Carl Dominik Spies
Mitglied
Mira
Eine einfache Vase. Schick, aber weit davon entfernt, perfektioniert worden zu sein. Die Unebenheiten, die so offensichtlich waren. Dieses Unperfekte unter der alles verdeckenden Farbschicht, die glänzte, als wäre sie mit Lack überzogen und die Oberfläche nass in dem spiegelnden Licht erscheinen ließ. Mit einer Eleganz, die sie verzweifeln ließ, waren kleine Flächen in Form von filigranen Blumen freigelassen worden. Bisher hatte sie es immer einfach probiert, hatte ihr Wissen gepaart mit genügend Intuition eingesetzt und irgendwie war immer etwas Passables dabei rausgekommen. Teilweise mehr als das. Aber diese Vase in Öl auf eine Leinwand zu bringen, schien unmöglich. Die erste Variante hatte sie einfach zu groß für ein so detailliertes Projekt angesetzt. Nummer zwei war kleiner, aber hatte weder den verzogenen Schwung der Vase eingefangen noch ansatzweise überhaupt Leben gehabt und Nummer drei, naja Nummer drei war aus Prinzip angefangen worden, aber genau das spiegelte sich darin auch wider. Für Nummer vier war Mira mittlerweile zu müde. Sie schaute von ihrem kleinen gefliesten Kamin- und Malbereich in Richtung Esszimmer, wo die große Uhr über dem Tisch hing. Nein. Heute würde definitiv keine Nummer vier mehr stattfinden. Eigentlich wollte sie heute noch duschen gehen, aber das würde sie auf morgen verschieben. Als allein lebende Rentnerin gab es schließlich nichts, was ihr den Tag vorschrieb. Sie räumte geringfügig auf. Sie würde morgen weiter malen und außer den Farben, die sie luftdicht verpackte und den Pinseln, die sie ausspülte, gab es heute nichts zu tun. Sie ging in die Küche, die Pinsel in der Hand und schaute aus dem Fenster oberhalb der Spüle. Abgesehen von den Straßenlaternen brannte nur noch bei Heinrichs und ihren gegenüberliegenden Nachbarn, den Bergs, Licht. Zu ihrer Rechten war alles dunkel und sie vermutete, dass es auch auf der linken Seite nicht anders aussehen würde. Sie war froh, dass sie gestern bei ihrem Einkauf ein wenig mehr als das Übliche geholt hatte. Die nächsten Tage würde sie das Haus nicht verlassen und daran war nicht nur die Grippewelle schuld, von der in den Nachrichten hoch und runter berichtet wurde. Sie schaute verträumt auf das Haus von Beckers. Wie es da so still und schwarz im Schatten der langen Bäume stand und sie anstarrte. Sie dachte an das große Herbstgrillen, das sie dort mit der halben Nachbarschaft gemacht hatten. Das war keine sechs Monate her und doch fühlte es sich so weit weg an, dass es fast unrealistisch schien. Bevor sie nach oben ging, schaute sie nach, ob sie alle Fenster geschlossen hatte und sie spürte, dass das nun ihre neue Gewohnheit werden würde.
Als Jugendliche hatte sie „Die unendliche Geschichte“ geliebt: diese Geschichte war es, die sie weit weg von zuhause brachte, weit weg vom Geschrei ihrer Eltern oder dem klatschenden Geräusch, wenn ihre Mutter im Streit wieder einmal gegen die Tür gelaufen worden war und weit weg von ihren eigenen Problemen, die für Jugendliche meist nicht gerade unerheblich sind. Letzten Herbst hatte sie das Buch in einer Buchhandlung gesehen und direkt gekauft, eigentlich nicht mit dem Gedanken es tatsächlich zu lesen, eher aus nostalgischen Gründen - aber gestern Abend hatte sie es aus dem großen Wohnzimmerregal geholt. Leider hatte es mit dem weit weg bringen nur teilweise geklappt. Sie kam bis Seite siebenundneunzig, dann war sie vor Erschöpfung eingeschlafen. Heute Abend wollte Mira bis Seite zweihundert kommen, aber als sie auf einhundertzweiundzwanzig angekommen war, hörte sie einen Knall und zuckte in ihrem Bett zusammen. Es hatte nicht wie eine Explosion geklungen, eher wie ein Haus, dessen Dach gerade eingebrochen war - aber aus dem Fenster konnte sie nichts sehen. Sie verspürte den Drang, auf den anliegenden Balkon zu gehen, nur ganz kurz, einen Blick die Straße entlang werfen. So wie es klang, konnte es nicht sehr weit entfernt gewesen sein, doch als ihre Hand die kalte Klinke berührte, wisch sie erschrocken zurück. So bekamen sie einen immer.
Safe House
Ihren Kaffee genoss sie am nächsten Morgen tatsächlich auf ihrem Balkon. Von hier aus konnte sie die komplette Straße herauf- und teilweise heruntersehen, aber was letzte Nacht das Geräusch verursacht hatte, sah sie nicht. Sie spürte, wie die kalte Winterluft langsam immer mehr den angenehmen Windströmen wich, aber trotzdem fühlte sich der Frühling und der erst recht ersehnte Sommer in unendlicher Ferne an. Für mehr als eine Viertelstunde hier zu sitzen war es noch zu frisch. Nach dem Frühstück würde sie ein Bad statt einer Dusche nehmen und sich dann Versuch Nummer vier der verflucht schönen Vase widmen.
Im Radio hatten sie nichts erwähnt. Es lief, während sie in der Wanne gesessen hatte und es stand neben ihr und dröhnte seine blechernen Stimmen, während sie malte. Aber kein Wort.
