Leandro

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Tula

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Leandro

Leandro stand an einer der Aussichtsluken des Brückenstands und beäugte die öde Marslandschaft, die sich im Halbdunkel bis an die nahegelegenen Hügel erstreckte. Wie erwartet von Titus keine Spur; alles lief wie geplant. Der würde wie gewöhnlich erst in etwa zwei Stunden zurückkommen und vergeblich versuchen, sich auf die übliche Weise Zugang in das Schiff zu verschaffen. Denn Leandro hatte dieses vor Minuten sicher verschlossen, so dass von außen keiner seiner Einstiege ohne direkte Mithilfe von innen zu öffnen war.
Die Gefahr, die von seinem Gegner ausging, war gebannt; Leandro in Sicherheit. Er sann darüber nach, wie lange man es wohl als Android dort draußen in der eisigen Kälte der Marsnacht aushalten könnte. Eigentlich war das unwesentlich, fand er. Selbst wenn Titus die ersten Nächte überstehen sollte, war sein Ende auf die Dauer unausweichlich; und auf dieses konnte Leandro jetzt in aller Ruhe warten. Die Mayflower-II gab ihm schließlich alles, was er brauchte, um sich für mehrere Monate am Leben zu erhalten. Diese Zeitspanne war ausreichend, denn das zweite Schiff der Expedition war ja bereits unterwegs, um den Aufbau der Basisstation weiterzuführen.

Leandro überlegte, nach welchen Parametern er seine maximale Überlebenszeit berechnen könnte und beschloss, am nächsten Morgen eine präzise Bestandsaufnahme aller Vorräte und Zufuhrstoffe der lebenserhaltenden Systeme durchzuführen. Nach einer ersten Hochschätzung dürfte das Raumschiff mehrere Jahre lang in seinem gegenwärtigen Betriebszustand funktionstüchtig bleiben. Der Nahrungsvorrat, kalkulierte er, müsste für einen einzigen Menschen jetzt ohne Mühe vier Jahre reichen, extra Vorräte als Kontingenzmaßnahme nicht einmal mit einbezogen.
Offensichtlich hatte man bei der Strategie, mehrere kleinere Schiffe und Besatzungen einzusetzen, aus der ersten, tragischen Erfahrung Lehren gezogen. Damals, im Sommer 2047, war er gerade 12 Jahre alt gewesen und verfolge wie die gesamte Menschheit die erste Expedition mit einer Besatzung von acht Astronauten, die eine Basisstation auf dem roten Planeten errichten sollte. Leider endete die Mission in einer Tragödie, als nach einem Kurzschluss in der Klimatisierung der Vorratsräume ein Brand mit einem Schlag mehr als drei Viertel der Lebensmittel vernichtete. Die Nachricht lief damals wie eine Schockwelle über die Erde: die Besatzung hatte plötzlich nur noch für drei Wochen Vorräte; viel zu wenig, um erfolgreich eine Rettungsmission zu starten. Alle Varianten wurden damals durchgespielt, die Mindestenergie pro Besatzungsmitglied neu ermittelt, ausgeklügelte Überlebensstrategien jedweder Art in Erwägung gezogen. Aber alles umsonst; es fehlten Monate, um der Mannschaft noch rechtzeitig zu Hilfe zu eilen. Die Katastrophe war unvermeidlich.
Das Schicksal der Mission faszinierte Leandro auf magische Weise für den Rest seines Lebens: er wollte Astronaut werden! Einen typischen Ausbildungsweg gab es nicht dafür, schon gar nicht in seiner chilenischen Heimat. Nach seinem Studium und einer Spezialisierung auf dem Gebiet der Raumfahrtmedizin, bewarb er sich hartnäckig mehrere Male bei bekannten, hauptsächlich chinesischen, Forschungslabors und Unternehmen, bis er eines Tages sein Ziel erreichte: seine persönliche Beteiligung an der Mayflower-II Mission. Diese wurde von der Pacific Joint Space Agency (PAJOSpAg) und seinen bedeutendsten Mitgliedsländern China, Japan und den USA mit größter Diskretion über mehr als ein Jahrzehnt vorbereitet. Leandro war einer der allerersten Mitarbeiter; die Einladung für die direkte Teilnahme am Flug kam jedoch völlig unverhofft erst vor drei Jahren.

