Lasagne

Heinrich VII

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„Soll ich den essen oder besteigen?“, fragte Charlotte ihren Mann beim Anblick des Lasagnebergs, den er ihr auf den Teller gehäuft hatte.
„Solange man die Möglichkeit hat“, erwiderte Philipp, „sollte man zugreifen.“ Solange man die Möglichkeit hat, dachte Charlotte.
Was soll das jetzt wieder heißen? Auf dem Teller lagen drei Stücke: ein Eckstück, ein Seitenstück und eins aus der Mitte.
„Auswahl!“ erklärte Philipp. „Du kannst von jedem kosten und dann entscheiden, welches du essen willst.“
Charlotte sah ihn an, dann den Berg aus Hackfleisch, Teig und Soße. „Das ist doch Verschwendung“, protestierte sie; stand auf und wollte einen Teil des Berges in die Auflaufform zurück schaufeln. Philipp hielt sie zurück: „Nicht! Du solltest wirklich erst von jedem Stück einmal kosten.“
Charlotte sah ihn an, als hätte er ihr unmoralisches Angebot gemacht. Dann lächelte sie, trug die Portion zurück an den Tisch, setzte sich und begann vom Mittelstück zu probieren. Philipp beobachtete jede Regung in ihrem Gesicht und zog Schlüsse daraus, ob es ihr mundete. Er sah, wie sie von allen drei Teilen nacheinander probierte. Charlotte fragte sich zwischen den Bissen: Schaffe ich es, das alles aufzuessen? Genügend Appetit hätte ich.

Eine ganze Zeit hörte man nur Charlottes Kaugeräusche; Philipp hielt sich mit dem Essen zurück, stocherte eigentlich nur mit der Gabel darin herum.
„Möchtest du vielleicht etwas Zucker auf deine Lasagne?“, fragte er.
Charlotte hielt inne: „Zucker?“
Philipp nickte und dachte, dass der Tod, ein wenig versüßt, besser schmeckt. Doch dann dachte er daran, dass es nur nötig ist, wenn man davon weiß.
„Du könntest mir etwas Pfeffer holen“, erwiderte Charlotte. Philipp stand auf, holte die Mühle, zog ein großzügiges Band Pfeffer über ihren Teller und fragte: „Reicht das?“ Charlotte probierte und nickte.
Philipp setzte sich wieder und stocherte weiter in seinem Teller herum.

„Dir scheint es ja nicht zu munden“, sagte Charlotte nach einer Weile.
„Ach“, antwortete Philipp so normal wie möglich, „ich habe heute keinen rechten Hunger.“
Er zwang sich zu einem Lächeln und schob den Teller beiseite.
„Das ist typisch für dich“, sagte Charlotte und ließ es sich weiter schmecken.
„Erst stundenlang kochen, Aufwand betreiben und dann keinen Hunger haben.“
Vielleicht hat das ja seinen Grund, dachte Philipp. Und wer weiß, ob es dir noch so munden würde, wenn du diesen Grund kennen würdest.
„Dir scheint es ja zu schmecken, wie man sieht“, erwiderte er und lächelte. Dann begann er zu erzählen: „War heute den ganzen Tag in der Küche, hab alles selbst gemacht. Faszinierend zu sehen, wie sich Eier und Mehl zu einem Teig verbinden, wie Fleisch zu Hack wird, wie die Zutaten vermengt, auf ein Blech gelegt und in den Ofen geschoben werden - und wie daraus nach einer Weile, wie von Zauberhand, ein Gericht entsteht.“

Philipp schwieg einen Moment, sah Charlotte beim Essen zu und fuhr dann fort: „Stell dir vor, das Mehl würde sagen: Ne, lass mal, ich will mich nicht binden.
Oder das fleischtragende Objekt würde sagen: Ich will nicht in deiner Pfanne landen.“
Charlotte sah auf: „Das fleischtragende Objekt?“
Sie musterte Philipp und kaute den Bissen zu Ende. „Du meinst das Schwein?“
Philipp nickte heftig. Ja genau, das Schwein, dachte er. Und jetzt ist es hin und wird keinem mehr etwas streitig machen.

„Man könnte ja auch Gemüselasagne machen“, sagte er. Doch dann überkam ihn etwas und er stockte. Charlotte sah kurz auf, aß weiter und wunderte sich.
Was hat er nur? Keinen Appetit, wirre Reden – sind das die Vorboten einer Midlife-Crisis? Bei Leon hatte sie solche Symptome manchmal auch schon erlebt.
Was für uns Frauen die Wechseljahre sind, dachte sie - oder lässt sich das gar nicht vergleichen?
„Wie der Name schon sagt, braucht man dafür Gemüse“, fuhr Philipp unvermittelt fort. „Aber man braucht auch verdammt nochmal Teigplatten. Für Fleischlasagne braucht man den Teig auch. Aber wenn nur begrenzt Teig vorhanden ist, sollte man einfach etwas mehr Schweinehack…“ Er stockte, weil Charlotte ihn fragend ansah. Hastig schob er hinterher: „Man muss sich eben entscheiden. Ich hab mich für die Fleischlasagne entschieden.“
Charlotte lachte: „Mach kein Zeug. Ich hätte das glatt für Gemüselasagne gehalten. Glaubst du ernsthaft, ich bin blind?“
Genau das, dachte Philipp: Blind, blind, blind! Aber er sagte: „Nein, bestimmt nicht.“

Charlotte aß weiter. Das Mittelstück und das Eckstück war schon verzehrt, sie machte sich gerade über das Seitenteil her.
Philipp dachte: Am besten lasse ich sie fertig essen und sage es ihr hinterher. In der Zwischenzeit fragte er sich: Wird sie sich übergeben, wenn sie erfährt,
dass das fleischtragende Objekt ihr Freund Leon war?
 

Anders Tell

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Die Auflösung ist ganz tricky. Wenn der Leser jetzt noch selbst darauf kommen könnte, ohne dass es ausgesprochen wird. So ist es noch eine Spur grausiger.
 

Heinrich VII

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Hallo Anders Tell,

Die Auflösung ist ganz tricky. Wenn der Leser jetzt noch selbst darauf kommen könnte, ohne dass es ausgesprochen wird. So ist es noch eine Spur grausiger.
Das ließe sich leicht bewerkstelligen, indem man im letzten Satz nicht verrät, wer das fleischtragende Objekt ist.
Hm - aber ob das dann für alle Leser eindeutig genug ist, da wäre ich mir nicht so sicher.

Gruß, Heinrich
 

Heinrich VII

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Einen Hinweis braucht der Leser schon. Zum Beispiel könnte das Gericht a la Leon heißen.
Ja, klar. Aber irgendwo ist es egal - die Geschichte ist makaber genug. Sie wird zwar gelesen, aber einen Kommentar gibt niemand (von dir mal abgesehen) dazu ab. Da müsste der Inhalt schon gefälliger und positiver sein, wie man feststellen kann, wenn man andere Geschichten liest. Will sich vermutlich keiner den Anschein geben, ein heimlicher Kannibale zu sein. :p
 



 
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