Nach dem Mittagessen hatte sie mit einer Freundin telefoniert, aber gesagt hatte sie davon trotzdem nichts. Ihr war klar, wie verrückt das Ganze klingen würde. Jodie hatte ihr die Aufregung angehört und es wahrscheinlich auf den körperlichen und geistigen Verfall geschoben, über die sie sich beide langsam bewusst wurden. Nach dem Telefonat ging es ihr zumindest ein bisschen besser, ein guter Tee und die einfallenden Strahlen der Sonne ließen sie für ein, zwei Stunden abschalten. „Die Vase“, wie sie das Bild jetzt statt „Nummer vier“ nannte, war auch gar nicht mal so übel geworden. Tagsüber hatte sie die Fenster zur Straße hin geöffnet und wenn sie sich nicht vertan hatte, hatte sie bisher vier Autos gezählt, welche die kleine Straße entlanggefahren waren. Als das Geräusch von nebenan kam, war sie aufgesprungen und an das Küchenfenster gegangen. Wäre sie schneller gewesen, hätte sie mehr als nur den Hinterkopf der Nachbarin gesehen, die bereits in ihrem blauen Opel die Straße hinunter eierte. So musste sich der kleine Schneemann in der Schneekugel auf ihrem Regal fühlen, der immer nur zuschauen konnte.
Für heute Abend hatte sie vor, Kotelett mit Bratkartoffeln und Salat zu machen. Das beste Gericht der Welt, wenn man zu ihrer Zeit groß wurde und für viele zu aufwendig, wenn man allein wohnt. Außerdem hatte sie nichts, womit sie ihre Zeit hätte sinnvoller verbringen können. Sie kochte und stellte alles in den Ofen, um es für später warm zu halten dann ging sie durch das Haus. Schloss akribisch wieder alle Fenster, die sie zum Lüften geöffnet hatte und überprüfte die Balkontüren mehrmals. Auch wenn sich die Sonne jeden Tag wieder ein Stück höher kämpfte, war es die Tage abends noch gegen 17.15 Uhr stockdunkel gewesen. Es war lange her, seit sie allein im Esszimmer saß und das Ticken der großen Wanduhr in ihrem Genick hörte. Trotzdem schmeckte es hier irgendwie besser als auf dem Wohnzimmertisch oder dem Balkon oben, es war nur fast schon gruselig angehaucht.
Bis zu den Nachrichten schaute sie eine Dokumentation über den andauernden Krieg in der Ukraine und wie es die darum liegenden Länder langfristig betraf. Krieg kannte sie, den hatte sie als Kind erlebt, aber Angst hatte sie keine davor. Schlechter als die bisherige Regierung könnte es kaum werden und wenn sie eins gelernt hatte, dann, dass Geld immer im Vordergrund steht. Egal, was auf der Flagge abgebildet ist. Mehr Angst hatte sie vor dem Gefühl, entweder verrückt zu werden oder die letzte Normale zu sein. Es ging ferner um einen verzögerten Flughafenausbau, an dessen Verzögerung sich anscheinend reichlich Zwischenmänner und skrupellose Politiker bereichert hatten, eine neue Art von Mautsystem, dass EU weit eingeführt werden soll, ein Handelsabkommen zwischen China und einem Land, von dem sie noch nie gehört hatte; aber kein Wort über das, was sich hier draußen abspielte. Dieser dunkle Schatten, der sich seit Tagen langsam über das ganze Dorf legte, schien entweder niemandem aufzufallen oder niemanden zu interessieren. Meist schauen Menschen weg, wenn es nicht sie selbst betrifft; schauen so lange in die andere Richtung, bis es ihnen seinen warmen Atem in den Rücken haucht. Sie konnte noch nie gut wegsehen. Sie hatte mitbekommen, wie jede Nacht in mehr Häusern die Lichter erloschen, um am nächsten Tag nicht wieder eingeschaltet zu werden. Sie hatte gesehen, wie der Verkehr drastisch abnahm und man abends nach Sonnenuntergang keine Gassi– oder Spaziergänger mehr sah, als wären todbringende Temperaturen draußen unterwegs.
Sie hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte.
Nacht
Sie wurde von Schreien geweckt. Dumpf, aber schrill genug, um durch ihre Scheiben zu dringen. Als sie die Augen öffnete, glaubte sie, aus einem Albtraum erwacht zu sein - endlich wach, endlich zurück in der Realität, in der einen die bösen Träume nicht verfolgen konnten. Dann kam der nächste Schrei und sie begriff, wie töricht dieser Gedanke war. Im Traum war sie zumindest sicher. Ein Zwiespalt, der einsetzte: Der Drang aufzustehen und aus dem Fenster zu sehen, die Polizei zu rufen und die Angst, die sie lähmte, die sie nicht wissen lassen wollte, wer oder was da draußen geschrien hatte und sie das Knacken im Gebälk des Daches wie schwerfällige Fußtritte vernehmen ließ. Sie dachte an Heinrichs und zog sich die Decke weit über das Gesicht. So lag sie da, bewegte keinen Muskel und schaute an die Unterseite der undurchsichtigen weichen Decke. Nach einem lauten Schlag hatte das Geschrei geendet, auch wenn nicht schlagartig. Egal, wie sehr sie probierte, alte Schlager zu singen, um all das nicht mitzubekommen, hörte sie alles, als wäre es nebenan - die röchelnden Schreie, die nicht abrupt endeten, sondern immer leiser wurden. Sie verzogen ihre Stimmlage und am Ende klangen sie wie Fußballstadien, gefüllt mit johlenden Menschen: weit, weit weg. In diesem Moment blätterte das erste Mal ihre Schicht, die sie sich so viele Jahre aufgebaut hatte. Selbstzweifel schlichen sich ein, sowie die dicken fetten Worte vor ihrem geistigen Auge, ob sie nicht hätte irgendetwas tun können, alte Frau hin oder her.