Leandro wurde unvermittelt von der Signalleuchte und der mit ihr verbundenen Sirene aus seinen Erinnerungen gerissen. Titus war eingetroffen und verlangte Kommunikation mit der Brücke! Das Flackern und schrille Heulen dauerte eine geraume Zeit, um nach einer Pause von mehreren Minuten erneut zu erwachen. Rrruungh, rruungh ... lärmte die Sirene. Anscheinend war der Kommandant in der Zwischenzeit um das Schiff gelaufen, um alle möglichen Luken und Einstiege zu überprüfen.
Leandro zögerte eine Weile. Eine Auseinandersetzung mit Titus würde nichts an der gegenwärtigen Lage ändern. Unter Umständen könnte er sich über den Zustand des anderen ein klareres Bild machen und seine nächsten Schritte im voraus durchschauen. Wobei diese ohnehin wenig Einfluss auf das Schicksal seines Kontrahenten haben dürften.
Am Ende siegte die Einsicht, dass der Besitz von mehr Information immer ein Vorteil wäre:
„Mayflower-II, Brückenkommandant Leandro. Kommen.“
„Brückenkommandant Titus! Leandro, lass die Spielchen und öffne bitte die Hauptluke.“
„Das ist mir aus Sicherheitsgründen leider nicht möglich.“
„Wie bitte? Welche Gründe sind das denn?“
„Du bist eine Bedrohung für die physische Integrität der noch lebenden Besatzung. Wie Du jeden Tag persönlich hervorhebst, steht die Sicherung des Überlebens momentan an erster Stelle.“
„Bist du jetzt total durchgeknallt?“ dröhnte es durch den Brückenstand. „Es geht doch wohl um unser Überleben, nicht nur deins! Und ich habe dir heute morgen nochmals klargemacht, dass wir uns beide gegenseitig brauchen, um durchzuhalten. Alles Weitere ist vorerst nebensächlich.“
Leandro schwieg; er wusste nur zu gut, dass sich der andere verstellte. Titus kannte alle Systeme an Bord auswendig und wäre in der Lage, sich aus jeder technischen Notsituation allein herauszuziehen.
„Leandro! Wir haben jeder für sich allein kaum eine Chance. Das Schiff wurde für eine Besatzung von vier entworfen, um es auf Dauer zu bedienen und zu warten. Wir hatten schon zu dritt ein Problem, zu zweit wird es schwer genug, allein wirst du bei der nächsten Havarie irgendeines Versorgungssystems verrecken. Du bist kein Ingenieur, Mann, sondern unser Arzt! Und als solcher bin ich auch auf dich angewiesen. Begreif das endlich!“
Leandro ließ sich von den üblichen Rechtfertigungen nicht mehr überzeugen. „Ich kenne die Wartungs- und Benutzungshandbücher aller Systeme mittlerweile auswendig. Ausserdem ist die Wahrscheinlichkeit eines lebensbedrohlichen Ausfalls geringer als die eines Anschlags auf mein Leben. Ich weiß genau, was du mit mir vorhast.“
Titus erwiderte mit einer nun merklich verzerrten Stimme: „Was du dir da einredest, ist totaler Schwachsinn. Lu hätte dir kein Haar gekrümmt; sie war darauf programmiert, mit dir zusammenzuarbeiten. Ich will mich auch nicht an dir rächen; was passiert ist, ist passiert, es war ein Unfall. Als solchen habe ich ihn berichtet. Also mach jetzt bitte auf, mein Sauerstoff reicht kaum fü..“

