Da sind einige starke Bilder im Text, liebe Anni!
Der Gardinenblick mit Winterglöckchenstick als Grenze zwischen Innen- und Außenwelt ist wunderbar einzigartig. Das Verhangene, der gebrochene Fokus, steckt schon im ersten Bild vollumfänglich drin (so gesehen bräuchte es für mich den gebrochenen Fokus gar nicht mehr zusätzlich, aber er legt natürlich den Finger nochmal deutlicher auf das Thema).
Warum die großen Zeilenabstände? Für mich behindern sie die Lesbarkeit des Textes ein wenig, weil jede einzelnen Zeile an ihrem Ende zu einem Halt führt und die Brücke bis zur nächsten ein wenig zu weit gespannt wirkt. Aber das ist natürlich mein ganz persönliches Empfinden.
Groß- und Kleinschreibung und Zeichensetzung scheinen mir etwas inkonsistent bzw. erkenne ich die dahinterliegenden Absichten offensichtlich nicht.
Ich habe mir erlaubt einige Stellen zu markieren, die nach meinem Eindruck sprachlich nicht mit dem Rest des Textes mithalten:
Lass uns noch
verharren
in der Langsamkeit
und den Gardinenblick
mit Winterglöckchenstick
den Focus brechen
auf Entgleisung weit und breit.
Lass uns noch
uns Speck anfressen
für jene Hungerzeit,
die kommen wird
und all das Leid
lass uns vergessen,
Mir geht es mit dem "weit und breit" ein wenig wie dir mit dem "flitzen" in meinem Naturgedicht. Klar, weit und breit bringt den Reim auf die Langsamkeit - insofern gehört es da schon hin, aber im Verbindung mit Fokus (warum die englische Schreibweise hier?) ist es nicht ganz stimmig für mich. Ich kann aber jetzt auch keinen besseren Vorschlag liefern, muss ich gestehen. Und es ist jetzt schon Meckern auf hohem Niveau von mir - also halb so wild.
Das doppelte "uns" direkt nacheinander könnte man auf jeden Fall vermeiden. Das zweite ist eigentlich obsolet und fehlt auch nicht im Rhythmus, ließest du es einfach weg. "die kommen wird" ist für mein Empfinden ein wenig ungelenk und nah am Alltagssprech und fällt aus dem sprachlichen Rahmen. Was wäre gegen "die kommt" einzuwenden? Das passte viel besser in den knappen, präzisen Sprachduktus deines Gedichts, wie ich finde.
Inhaltlich eine gelungene Darstellung dieses "Lass uns noch ein Weilchen länger so tun als ob", weil LyrIch sich nicht gewappnet fühlt (oder eine Auszeit braucht) für all das Chaos und das Leid "da draußen". Vor allem das "da draußen"-Gefühl kommt sehr gut rüber. Die Winterglöckchenstick-Gardine fehlt mir noch an meinem Fenster! Manchmal ist es gut, eine zu haben.
Sehr gerne gelesen!
LG,
fee