Hastig zog sie die Decke vom Gesicht. War da ein Geräusch? Sie lauschte. Eindeutig war da ein Geräusch. Eins der immer seltener werdenden dieser Tage: Das laute Geräusch eines sich nähernden Motors. Auch wenn Mira sehr viele Kruzifixe und andere christliche Hostien besaß, waren sie alle Erbstücke, die außer Dekorationszwecken nie etwas Tieferes erfüllten. Aber jetzt war das erste Mal, dass sie betete. Sie betete, dass das Geräusch in ihre Straße abbiegen würde. So, wie sie sich jetzt fühlte, würde sie wahrscheinlich rausrennen, mit den Armen winken und hoffen, mitgenommen zu werden. Egal wohin. Vielleicht wurde ja nirgendwo davon berichtet, weil es einzig und allein dieses verfluchte Dorf betraf. Einfach weg. Egal wohin.
Reflexartig schlug sie die Decke auf die Seite und richtete sich auf. Sie musste Sachen packen. Essen, Kleidung und auch wenn es ihr nicht behagte, blinkte wieder ein einzelnes Wort auf: Bewaffnung. Ja, sie brauchte eine Art Bewaffnung. Vielleicht hat man ja bei Gott ein Gebet in seinem Leben frei, einen Wunsch, den er sich anhört und erfüllt während alle danach in Vergessenheit geraten. Das Auto bog in die Straße. Sie sah die blauen und roten Lichter, welche die Umgebung in ein umgekrempeltes Zirkuszelt verwandelten, und begann vor Freude zu zittern. Schnell ging sie an den Schrank, in welchem sie die Wintersachen hatte, zog eilig ein paar der dicksten Stücke heraus und klemmte sie unter ihre Arme. Auf der Straße war das Auto stehen geblieben, etwa vierzig Meter weiter und direkt vor Heinrichs Haus, wie es von hier aussah. Anscheinend hatten Bergs die Polizei gerufen oder es war doch noch mehr in dieser Straße los, als sie angenommen hatte. Sie flog regelrecht nach unten und holte ihre große Reisetasche, mit der sie in der Küche verschwand. Eine Schicht der dicken Kleidung stülpte sie sich über, während sie mit einem Auge aus dem Fenster und mit dem anderen in die Vorratsschränke spähte. Von hier unten hatte sie leider nicht das überblickende Gesamtbild. Das parkende Auto sah sie nur als großen schwarzen Fleck, der als Schatten zwischen dem blauen und roten Licht zum Vorschein kam. Sie packte ein paar Dosen und ein Sixpack Plastikflaschen Mineralwasser ein, die sie eigentlich für Kurzurlaube mit der Bahn gebunkert hatte. Dies würde kein Kurzurlaub werden, aber der Gedanke, dieses Haus zum letzten Mal zu sehen, nahm sie gar nicht so sehr mit. Ihre Aufmerksamkeit galt dem vorderen Rasen der Heinrichs und der zwei Gestalten, die sich mit ihren Taschenlampen dem Haus näherten. Sie ließen ihre Lichtkegel über das Haus gleiten und eigentlich sah es so aus wie immer. Die perfekt getrimmten Eiben, die wie Lanzen die Einfahrt umgaben und fast etwas Italienisches hatten, wie sie vor dem rostfarbenen Haus standen und leicht vom Wind hin und her geweht wurden.
Essen, Trinken, warme Kleidung … Bewaffnung. Sie griff nach dem groben hölzernen Messerblock und zog das größte Messer heraus. Theoretisch sollten die Polizisten mehr als gut bewaffnet sein, aber sie musste sich beeilen. Sie fischte Batterien aus einer der Schubladen und ließ sie in der großen Tasche verschwinden. Eingebung, wenn man es so will. Aus dem Flur holte sie ihre Wanderschuhe - dies war weder die Nacht für Sportschuhe noch für ihre Stöckelschuhe, die sie seit mindestens fünfundzwanzig Jahren nur noch aus den Augenwinkeln anschielte - und eilte zurück an die Spüle. Der einzige Nachteil an festem und vor allem hohem Schuhwerk ist, dass man dementsprechend länger beschäftigt ist, bis alles sitzt, wo es soll, gerade in einer solchen Situation und das in höherem Alter. Anscheinend hatten die zwei Beamten ihren äußeren Rundgang beendet und gingen nur schnurstracks auf die offen stehende Tür zu.
Mira durchfuhr es und in einer Sekunde sah sie ihren frisch geschmiedeten Plan zusammenstürzen wie eine billig gebaute Brücke: kein langes Drumherum oder ewigwährendes Auseinander-bröseln, bis es endlich so weit war - ein einfaches Platsch, und damit hatte sich die Sache samt jedem, der sich gerade darauf befunden hatte ...
Mit voller Wucht zog sie den Schnürsenkel des linken Schuhs zusammen und zitterte einen Knoten in Rekordzeit zusammen. Die zwei Schatten waren nun direkt am Eingang, leuchteten mit ihren Lampen in die Dunkelheit und Mira zuckte selbst zusammen, als sie das dringende Gefühl durchzuckte, loszuschreien und ihnen mitzuteilen, draußen zu bleiben. Sie zog die Lasche des rechten Schuhs an sich und drückte ihre Ferse fest hinein. Die zwei Polizisten waren in den Eingangsbereich getreten und leuchteten in den Innenbereich des Hauses. Sie band den Schuh zu und warf sich die Tasche, die leider einiges schwerer war als erwartet, um die Schultern. Das Messer nahm sie in die rechte Hand, fest umschlossen - so, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Nie war sie sich im Leben so sicher gewesen, nicht einmal bei der Frage, die sie früher lange begleitet hatte, ob sie einmal heiraten würde … niemals, sie liebte das Leben und seine Freiheiten, hatte jeden Moment genossen und so viele Leben gelebt wie zehn andere zusammen. Genau wie die Frage nach Kindern, die sie sich selbst mit der gleichen Art und Weise beantwortet hatte.