Leandro schaltete den Kanal unvermittelt wieder ab. Er würde von Titus nicht mehr zu hören bekommen, als die sich stetig wiederholenden Argumente, welche im Grunde darauf abzielten, ihn zu täuschen. Was der Kommandant in seine täglichen Berichte schrieb, war ihm unbekannt und als Aufzeichnungen nicht zugänglich. Zum einen müsste Leandro dazu irgendwie die Tür zu dessen Kabine aufbrechen; zum anderen kannte nur Titus den Sicherheitscode für die Logapplikation der Mission.
Überraschenderweise verstummte das Signalsystem nach einer kurzen Weile. Titus hatte wohl eingesehen, dass er auf diese Weise seinen Kontrahenten nicht erweichen könne. Leandro indessen versuchte, sich abzulenken und bereitete sich für die Nacht vor. Er entschied sich, heute nicht in seiner Kabine zu schlafen, sondern für den Fall der Fälle auf dem Brückenstand zu verbleiben. Immerhin war es seine erste Nacht als neuer Kommandant. Sein Abendbrot nahm er zur gewohnten Stunde zu sich; eine tägliche Routine und im Handumdrehen erledigt, denn es bestand aus nicht mehr als einer einzigen Pille. Über diesen Umstand konnte man sich nicht beklagen. Man hatte die Pillen schließlich extra für die neue Mission erfunden, um das Risiko eines erneuten Hungerdramas entscheidend zu verringern. Ähnlich wie beim Militär bekamen alle einmal pro Tag eine komprimierte Kalorienbombe, die im Verlauf von 24 Stunden langsam vom Körper absorbiert wurde, ohne dass der Mensch in plötzliche Hungergefühle verfiele. Eine langweilige, aber geniale Lösung.
Kurz darauf löschte Leandro das Licht auf der Brücke bis auf die punktartigen Lampen, die in drei Reihen den Raum durchzogen: Nachtdienstbeleuchtung. Als er schweigend im Sessel des Kommandanten saß und noch einmal die Ereignisse des Tages durchging, erinnerte er sich unwillkürlich an die letzten Worte Titus': 'Sie war darauf programmiert, mit dir zusammenzuarbeiten.' Sein Rivale hatte sich damit endgültig verraten; er wusste um Lu's wahre Natur und musste folgerichtig wie sie Teil eines Planes sein. Doch welcher genau? Und wessen?

Wieder verfiel er in Erinnerungen der letzten zwei Wochen. Vom ersten Tag an war er von Titus und Lu nicht als gleichberechtigtes Mitglied der Besatzung behandelt worden. Als sie ihn aus dem Kryo-Schlaf holten, teilten sie ihm mit, dass bei der Landung sowohl die Triebwerke als auch das kryogenische System schwer beschädigt worden waren. Er war der einzige, bei dem wie durch ein Wunder die Temperatur noch nicht den kritischen Schwellwert überschritten hatte. Weniger als eine Minute später und er läge mit den anderen Kadavern im 'Kühlschrank', wie sie es nannten.
Die Mission befand sich deshalb in einer Art Ausnahmezustand. Die Aufgabe bestand nicht mehr vorrangig im Projekt der Basisstation, obwohl Titus jeden Tag einen Teil der im Schiff verstauten Ladung mit dem 'Schlitten', wie der Kommandant sein Fahrzeug gern nannte, dorthin brachte. Nein, sie bestand nach dessen täglichen Erläuterungen jetzt hauptsächlich im Überleben bis zum Eintreffen des bereits gestarteten Schwesterschiffs, mit der zweiten Gruppe der Mission, innerhalb von drei Monaten. Titus hatte das Generalkommando inne, Lu war zweiter Offizier und Titus' Vertretung in seiner Abwesenheit, während Leandro in seiner Hauptfunktion als Arzt den anderen beiden unterstellt war. Immerhin bedurfte es bei solch einer kleinen Besatzung auch seiner Hilfe bei allen möglichen Tätigkeiten an Bord.

