 21 Jähriger eine Beziehung zu einer 17 Jährigen gehabt. Das wäre im Grunde legal gewesen. Allerdings hatte er sich und Andrea beim Sex gefilmt und ihr das Video geschickt. Dieses war irgendwie in die Hände ihrer christlich fundamentalistischen Eltern gelangt, und die waren sofort zur Polizei gerannt, da es ihnen gar nicht passte, dass ihre einzige Tochter ein außereheliches Verhältnis hatte. Noch am selben Tag war George vom FBI verhaftet worden. Die Kaution war auf 500.000 Dollar festgelegt worden. Der Vorwurf: Herstellung und Verbreitung von Kinderpornographie. Es nützte nichts, dass er das Video nur für sich und seine Freundin aufgenommen hatte, erklärte ihm der Anwalt. Weil Andrea unter 18 Jahre alt war blieb der Vorwurf zu Recht bestehen. Die Strafe? Mindestens 15 Jahre Gefängnis, so war es in Floridas Gesetzen festgelegt worden. Da der Richter nicht als Sympathisant von Sexualtstraftätern erscheinen wollte und um seine baldige Wiederwahl bangte, verurteile er George zu 20 Jahren Haft. Die ersten beiden Jahre im Gefängnis hatte George nur einen Wunsch gehabt: zu Sterben. Die anderen Gefangenen prügelten auf ihn ein, wann immer sie konnten, schließlich war er ja ein verurteilter Perversling. Von einem dieser Prügel war ihm ein Taubheitsgefühl auf der linken Körperhälfte zurückgeblieben. Außerdem litt er seit dem Gefängnis ständig unter Kopfschmerzen. Zweimal war er vergewaltigt worden. Von diesen Vorfällen träumte er ungefähr jede zweite Nacht. Als er endlich aus dem Gefängnis entlassen wurde, musste er sich als Sexualstraftäter öffentlich registrieren. Außerdem hatte er einige Auflagen zu erfüllen. Sein Wohnort sollte einen gewissen Mindestabstand zu Schulen und Spielplätzen haben. Und so kam es, dass der einzige Ort, an dem jemand wie er legal wohnen durfte, sich unter der George-Washington -Autobahnbrücke befand. Hier lebte er seit zwei Jahren zusammen mit etwa 100 weiteren Sexualstraftätern. Zumindest, musste er nie frieren, das war der Vorteil daran, in Florida zu wohnen. Doch im Sommer fielen die Temperaturen auch nachts meist nicht unter 30 Grad, sodass er regelmäßig in seinem eigenen Schweiß nachts wach lag. Und dann waren da die LKW-Fahrer.
"Hey, Leroy, bis du auch aufgewacht?" fragte er einen etwa 30 jährigen Farbigen mit gutmütigem Gesicht, der ihn anblickte.
"Ja, diese Schweine", antwortete dieser. Leroy war hier, weil er als 18 Jähriger ein Verhältnis mit einer weißen 15 Jährigen gehabt hatte. Das hatte den Eltern des Mädchens nicht gepasst und sie hatten Anzeige erstattet. "Du besuchts doch morgen deinen Bruder, oder?" fragte Leroy ihn.
"Genau", antwortete George.
"Na, dann versuch noch ein bisschen zu schlafen, mein Freund", flüsterte Leroy und lächelte. Das versuchte George. Mit Erfolg.

Am nächsten Tag wusch er sich an einem Schlauch, aus dem kaltes Wasser herauslief. Er verzichtete darauf, sich zu rasieren. Das taten hier alle, denn das wäre unter diesen Umständen zu kompliziert geworden.
Dann nahm er die U-Bahn in Richtung der Vororte, wo sein Bruder mit seiner Frau und seinem 14 Jährigen Sohn Andy wohnte. Es war genau geregelt, dass George keine Sekunde mit Andy allein verbringen würde. Immer musste jemand im Zimmer sein, sonst würde das gegen die Bewährungsauflagen verstoßen.
"Hey George", begrüßte ihn sein Bruder Michael und nahm ihn in den Arm. Michaels Familie war einer der wenigen Menschen, zu denen George noch Kontakt hatte. Fast alle seine alten Freunde hatten sich von ihm abgewandt.
"Hi George, wir gehen heute ins Freibad", begrüßte ihn Andy.
"Super, mein Freund" antwortete George lächelnd. Sie machten sich zurecht, Michael packte für George eine Badehose ein, da er selbst keine besaß. Dann setzten sie sich ins Auto und fuhren los.

"Das macht 3 Dollar 75 pro Person, und ich bräuchte ihre Ausweise".
Gehorsam gaben sie der Frau ihre Personalausweise, die daraufhin etwas in einen Bildschirm eintippte. Dann runzelte sie die Stirn und wandte sich an George. "Sie kann ich nicht reinlassen, registirierte Sexualstraftäter haben hier Hausverbot"
George lief rot an. "Dann machen wir heute eben etwas anderes", beeilte sich Michael. "Wir können ja Grillen gehen"
"Nein geht ihr nur ohne mich. Der Kleine hat sich doch so aufs Freibad gefreut", flüsterte Michael. "Wir sehen uns dann ein andermal".

Eine halbe Stunde später saß George in der U-Bahn und schaute aus dem Fenster. Seit Jahren schon konnte er nicht mehr weinen.
 

Rachel

Mitglied
Grüß dich, Michele. Eine wahrlich erschütternde Geschichte, die erzählt werden will. Ich finde es beachtlich, dass du diesen schwierigen Stoff bearbeitest!

Insgesamt könnte die Story einem näher rücken, wenn sie szenischer geschrieben wäre und so ihren reportageartigen Stil aufgäbe. Trockene Fakten nicht behaupten und nacheinander abarbeiten, eher plastischer gestalten. Vielleicht fügst du ein, zwei längere (informative) Gespräche ein, z. B. mit Leroy oder seinem Bruder Michael, Familienszenen. Der Leser könnte über den Richter und sein Handeln bzw. politischen Hintergrund aus einem Dialog und nicht so explizit wie eingangs erfahren. Vielleicht kann eine Szene im Gericht spielen?

Lass George nicht selbstmitleidig erscheinen. Sei als Autor neutraler. Hätte Georg mit 21 Jahren wissen können/müssen in welchem System er lebt?

Sätze wie - „Die anderen Gefangenen prügelten auf ihn ein, wann immer sie konnten, schließlich war er ja ein verurteilter Perversling.“ - sind fragwürdig. Der Leser merkt: Hier spricht der Autor direkt mit hinein, will auf die Tränendrüse drücken. Das passiert zu oft, finde ich. Der allerletzte Satz ist schmalzig und darf weichen.

Wenn George am Ende (allein) in der U-Bahn sitzt und (nur noch) aus dem Fenster schaut – ist der Leser ganz und gar bei ihm.

Liebe Grüße
 

Michele.S

Mitglied
Hallo Rachel

Vielen Dank für deine umfassende Beschäftigung mit der Geschichte. Deine Kritikpunkte sind durchaus angebracht, ich war beim Schreiben selbst nicht ganz zufrieden damit und hab sie ziemlich schnell hingeklatscht. Mir ging es vor allem darum, die Thematik zu behandeln. So eine Geschichte könnte ja absurd wirken, wenn man nicht wüsste, dass es ähnliche Schicksale in den USA tatsächlich gibt.

Viele Grüße
Michele
 



 
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