Draußen
Es war ein komisches Gefühl, jetzt in der Dunkelheit die Tür zu öffnen, doch im Endeffekt war es wie immer gewesen. Die Welt war nicht untergegangen und nichts war ihr beim Öffnen ins Gesicht gesprungen und hatte versucht sie zu fressen oder noch schlimmeres. Abgesehen von den dumpfen Knackgeräuschen, die aus Richtung des Polizeiwagens kamen, herrschte absolute Stille. Sie sah die Straße hinab, um einen letzten Blick zu erhaschen und vielleicht, um zu sehen ob irgendwo noch Licht brannte. Vielleicht würde sie schnell überall klingeln, wo es noch bewohnt aussah, vielleicht sollte sie rufen - aber der Kloß in ihrem Hals saß groß und fest und ließ kein Wort ungefragt an ihm vorbei. Es dauerte eine Sekunde, bis sie begriff, dass sie nicht in der Dunkelheit nach hellen Flecken suchen musste. Die Dunkelheit hatte sie gefressen, hatte ihre Leuchtkraft vergewaltigt bis nur noch verkümmerte Klumpen verfaulter Nacht zurückgeblieben waren. Langsam und mit ungläubig geöffnetem Mund drehte sie den Kopf. Über ihr sah es genauso aus. Selbst das Licht der Laternen schien kaum gegen die Schwärze anzukommen. Kein Kegel reichte bis zum nächsten und dazwischen schien nichts zu sein. Erst jetzt fiel ihr auf, dass auch gegenüber bei Bergs keinerlei Licht zu sein schien und ein Entsetzen packte sie. Sie suchte die Fenster ab, aber außer Schatten, die zeitgleich Gespenster und auch wehende Bettlaken hätten sein können, sah sie nichts.
Als die Schüsse die Luft zerschnitten, kam sie zurück - den Mund schließend, schluckend, obwohl der fast trockene Hals außer einem klickenden Geräusch kaum etwas hergab. Sie rannte los und die ungestellte Frage, wie sie an die Sache mit den Polizisten herangehen sollte, löste sich in Luft auf. Diesmal waren die Schreie intensiver. Einen der beiden Polizisten hatte es im Treppenhaus erwischt. Das Gejaule, das er ausstieß, war tief und verzweifelt. Es hallte durch das hohe Treppenhaus und wurde durch die offene Tür wie durch ein Megaphon heraus geblasen … Schmerz, Verzweiflung und die Gewissheit, dem Tod nie wieder von der Schippe springen zu können.
Trotz der Schüsse, die vereinzelt fielen, klatschte jeder ihrer Tritte auf dem rauen Asphalt wie eine Fliegenklatsche und erschütterte ihren Körper. Die schwere Tasche schlug gegen ihren Rücken und tat alles, um ihr Vorankommen so schwer wie möglich zu gestalten. Kurz vor dem Auto blieb sie stehen. Die Schüsse waren verklungen, aber als sie ihren Blick noch ein letztes Mal auf die offene Tür richtete, sah sie ihn. Er klammerte sich mit beiden Händen an einer der Seiten des Türrahmens fest, die Augen weit aufgerissen. Es war zu dunkel, als dass sie seinen abgerissenen und halb runterhängenden Kiefer oder das ganze Blut hätte sehen können. Sie sah seine Augen, wie er in ihre sah - als er den Griff verlor und seine Schreie für ein paar Sekunden furchtbar laut und nah werden sollten – „Schwarzbraun ist die Haselnuss. Schwarzbraun ist die verdammte Haselnuss.“ Sie versuchte die Geräusche zu übertönen, während sie die letzten Schritte zurücklegte und dabei auf ihren Schnürsenkel trat, der sich gelockert und geöffnet hatte. Als sie fiel, dachte sie daran, dass es ein verdammtes Glück sein müsste, wenn die Polizisten den Schlüssel im Auto gelassen hatten. Sie dachte in dieser kurzen Sekunde daran, wie sie in das Haus würde gehen müssen. In das Haus mit der offen stehenden Tür. Ihr Aufprall verpuffte regelrecht, zu sehr wirkte sich die Anspannung auf ihren Körper aus. Das Messer war zum Glück neben sie gefallen. Als sie es griff und sich halbwegs aufrappelte, fühlte sie sich besser. Ein wenig sicherer. Dann erstarrte sie. Ihr Blick fiel auf etwas, das wie ein Gesicht aussah und sich oben auf dem Dach des Hauses befand. Es war ein Gesicht samt dazugehörigem Körper, der in der Dunkelheit kaum auszumachen war. Selbst das Licht der Sirene schien er nicht zu reflektieren. Ganz im Gegenteil, es schien schwächer bei ihm zu werden. Als würde er tatsächlich Licht fressen. Dann sah sie das Gesicht daneben und begann sich umzusehen. Als wären sie unter einem Schleier verborgen gewesen, sah sie sie nun immer deutlicher vor sich. Mehr und mehr Gesichter. Sie sah Herrn Friedemann vom Ende der Straße und wenn sie sich nicht irrte, war dort oben neben dem Schornstein die kleine Susi von Fleischers, die sie mit einem breiten Grinsen ansah. Sie sah, dass sie überall auf den Dächern waren. Hunderte.
Als sie langsam näher kamen, dachte sie daran, dass sie vergessen hatte, „Die unendliche Geschichte“ einzupacken; sie hätte so gerne irgendwo gelegen und noch einmal gelesen, wie es weitergeht. Vielleicht an einem Strand in Spanien oder in den Bergen Österreichs, was sich eben so ergeben hätte. Das Buch wiederum lag umgedreht geöffnet auf dem Nachtisch neben ihrem Bett, während alle Fenster geschlossen waren. Denn so bekamen sie einen schließlich immer.