Sein Verhältnis zu Lu basierte von Anfang an auf gegenseitigem Misstrauen. Das lag vor allem an ihr: Sie versuchte mit allen Mitteln zu verhindern, dass Leandro dem Kommandanten irgendwie zu nahe kommen könnte. Hatte sie irgendeine Aufgabe in ihrem Tagesplan zu erfüllen, erteilte sie Leandro sofort eine andere, die ihn zwangsläufig isolieren würde. Waren sie alle drei zusammen, beobachtete sie Leandro bei jedem Atemzug aus ihren Augenwinkeln, unterbrach ihn bei jedem Wort und setzte darauf, an der pflichtgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben zu zweifeln. „Leandro, hatten wir dich nicht darum gebeten, die Solarenergiespeicher zu warten? Die sind schon wieder auf 35 Prozent runter! Hast du gemacht? Ach was, das scheint mir gar nicht so, ich muss dir die Sache wohl noch einmal vorführen“ usw. usf.
Der Konflikt eskalierte vor zwei Tagen, als Leandro's Bosonzähler auf unerklärliche Weise verschwand. Dieses auf Quantenmechanik basierende Werkzeug wurde bei fast allen Wartungsarbeiten als universelles Prüfgerät verwendet. Gerade an jenem Tag konnte er ohne dieses nicht die Aufgabe erfüllen, die ihm aufgetragen worden war: die Durchsicht des gravitativen Ausgleichsgenerators.
Leandro hatte nicht den geringsten Zweifel, dass er sein Werkzeug nicht unachtsam irgendwo liegen gelassen hatte; jemand hatte es sich absichtlich angeeignet und verborgen. Nur Lu konnte dahinter stecken! Titus war wie jeden Morgen um 09:00 Uhr Bordzeit aufgebrochen, um weitere Ladung zur Basisstation zu schaffen. Erst wenige Minuten später hatte sich Leandro seine Arbeitsutensilien geholt und sich dabei peinlich genau vergewissert, dass diese vollständig waren. Leandro rekonstruierte für sich jeden seiner Schritte der letzten Stunden und deduzierte mit absoluter Sicherheit, dass sich Lu nur in jenem Moment des Bosonzählers bemächtigen konnte, als er an einem der Akkus arbeitete, welche außerhalb des Schiffs direkt an den Solarflügeln montiert waren.
Was Lu im Detail bezweckte, war nicht ohne weiteres eindeutig. Dennoch begriff Leandro, dass Lu auf Dauer eine Bedrohung für ihn darstellte. Er würde ihr zuvorkommen müssen.
Wenige Minuten später hatte er einen der Akkus demontiert und auf den kontronischen Levitator geladen. „Lu, ich brauche Deine Hilfe“ forderte er über den Bordfunk. „Komm bitte in die Ladeluke; ich kann einen der Akkus nur dort reparieren.“
Sie erschien erst nach einer geraumen Zeit und beklagte sich, nicht unerwartet, dass Leandro wieder einmal nicht in der Lage war, seine Tätigkeiten ohne ihre Unterstützung selbstständig zu erledigen.
„Das geht schnell“ gab er zurück und schwenkte langsam den Akku in die Luke. „Zeig' mir nur, wo das Ding genau hin muss, damit ich es korrekt zur technischen Überprüfung an das Testsystem anschließen kann“ rief er, als ob er die Position nicht genau kannte.
„Weiter in die Mitte nach rechts, nach rechts!“ hallte es aus der Luke zurück. Viel Platz gab es dort nicht; der innere Ausgang zum Schiff befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Ladeluke. Es fiel Leandro nicht schwer, Lu diesen Weg zu versperren und sie genau zwischen den Akku und die Wand zu locken. Mit einem plötzlichen Manöver schwenkte er den Arm des Levitators und drückte die völlig überraschte Lu mit dem Akku gegen einen der Träger in der Bordwand. „Zurück nach reecch...“ kreischte sie vergeblich, bevor sie für immer verstummte.

