Landurlaub

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joecec

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Der Tisch, an dem ich saß, mochte einmal laminiert gewesen sein. Jetzt bestand sein Muster aus Ringen, die von Gläsern stammen mussten, aus denen der gleiche billige Gin getrunken worden war wie der, den ich vor mir hatte. Ich sah auf den Fluss hinaus, tauschte den Geruch nach Fisch und Abwasser gegen den des zur Unkenntlichkeit destillierten Wacholders und fühlte mich so fremd wie an jedem Ort der Welt.

Die Brünette, die in meinem Blickfeld saß, führte mit ihrem Zeigefinger kreisende Bewegungen auf dem gläsernen Rand aus, als wollte sie ein Lied begleiten, das von ihr handelte und von dem, auf den sie wartete. Ich zog meinen Kugelschreiber aus der Hemdtasche. Vor mir lagen die Ansichtskarten, die ich aus dem einzigen Laden auf dem Weg hierher hatte. Die Karten zeigten Ansichten, von denen ich keine kannte und nicht eine zu Gesicht bekommen würde. Ich wählte die erstbeste Rückseite und schrieb ein paar Zeilen.

„Hey Süße“, begann ich, „ich bin ziemlich weit weg von Zuhause, du würdest nicht erraten, wo ich gerade sitze. Tut auch nichts zur Sache.“
Die Dame gegenüber ließ ihren Blick über die Terrasse schweifen. Ihre Fingernägel wirkten etwas zu dunkel und ihre Lippen waren zu stark geschminkt, zumindest für meinen Geschmack. Ihr Kinn stand kantig hervor und ihre Augen hatten dunkle Ringe, von zu viel Gin oder zu vielen enttäuschten Blicken in Richtung der Tür. Sie trank einen Schluck und betrachtete ihr Glas, als stünde ihre Geschichte darin. Einen jungen Kerl in weißer Uniform, der sich vor ihrem Tisch in Position brachte, winkte sie vorbei, ohne den Blick zu heben.

„Du fehlst mir!“, fuhr ich fort, weil mir nichts Sinnvolleres einfallen wollte. Ich strich über das Tattoo auf meinem Arm, fuhr ihre Initialen entlang und hatte sie glasklar vor Augen. Mir fehlte das Gefühl ihrer Locken, die durch meine Finger glitten, wenn ich sie morgens weckte und ihr über die Wange strich. Mir fehlte ihr Lächeln, das sie verriet, wenn sie so tat, als schliefe sie noch. Ihr Duft, wenn ich die Bettdecke anhob, kam nicht gegen den des Flusses an, aber der unaufdringliche Gin erlaubte mir wenigstens, meine Erinnerung für einen weiteren Schluck zu bewahren.

Moskitos führten hektische Tänze um die wenigen Laternen auf, die an Kunststoffleinen hingen, und ich stellte mir vor, wie derselbe Mond, der hier auf diesen Fluss und auf mich schien, die einzige Frau finden konnte, die mir etwas bedeutete. Ich fragte mich, ob sie gerade an mich dachte. Ich war nicht gern an Land, niemand von uns war das. Wenn ich an Land war, war es immer, als müsste ich nur weit genug gehen, um dorthin zu gelangen, wo ich jetzt besser sein sollte. Auf See war ich allein, ohne einsam zu sein, weil ich nur auf dem Weg zu einem Hafen war, in dessen Umgebung ich mir einen Tisch, einen Stuhl und ein Glas suchte, mit denen ich auf das erneute Auslaufen warten konnte.

„Ich liebe dich!“, schrieb ich. „Ich werde dich immer lieben!“ Der letzte Schluck war nicht kräftig genug, um mir meine Stimme zurückzugeben, also legte ich einen Schein auf den Tisch, nickte dem Kellner zu und stand auf. Die Karte legte ich der Brünetten hin, als sie sich umdrehte und eine erneute Bestellung winkte. Meine Süße würde sie nicht lesen, ich kannte ihre neue Adresse nicht, nicht einmal ihren neuen Namen. Beim Hinausgehen warf ich einen Blick über die Schulter. Die Brünette sah sich um und tupfte mit ihrer schmutzigen Serviette an ihren Augen herum. Ich hoffte für sie, einer ihrer Blicke möge nicht enttäuscht werden, glaubte aber nicht wirklich daran. Landurlaub. Keine Sehnsucht starb dabei, aber ständig wurden neue geboren.
 



 
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