Eine einfache Vase. Schick, aber weit davon entfernt, perfektioniert worden zu sein. Die Unebenheiten, die so offensichtlich waren. Dieses Unperfekte unter der alles verdeckenden Farbschicht, die glänzte, als wäre sie mit Lack überzogen und die Oberfläche nass in dem spiegelnden Licht erscheinen ließ. Mit einer Eleganz, die sie verzweifeln ließ, waren kleine Flächen in Form von filigranen Blumen freigelassen worden. Bisher hatte sie es immer einfach probiert, hatte ihr Wissen gepaart mit genügend Intuition eingesetzt und irgendwie war immer etwas Passables dabei rausgekommen. Teilweise mehr als das. Aber diese Vase in Öl auf eine Leinwand zu bringen, schien unmöglich. Die erste Variante hatte sie einfach zu groß für ein so detailliertes Projekt angesetzt. Nummer zwei war kleiner, aber hatte weder den verzogenen Schwung der Vase eingefangen noch ansatzweise überhaupt Leben gehabt und Nummer drei, naja Nummer drei war aus Prinzip angefangen worden, aber genau das spiegelte sich darin auch wider. Für Nummer vier war Mira mittlerweile zu müde. Sie schaute von ihrem kleinen gefliesten Kamin- und Malbereich in Richtung Esszimmer, wo die große Uhr über dem Tisch hing. Nein. Heute würde definitiv keine Nummer vier mehr stattfinden. Eigentlich wollte sie heute noch duschen gehen, aber das würde sie auf morgen verschieben. Als allein lebende Rentnerin gab es schließlich nichts, was ihr den Tag vorschrieb. Sie räumte geringfügig auf. Sie würde morgen weiter malen und außer den Farben, die sie luftdicht verpackte und den Pinseln, die sie ausspülte, gab es heute nichts zu tun. Sie ging in die Küche, die Pinsel in der Hand und schaute aus dem Fenster oberhalb der Spüle. Abgesehen von den Straßenlaternen brannte nur noch bei Heinrichs und ihren gegenüberliegenden Nachbarn, den Bergs, Licht. Zu ihrer Rechten war alles dunkel und sie vermutete, dass es auch auf der linken Seite nicht anders aussehen würde. Sie war froh, dass sie gestern bei ihrem Einkauf ein wenig mehr als das Übliche geholt hatte. Die nächsten Tage würde sie das Haus nicht verlassen und daran war nicht nur die Grippewelle schuld, von der in den Nachrichten hoch und runter berichtet wurde. Sie schaute verträumt auf das Haus von Beckers. Wie es da so still und schwarz im Schatten der langen Bäume stand und sie anstarrte. Sie dachte an das große Herbstgrillen, das sie dort mit der halben Nachbarschaft gemacht hatten. Das war keine sechs Monate her und doch fühlte es sich so weit weg an, dass es fast unrealistisch schien. Bevor sie nach oben ging, schaute sie nach, ob sie alle Fenster geschlossen hatte und sie spürte, dass das nun ihre neue Gewohnheit werden würde.
Als Jugendliche hatte sie „Die unendliche Geschichte“ geliebt: diese Geschichte war es, die sie weit weg von zuhause brachte, weit weg vom Geschrei ihrer Eltern oder dem klatschenden Geräusch, wenn ihre Mutter im Streit wieder einmal gegen die Tür gelaufen worden war und weit weg von ihren eigenen Problemen, die für Jugendliche meist nicht gerade unerheblich sind. Letzten Herbst hatte sie das Buch in einer Buchhandlung gesehen und direkt gekauft, eigentlich nicht mit dem Gedanken es tatsächlich zu lesen, eher aus nostalgischen Gründen - aber gestern Abend hatte sie es aus dem großen Wohnzimmerregal geholt. Leider hatte es mit dem weit weg bringen nur teilweise geklappt. Sie kam bis Seite siebenundneunzig, dann war sie vor Erschöpfung eingeschlafen. Heute Abend wollte Mira bis Seite zweihundert kommen, aber als sie auf einhundertzweiundzwanzig angekommen war, hörte sie einen Knall und zuckte in ihrem Bett zusammen. Es hatte nicht wie eine Explosion geklungen, eher wie ein Haus, dessen Dach gerade eingebrochen war - aber aus dem Fenster konnte sie nichts sehen. Sie verspürte den Drang, auf den anliegenden Balkon zu gehen, nur ganz kurz, einen Blick die Straße entlang werfen. So wie es klang, konnte es nicht sehr weit entfernt gewesen sein, doch als ihre Hand die kalte Klinke berührte, wisch sie erschrocken zurück. So bekamen sie einen immer.
Safe House
Ihren Kaffee genoss sie am nächsten Morgen tatsächlich auf ihrem Balkon. Von hier aus konnte sie die komplette Straße herauf- und teilweise heruntersehen, aber was letzte Nacht das Geräusch verursacht hatte, sah sie nicht. Sie spürte, wie die kalte Winterluft langsam immer mehr den angenehmen Windströmen wich, aber trotzdem fühlte sich der Frühling und der erst recht ersehnte Sommer in unendlicher Ferne an. Für mehr als eine Viertelstunde hier zu sitzen war es noch zu frisch. Nach dem Frühstück würde sie ein Bad statt einer Dusche nehmen und sich dann Versuch Nummer vier der verflucht schönen Vase widmen.
Im Radio hatten sie nichts erwähnt. Es lief, während sie in der Wanne gesessen hatte und es stand neben ihr und dröhnte seine blechernen Stimmen, während sie malte. Aber kein Wort.