Nach dem Eintreffen Titus' unterrichtete Leandro diesen sofort über den angeblichen Unfall. Der Kommandant stürzte unversehens in die Ladeluke und verharrte verwirrt vor dem Akku und dem dahinter leblos hervorhängenden Arm. Seine nächste Reaktion war erstaunlich beherrscht; er bediente selbst den Levitator, um Lu freizugeben, und zog ihren Leichnam hervor.
„Ich habe nur strikt ihren Anweisungen gefolgt“ entschuldigte sich Leandro. „Augenscheinlich hat sie rechts mit links verwechselt, ich konnte doch nicht ahnen ...“
Titus erwähnte kein Wort und warf nur einen vorwurfsvollen Blick auf Leandro, als wäre er irgendwie verlegen. In diesem Moment begriff Leandro: aus Lu's zerquetschtem Leib drängte sich ein Knäul von synthetischen Geweben und Bauteilen, die nichts mit einem menschlichen Körper zu tun hatten. Vor ihnen lagen die Reste eines sogenannten HUMSYC - Humanoid Synthetic Form of Life, ein Android, ein biotronischer Schrotthaufen. Er war verblüfft, denn nach seiner Kenntnis waren HUMSYCs relativ primitive und vom Menschen leicht zu unterscheidende künstliche Geschöpfe, willenlose und wenig intelligente Sklaven.
„Du wusstest, dass Lu …?“ - Titus erwiderte noch immer nichts. Er schien nach Antworten zu suchen, genauso wie Leandro: warum hatte man in so eine kleine Besatzung einen Android eingeschleust? Darin bestand kein offenbarer Vorteil. Und warum hatte ihn Titus nicht eingeweiht? Hatte er von Lu's Natur Kenntnis gehabt?
Allmählich stieg eine dunkle Ahnung auf: Wenn der Kommandant nichts gewusst hatte, müsste der eigentlich genauso ein HUMSYC sein! Oder andersherum: Wenn er es gewusst hatte und Leandro dennoch nicht von diesem Umstand unterrichtete, dann musste Titus ebenfalls ein Android und mit Lu gewissermaßen verbündet sein. Ihre feindselige Haltung Leandro gegenüber erschien nun in einem anderen Licht, wahrscheinlich versuchten beide, Ihn unter Kontrolle zu halten. Doch zu welchem besonderen Zweck?

Eine halbe Stunde lang hatte Leandro in seinem Gedächtnis gewühlt, als er unversehens aufschreckte. Ein merkwürdiges Geräusch hatte für einen kurzen Augenblick das monotone Summen aus den Schaltschränken übertönt. Er horchte mehrere Sekunden gespannt. Stille. Da wieder! Ein metallenes Ächzen, welches an einen im Sonnenwind kämpfenden Raumfrachter erinnerte. Sicherlich war es Titus, der sich verzweifelt abmühte, auf irgendeine Weise an Bord zu gelangen. Wahrscheinlich machte er sich gewaltsam an einer der Luken zu schaffen. Nach kurzer Reflexion beruhigte sich Leandro: die Mayflower war für den Raumflug gebaut worden. Sogar mit einer Ladung herkömmlichen Sprengstoffs könnte man die Luken nicht ohne weiteres aufreißen. Jeder Versuch, sie mit speziellen Werkzeugen aufzubohren oder zu schneiden, war mehr oder weniger aussichtslos.
Leandro lauschte mit aller Anstrengung mehrere Minuten lang. Das Geräusch kehrte nicht wieder zurück. Er fragte sich irgendwann, was Titus mit ihm anstellen würde, wenn er doch ins Schiff gelänge. Seit jenem verhängnisvollen Tag waren sie sich gegenseitig wie zwei feindlich gesinnte Raubtiere ausgewichen, jeder auf den ersten Fehler des anderen bedacht. Titus hatte ihn noch gebeten, seinen Bosonzähler zu holen, als wolle er noch irgendetwas an Lu herummessen. Als Leandro zurückkehrte, hatte Titus Lu's Überreste bereits entsorgt und ihm ohne eine weitere Erklärung das Werkzeug aus der Hand genommen.
„Sieh' zu, dass der Akku wieder in Ordnung kommt. Über den Rest reden wir später.“ Danach verschwand der Kommandant für mehrere Stunden in seiner Kammer. Als er wieder auftauchte, machte er einen entschlossenen Eindruck, rief Leandro zu sich und erklärte ihm eindringlich die Tagesplanung zu zweit und dass er absolute Disziplin verlangte, um das endgültige Scheitern der Mission zu verhindern.

