Landfahrt

caspAr

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Heute komme ich dich besuchen. Ganz bestimmt sogar. Ich habe es mir fest vorgenommen, denn dich zu besuchen, heißt zurück in meine Heimat zu reisen. Warum ich das so betone? Ich weiß es nicht wirklich. Und trotzdem ist es eine gewaltige Herausforderung für mich, zurück zu fahren. Dorthin wo ich geboren wurde, dort, wo ich aufgewachsen bin und meine ersten Prägungen und Verletzungen erfahren habe. Du fragst, ob ich Angst habe? Ob ich mich fürchte? Nein, ich habe keine Angst. Die Angst habe ich vor Jahren abgelegt. Jedenfalls hoffe ich das. Doch kann man Ängste ablegen? Sind sie nicht dazu da, uns zu dem zu erschaffen, der wir sind? Hat Angst nicht unser aller Seelen geformt, sie beschnitten und verkrüppelt. Ich weiß es nicht, doch ich möchte nicht mehr ihr Sklave sein. Ich habe mich von meiner Angst emanzipiert; ich habe mich aus meiner Angst heraus emanzipiert. Heute also, heute komme ich dich besuchen. Viel zu lange habe ich es vor mir hergeschoben. Viel zu lange habe ich mich verleugnet und dich ignoriert. Um zu dir, in meine Heimat zu gelangen, muss ich über Land fahren. Wie so oft nehme ich den Zug dafür. Ich kenne die Strecke, habe sie schon tausendmal bereist, doch ohne dich je gesehen zu haben. Heute wird sich das ändern, heute komme ich dich endlich besuchen.

In dem großen Kopfbahnhof mit 23 Gleisen steht der Zug bereits auf dem Gleis 7: Die Regionalbahn RB 206 die mich so oft schon in die Heimat trug. Mit Reisekomfort hat das natürlich wenig zu tun. Eine größere Straßenbahn wird mich über Schienen von Sachsen nach Sachsen-Anhalt führen, um mich nach einer guten halben Stunde wieder auszuspucken, damit ich meine Füße auf heimatlichen Boden setzen kann. Doch jetzt lasse ich mich erst einmal auf einen dieser harten und für mich verschmierten Sitze nieder und warte darauf, dass die Waggons sich in Bewegung setzen, um den Bahnhof endlich zu verlassen. Nach fünf Minuten ruckt der Zug an und fährt gemächlich los. Langsam schiebt sich die Regionalbahn aus der Bahnhofshalle, um dann durch den Norden der Stadt zu gleiten und auf offenes Feld zu treffen. Dann geht es vorbei an kleinen Städten und Dörfern, deren Namen ich alle kenne, aber den wenigsten jemals einen Besuch abgestattet habe. Ich blicke aus dem Fenster und denke an dich. Ich denke an dich, obwohl wir uns noch sahen. Und doch kenne ich deine Worte, weiß um deine Verdienste, deine Verdienste an der Farbe Blau. Heute will ich dich besuchen, um dir endlich näher zu kommen.

Nach etwa vierzig Minuten fährt die Regionalbahn in meiner Heimatstadt ein und wie so oft empfängt mich der abgewrackte Bahnhof, der als abgehalftertes Eintrittstor dieser Stadt dient. Diese, meine Heimatstadt krankt. Sie kämpft mit der Gegenwart und Zukunft und erinnert sich viel zu selten an ihre glorreiche Vergangenheit. Ich schlendere über die Brücke, die sich seit Jahrzehnten über den Fluss spannt, der die Stadt in zwei Teile schneidet. Ich weiß, wo ich dich finden kann. Weiß, wo du ruhst. Schwarz und bedrohlich gurgelt jetzt das Wasser unter mir, als ich in der Mitte der Brücke stehen bleibe und hinunter in diese Schwärze starre. Wieviel Zeit ist seit deinem Verschwinden hier entlang geflossen? Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte. Ganze Generationen sind gekommen und wieder vergangen. Alles verblasst, alles vergeht. Die Zeit zerstört alles.

Ich setzte meinen Weg weiter fort, durch die schmucklose Innenstadt, hinauf zum Stadtpark, der in den vergangenen hundert Jahren Hindenburgpark, dann Thälmann Park und nun wieder, aller Ideologien bereinigt, Stadtpark heißt. Doch dies alles interessierte dich nicht. Es war nach deiner Zeit und dir sicherlich viel zu profan. Und wenn ich nun, die breiten ausladenden Stufen zu Beginn des Stadtparks emporsteige, muss ich mich links halten, um zu dir gelangen. Versteckt ruhst du dort. Verborgen von Büschen und Zweigen. Dem Unwissenden der Sicht beraubt, vergessen über die Jahrhunderte. Was für eine Schande!

Nun endlich betrete ich dein Terrain. Ein kleines von dichten Hecken umfriedetes Quadrat. Auch ich würde mich hier geborgen fühlen. Nun stehe ich vor dir und kann dir in das marmorne Antlitz blicken. Ich trete noch einen Schritt auf dich zu, sehe einen sehr hübschen Mann. Schlank, feingliedrig, fast feminin. Ich lege meine Fingerkuppen auf dein weißes kaltes Angesicht und möchte dir danken: Die blaue Blume wurde durch dich erschaffen. Und dieser eine unvollendete Roman, den du schriebst, hat dich unsterblich gemacht. Mit 28 Jahren hast du diese Welt verlassen, folgtest deiner zehn Jahre jüngeren Verlobten in den Tod. Sicherlich ohne Angst. Hat der Tod der Geliebten nicht alles in Frage gestellt, war das Leben danach nicht nur noch ein Überleben?

In deinem Schmerz hast du die blaue Blume erschaffen, hast ihr mit deinem einzigen Roman ein Denkmal gesetzt. Hast sie zum Blühen gebracht, als zentralem Symbol der Romantik. Steht Blau für die Sehnsucht und Blume für Liebe? Für das Streben nach der Unendlichkeit? Die blaue Blume ist Sinnbild der Sehnsucht nach der Ferne und dem Tod. Fundamentale Ziele wohnen deinem Text inne, schaffen es, eine literarische Bewegung erblühen zu lassen. Und dieser eine Roman von dir birgt Sehnsucht und Verbundenheit, zu unserer Heimat, zu der Vergangenheit. Ich stehe im Stadtpark meiner Heimatstadt. Ich stehe in Weißenfels. Ich stehe am Grab von Friedrich von Hardenberg. Damals und heute Novalis genannt.



Ich sehe dich



Ich sehe dich in tausend Bildern,

Maria, lieblich ausgedrückt,

Doch keins von allen kann dich schildern,

Wie meine Seele dich erblickt.



Ich weiß nur, dass der Welt Getümmel

Seitdem mir wie ein Traum verweht,

Und ein unnennbar süßer Himmel

Mir ewig im Gemüte steht.

Novalis
 



 
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