Nach dem Mittagessen hatte sie mit einer Freundin telefoniert, aber gesagt hatte sie davon trotzdem nichts. Ihr war klar, wie verrückt das Ganze klingen würde. Jodie hatte ihr die Aufregung angehört und es wahrscheinlich auf den körperlichen und geistigen Verfall geschoben, über die sie sich beide langsam bewusst wurden. Nach dem Telefonat ging es ihr zumindest ein bisschen besser, ein guter Tee und die einfallenden Strahlen der Sonne ließen sie für ein, zwei Stunden abschalten. „Die Vase“, wie sie das Bild jetzt statt „Nummer vier“ nannte, war auch gar nicht mal so übel geworden. Tagsüber hatte sie die Fenster zur Straße hin geöffnet und wenn sie sich nicht vertan hatte, hatte sie bisher vier Autos gezählt, welche die kleine Straße entlanggefahren waren. Als das Geräusch von nebenan kam, war sie aufgesprungen und an das Küchenfenster gegangen. Wäre sie schneller gewesen, hätte sie mehr als nur den Hinterkopf der Nachbarin gesehen, die bereits in ihrem blauen Opel die Straße hinunter eierte. So musste sich der kleine Schneemann in der Schneekugel auf ihrem Regal fühlen, der immer nur zuschauen konnte.
Für heute Abend hatte sie vor, Kotelett mit Bratkartoffeln und Salat zu machen. Das beste Gericht der Welt, wenn man zu ihrer Zeit groß wurde und für viele zu aufwendig, wenn man allein wohnt. Außerdem hatte sie nichts, womit sie ihre Zeit hätte sinnvoller verbringen können. Sie kochte und stellte alles in den Ofen, um es für später warm zu halten dann ging sie durch das Haus. Schloss akribisch wieder alle Fenster, die sie zum Lüften geöffnet hatte und überprüfte die Balkontüren mehrmals. Auch wenn sich die Sonne jeden Tag wieder ein Stück höher kämpfte, war es die Tage abends noch gegen 17.15 Uhr stockdunkel gewesen. Es war lange her, seit sie allein im Esszimmer saß und das Ticken der großen Wanduhr in ihrem Genick hörte. Trotzdem schmeckte es hier irgendwie besser als auf dem Wohnzimmertisch oder dem Balkon oben, es war nur fast schon gruselig angehaucht.
Bis zu den Nachrichten schaute sie eine Dokumentation über den andauernden Krieg in der Ukraine und wie es die darum liegenden Länder langfristig betraf. Krieg kannte sie, den hatte sie als Kind erlebt, aber Angst hatte sie keine davor. Schlechter als die bisherige Regierung könnte es kaum werden und wenn sie eins gelernt hatte, dann, dass Geld immer im Vordergrund steht. Egal, was auf der Flagge abgebildet ist. Mehr Angst hatte sie vor dem Gefühl, entweder verrückt zu werden oder die letzte Normale zu sein. Es ging ferner um einen verzögerten Flughafenausbau, an dessen Verzögerung sich anscheinend reichlich Zwischenmänner und skrupellose Politiker bereichert hatten, eine neue Art von Mautsystem, dass EU weit eingeführt werden soll, ein Handelsabkommen zwischen China und einem Land, von dem sie noch nie gehört hatte; aber kein Wort über das, was sich hier draußen abspielte. Dieser dunkle Schatten, der sich seit Tagen langsam über das ganze Dorf legte, schien entweder niemandem aufzufallen oder niemanden zu interessieren. Meist schauen Menschen weg, wenn es nicht sie selbst betrifft; schauen so lange in die andere Richtung, bis es ihnen seinen warmen Atem in den Rücken haucht. Sie konnte noch nie gut wegsehen. Sie hatte mitbekommen, wie jede Nacht in mehr Häusern die Lichter erloschen, um am nächsten Tag nicht wieder eingeschaltet zu werden. Sie hatte gesehen, wie der Verkehr drastisch abnahm und man abends nach Sonnenuntergang keine Gassi– oder Spaziergänger mehr sah, als wären todbringende Temperaturen draußen unterwegs.
Sie hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte.
Nacht
Sie wurde von Schreien geweckt. Dumpf, aber schrill genug, um durch ihre Scheiben zu dringen. Als sie die Augen öffnete, glaubte sie, aus einem Albtraum erwacht zu sein - endlich wach, endlich zurück in der Realität, in der einen die bösen Träume nicht verfolgen konnten. Dann kam der nächste Schrei und sie begriff, wie töricht dieser Gedanke war. Im Traum war sie zumindest sicher. Ein Zwiespalt, der einsetzte: Der Drang aufzustehen und aus dem Fenster zu sehen, die Polizei zu rufen und die Angst, die sie lähmte, die sie nicht wissen lassen wollte, wer oder was da draußen geschrien hatte und sie das Knacken im Gebälk des Daches wie schwerfällige Fußtritte vernehmen ließ. Sie dachte an Heinrichs und zog sich die Decke weit über das Gesicht. So lag sie da, bewegte keinen Muskel und schaute an die Unterseite der undurchsichtigen weichen Decke. Nach einem lauten Schlag hatte das Geschrei geendet, auch wenn nicht schlagartig. Egal, wie sehr sie probierte, alte Schlager zu singen, um all das nicht mitzubekommen, hörte sie alles, als wäre es nebenan - die röchelnden Schreie, die nicht abrupt endeten, sondern immer leiser wurden. Sie verzogen ihre Stimmlage und am Ende klangen sie wie Fußballstadien, gefüllt mit johlenden Menschen: weit, weit weg. In diesem Moment blätterte das erste Mal ihre Schicht, die sie sich so viele Jahre aufgebaut hatte. Selbstzweifel schlichen sich ein, sowie die dicken fetten Worte vor ihrem geistigen Auge, ob sie nicht hätte irgendetwas tun können, alte Frau hin oder her.