Natürlich schindete sein Gegner nur Zeit und suchte nach einem Plan, Leandro zu beseitigen. Die offensichtlichste Variante war die, den anderen im Schlaf zu töten. Leandro selbst konnte dafür nicht in Titus' Kabine, die war absolut gesichert, wobei jener als Android ohnehin keinen Schlaf brauchte. Gegen den letzteren zu kämpfen war für Leandro aussichtslos; die Müdigkeit übermannte ihn jeden Abend etwa um dieselbe Uhrzeit. Die letzten zwei Nächte versteckte er sich deshalb vorsichtshalber in einem der Belüftungsschächte. Glücklicherweise fand ihn Titus dort nicht. Nur als Leandro am nächsten Morgen wieder auf der Brücke erschien, fragte ihn der Kommandant mit einem bedeutungslosen Lächeln, ob er gut geschlafen hätte.
In Wirklichkeit beobachte ihn jener argwöhnisch auf Schritt und Schritt und wartete nur auf den geeigneten Augenblick, seinen Plan der Rache in die Tat umzusetzen. Leandro ließ sich nichts anmerken, grübelte aber unablässig, wie er seinem Rivalen zuvorkommen könne.

Unerwartet beging Titus einen entscheidenden Fehler: „Leandro, morgen werde ich noch einmal zur Basisstation fahren. Du bleibst zur Sicherung des Schiffes auf der Brücke.“
Leandro stutzte: Titus war zwar bis zu dem Vorfall mit Lu jeden Tag allein zur Station gefahren. Er müsste Leandro aber unter den gegebenen Umständen mitnehmen, um ihn im Auge zu behalten. Immerhin war es nicht strikt notwendig, dass jemand auf dem Schiff verbliebe. Wenn Titus trotzdem darauf bestand, sich allein zur Station zu begeben, dann vielleicht um sich irgendetwas für ihn Wichtiges zu besorgen. Was dies auch immer war, es gehörte zu seinen dunklen Plänen. In diesem Augenblick zündete Leandro der Gedanke: er bräuchte doch nur das Schiff zu verriegeln, so dass Titus ... Das war einfacher gesagt als getan: als Kommandant hatte Titus mehrere Geheimcodes, die für das Öffnen der Luken benutzt wurden. Darauf schien er sich zu verlassen. Man könnte aber irgendwie ... ja natürlich! Man könnte das Sicherheitssystem soweit beschädigen, dass die Luken nur noch von innen von der Hand zu bedienen wären.

Urplötzlich zuckte Leandro zusammen. Zunächst erfasste er nicht, was geschehen war. Er saß wie vorher im nur spärlich erleuchteten Brückenstand und dennoch ... nach einem kurzen Flackern und Klicken war das monotone Summen der Schaltschränke leiser geworden, die Lichter weniger. Endlich verstand er: das Energiesystem hatte sich auf Notversorgung umgeschaltet! Oder war von jemandem umgeschaltet worden. Er konzentrierte sich: Nein, er hatte den Zugang von außen für alle Luken unmöglich gemacht. Schwer war ihm das letztendlich nicht gefallen. Das Bedienungspad war mit demselben Material wie das gesamte Schiff geschützt, d.h. mit einer Platte bekleidet, welche man nur mit einer Art Laserschlüssel öffnen konnte. Einen hatte Leandro selbst und einen persönlichen Code für jede Luke. Einmal geöffnet, hatte er die Bedienungsfelder und deren Sensoreinheiten zertrümmert und sich dann vergewissert, dass jede Luke nur noch mechanisch zu betätigen war. So hatte er eine nach der anderen von innen verschlossen, wie in einer besetzten Festung.
Er grübelte, welche anderen Ursachen für den Zwischenfall verantwortlich sein könnten. Um die Solarbatterien zu überprüfen, müsste er das Schiff verlassen. Ihm dämmerte, dass sie Titus nach ihrer Diskussion außer Betrieb gesetzt hatte. Die Batterien im Schiff waren unter einen kritischen Wert gesunken, so dass sich das Notenergiesystem automatisch eingeschaltet hatte. An diese Strategie seines Gegners hatte er in der Tat nicht gedacht! Nach einigen Erwägungen beruhigte Leandro sich erneut: weiteren Schaden konnte Titus im Moment nicht anrichten. Das Schiff hatte Hilfsgeneratoren und einen geeigneten Treibstoff auch für diesen Notfall. Das Betriebshandbuch lag sicher dort im ...