Hastig zog sie die Decke vom Gesicht. War da ein Geräusch? Sie lauschte. Eindeutig war da ein Geräusch. Eins der immer seltener werdenden dieser Tage: Das laute Geräusch eines sich nähernden Motors. Auch wenn Mira sehr viele Kruzifixe und andere christliche Hostien besaß, waren sie alle Erbstücke, die außer Dekorationszwecken nie etwas Tieferes erfüllten. Aber jetzt war das erste Mal, dass sie betete. Sie betete, dass das Geräusch in ihre Straße abbiegen würde. So, wie sie sich jetzt fühlte, würde sie wahrscheinlich rausrennen, mit den Armen winken und hoffen, mitgenommen zu werden. Egal wohin. Vielleicht wurde ja nirgendwo davon berichtet, weil es einzig und allein dieses verfluchte Dorf betraf. Einfach weg. Egal wohin.
Reflexartig schlug sie die Decke auf die Seite und richtete sich auf. Sie musste Sachen packen. Essen, Kleidung und auch wenn es ihr nicht behagte, blinkte wieder ein einzelnes Wort auf: Bewaffnung. Ja, sie brauchte eine Art Bewaffnung. Vielleicht hat man ja bei Gott ein Gebet in seinem Leben frei, einen Wunsch, den er sich anhört und erfüllt während alle danach in Vergessenheit geraten. Das Auto bog in die Straße. Sie sah die blauen und roten Lichter, welche die Umgebung in ein umgekrempeltes Zirkuszelt verwandelten, und begann vor Freude zu zittern. Schnell ging sie an den Schrank, in welchem sie die Wintersachen hatte, zog eilig ein paar der dicksten Stücke heraus und klemmte sie unter ihre Arme. Auf der Straße war das Auto stehen geblieben, etwa vierzig Meter weiter und direkt vor Heinrichs Haus, wie es von hier aussah. Anscheinend hatten Bergs die Polizei gerufen oder es war doch noch mehr in dieser Straße los, als sie angenommen hatte. Sie flog regelrecht nach unten und holte ihre große Reisetasche, mit der sie in der Küche verschwand. Eine Schicht der dicken Kleidung stülpte sie sich über, während sie mit einem Auge aus dem Fenster und mit dem anderen in die Vorratsschränke spähte. Von hier unten hatte sie leider nicht das überblickende Gesamtbild. Das parkende Auto sah sie nur als großen schwarzen Fleck, der als Schatten zwischen dem blauen und roten Licht zum Vorschein kam. Sie packte ein paar Dosen und ein Sixpack Plastikflaschen Mineralwasser ein, die sie eigentlich für Kurzurlaube mit der Bahn gebunkert hatte. Dies würde kein Kurzurlaub werden, aber der Gedanke, dieses Haus zum letzten Mal zu sehen, nahm sie gar nicht so sehr mit. Ihre Aufmerksamkeit galt dem vorderen Rasen der Heinrichs und der zwei Gestalten, die sich mit ihren Taschenlampen dem Haus näherten. Sie ließen ihre Lichtkegel über das Haus gleiten und eigentlich sah es so aus wie immer. Die perfekt getrimmten Eiben, die wie Lanzen die Einfahrt umgaben und fast etwas Italienisches hatten, wie sie vor dem rostfarbenen Haus standen und leicht vom Wind hin und her geweht wurden.
Essen, Trinken, warme Kleidung … Bewaffnung. Sie griff nach dem groben hölzernen Messerblock und zog das größte Messer heraus. Theoretisch sollten die Polizisten mehr als gut bewaffnet sein, aber sie musste sich beeilen. Sie fischte Batterien aus einer der Schubladen und ließ sie in der großen Tasche verschwinden. Eingebung, wenn man es so will. Aus dem Flur holte sie ihre Wanderschuhe - dies war weder die Nacht für Sportschuhe noch für ihre Stöckelschuhe, die sie seit mindestens fünfundzwanzig Jahren nur noch aus den Augenwinkeln anschielte - und eilte zurück an die Spüle. Der einzige Nachteil an festem und vor allem hohem Schuhwerk ist, dass man dementsprechend länger beschäftigt ist, bis alles sitzt, wo es soll, gerade in einer solchen Situation und das in höherem Alter. Anscheinend hatten die zwei Beamten ihren äußeren Rundgang beendet und gingen nur schnurstracks auf die offen stehende Tür zu.
Mira durchfuhr es und in einer Sekunde sah sie ihren frisch geschmiedeten Plan zusammenstürzen wie eine billig gebaute Brücke: kein langes Drumherum oder ewigwährendes Auseinander-bröseln, bis es endlich so weit war - ein einfaches Platsch, und damit hatte sich die Sache samt jedem, der sich gerade darauf befunden hatte ...
Mit voller Wucht zog sie den Schnürsenkel des linken Schuhs zusammen und zitterte einen Knoten in Rekordzeit zusammen. Die zwei Schatten waren nun direkt am Eingang, leuchteten mit ihren Lampen in die Dunkelheit und Mira zuckte selbst zusammen, als sie das dringende Gefühl durchzuckte, loszuschreien und ihnen mitzuteilen, draußen zu bleiben. Sie zog die Lasche des rechten Schuhs an sich und drückte ihre Ferse fest hinein. Die zwei Polizisten waren in den Eingangsbereich getreten und leuchteten in den Innenbereich des Hauses. Sie band den Schuh zu und warf sich die Tasche, die leider einiges schwerer war als erwartet, um die Schultern. Das Messer nahm sie in die rechte Hand, fest umschlossen - so, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Nie war sie sich im Leben so sicher gewesen, nicht einmal bei der Frage, die sie früher lange begleitet hatte, ob sie einmal heiraten würde … niemals, sie liebte das Leben und seine Freiheiten, hatte jeden Moment genossen und so viele Leben gelebt wie zehn andere zusammen. Genau wie die Frage nach Kindern, die sie sich selbst mit der gleichen Art und Weise beantwortet hatte.
Draußen
Es war ein komisches Gefühl, jetzt in der Dunkelheit die Tür zu öffnen, doch im Endeffekt war es wie immer gewesen. Die Welt war nicht untergegangen und nichts war ihr beim Öffnen ins Gesicht gesprungen und hatte versucht sie zu fressen oder noch schlimmeres. Abgesehen von den dumpfen Knackgeräuschen, die aus Richtung des Polizeiwagens kamen, herrschte absolute Stille. Sie sah die Straße hinab, um einen letzten Blick zu erhaschen und vielleicht, um zu sehen ob irgendwo noch Licht brannte. Vielleicht würde sie schnell überall klingeln, wo es noch bewohnt aussah, vielleicht sollte sie rufen - aber der Kloß in ihrem Hals saß groß und fest und ließ kein Wort ungefragt an ihm vorbei. Es dauerte eine Sekunde, bis sie begriff, dass sie nicht in der Dunkelheit nach hellen Flecken suchen musste. Die Dunkelheit hatte sie gefressen, hatte ihre Leuchtkraft vergewaltigt bis nur noch verkümmerte Klumpen verfaulter Nacht zurückgeblieben waren. Langsam und mit ungläubig geöffnetem Mund drehte sie den Kopf. Über ihr sah es genauso aus. Selbst das Licht der Laternen schien kaum gegen die Schwärze anzukommen. Kein Kegel reichte bis zum nächsten und dazwischen schien nichts zu sein. Erst jetzt fiel ihr auf, dass auch gegenüber bei Bergs keinerlei Licht zu sein schien und ein Entsetzen packte sie. Sie suchte die Fenster ab, aber außer Schatten, die zeitgleich Gespenster und auch wehende Bettlaken hätten sein können, sah sie nichts.
Als die Schüsse die Luft zerschnitten, kam sie zurück - den Mund schließend, schluckend, obwohl der fast trockene Hals außer einem klickenden Geräusch kaum etwas hergab. Sie rannte los und die ungestellte Frage, wie sie an die Sache mit den Polizisten herangehen sollte, löste sich in Luft auf. Diesmal waren die Schreie intensiver. Einen der beiden Polizisten hatte es im Treppenhaus erwischt. Das Gejaule, das er ausstieß, war tief und verzweifelt. Es hallte durch das hohe Treppenhaus und wurde durch die offene Tür wie durch ein Megaphon heraus geblasen … Schmerz, Verzweiflung und die Gewissheit, dem Tod nie wieder von der Schippe springen zu können.
Trotz der Schüsse, die vereinzelt fielen, klatschte jeder ihrer Tritte auf dem rauen Asphalt wie eine Fliegenklatsche und erschütterte ihren Körper. Die schwere Tasche schlug gegen ihren Rücken und tat alles, um ihr Vorankommen so schwer wie möglich zu gestalten. Kurz vor dem Auto blieb sie stehen. Die Schüsse waren verklungen, aber als sie ihren Blick noch ein letztes Mal auf die offene Tür richtete, sah sie ihn. Er klammerte sich mit beiden Händen an einer der Seiten des Türrahmens fest, die Augen weit aufgerissen. Es war zu dunkel, als dass sie seinen abgerissenen und halb runterhängenden Kiefer oder das ganze Blut hätte sehen können. Sie sah seine Augen, wie er in ihre sah - als er den Griff verlor und seine Schreie für ein paar Sekunden furchtbar laut und nah werden sollten – „Schwarzbraun ist die Haselnuss. Schwarzbraun ist die verdammte Haselnuss.“ Sie versuchte die Geräusche zu übertönen, während sie die letzten Schritte zurücklegte und dabei auf ihren Schnürsenkel trat, der sich gelockert und geöffnet hatte. Als sie fiel, dachte sie daran, dass es ein verdammtes Glück sein müsste, wenn die Polizisten den Schlüssel im Auto gelassen hatten. Sie dachte in dieser kurzen Sekunde daran, wie sie in das Haus würde gehen müssen. In das Haus mit der offen stehenden Tür. Ihr Aufprall verpuffte regelrecht, zu sehr wirkte sich die Anspannung auf ihren Körper aus. Das Messer war zum Glück neben sie gefallen. Als sie es griff und sich halbwegs aufrappelte, fühlte sie sich besser. Ein wenig sicherer. Dann erstarrte sie. Ihr Blick fiel auf etwas, das wie ein Gesicht aussah und sich oben auf dem Dach des Hauses befand. Es war ein Gesicht samt dazugehörigem Körper, der in der Dunkelheit kaum auszumachen war. Selbst das Licht der Sirene schien er nicht zu reflektieren. Ganz im Gegenteil, es schien schwächer bei ihm zu werden. Als würde er tatsächlich Licht fressen. Dann sah sie das Gesicht daneben und begann sich umzusehen. Als wären sie unter einem Schleier verborgen gewesen, sah sie sie nun immer deutlicher vor sich. Mehr und mehr Gesichter. Sie sah Herrn Friedemann vom Ende der Straße und wenn sie sich nicht irrte, war dort oben neben dem Schornstein die kleine Susi von Fleischers, die sie mit einem breiten Grinsen ansah. Sie sah, dass sie überall auf den Dächern waren. Hunderte.
Als sie langsam näher kamen, dachte sie daran, dass sie vergessen hatte, „Die unendliche Geschichte“ einzupacken; sie hätte so gerne irgendwo gelegen und noch einmal gelesen, wie es weitergeht. Vielleicht an einem Strand in Spanien oder in den Bergen Österreichs, was sich eben so ergeben hätte. Das Buch wiederum lag umgedreht geöffnet auf dem Nachtisch neben ihrem Bett, während alle Fenster geschlossen waren. Denn so bekamen sie einen schließlich immer.