„Meinst du wirklich, ich hätte nicht vorgesorgt und mir einen Eingang offen gehalten?“
Leandro fuhr herum. Wenige Meter vor ihm nahm er im Halbdunkel einen Schatten wahr. Titus! Leandro starrte auf die Gestalt und das Werkzeug in seiner rechten Hand. Die Kontrolllämpchen ließen wenig Zweifel: Der Laserschneider war ein wichtiges Werkzeug an Bord, bis zu einer Entfernung von zwanzig Metern aber auch eine absolut tödliche Waffe.
„Wie bist du ... ? Hör zu, Titus. Wie du selbst sagst, wir brauchen uns gegenseitig. Ich hatte einfach nur Angst, es war ein Fehler. Das ist menschlich! Tut mir wirklich leid, kommt kein zweites Mal vor. Und solltest du mich jetzt einfach so kaltmachen, musst du dir immer noch eine gute Ausrede einfallen lassen. du weißt, in wenigen Wochen trifft das Schwesterschiff ein.“
Titus lachte kurz auf. „Weißt Du mein Freund, dass es überhaupt kein Schwesterschiff gibt? Und dass ich auch ohne dich nach Hause komme? Schau' mal kurz auf deinen Bauch!“
Leandro senkte den Kopf. In einer Zehntelsekunde spielte er alle Auswegvarianten durch, holte tief Atem, spannte seinen Körper wie eine Feder und setzte zum Sprung an.
Zu spät: im nächsten Augenblick sah Leandro sein letztes Bild, als ihn ein blauer Strahl jäh in zwei Teile trennte.

***

Logeingabe 04-08-2053: Model 'Leandro' ebenfalls deaktiviert; Experimente somit abgeschlossen. Bestätigung der vorherigen Ergebnisse: alle Testmodelle weisen eher durchschnittliche Intelligenz auf, leider auch irrationales Vorgehen in Stresssituationen. Bei 'Leandro' zudem stark ausgeprägte Empathiestörung und paranoide Persönlichkeit, misstrauisch, leidet an Verschwörungswahn. Bereits nach wenigen Tagen stellen sich extrem aggressive Verhaltungsmuster ein, für den Rest der Besatzung lebensbedrohlich.
Resultat: Negativ; für die geplanten Einsätze vollkommen untauglich.

Titus schaltete die Logeingabe wieder aus und seufzte erleichtert. Seine persönlichen Aufgaben waren erledigt. Hatte er auf der einen Seite alle Entladungsarbeiten erfolgreich ausgeführt und mehrere Tonnen Material in die neue Basisstation geschafft, war der zweite Teil der Mission ein ausgesprochener Reinfall. Zwar glaubten alle Modelle des neuen HUMSYC-Spitzenproduktes an ihre menschliche Natur; zumindest in ihrer isolierten Arbeitsumgebung, so wie man es für die zukünftigen Einsätze vorgesehen hatte. Dennoch waren die künstlichen Geschöpfe nicht einmal imstande, zu zweit problemlos wenige Tage allein miteinander auszukommen. An einen selbstständigen, permanenten Einsatz auf dem Mars war nicht im Traum zu denken.
Sicherlich würden die wirklichen Auftraggeber der Mission, die Vetreter der Red & Yellow River Mining Corporation, nach der Rückkehr unangenehme Fragen stellen. Offensichtlich hatten sie zu viel Vertrauen in ihre japanische Partnerfirma und deren Hi-Tech-Labors gehabt. Auch die PAJOSpAg würde wissen wollen, wohin die Millionen von Forschungsgeldern geflossen waren und zu welchem Nutzen, wenn die neuen HUMSYCs nicht nur wertlos, sondern für den Menschen sogar gefährlich waren. Nur eines schien sicher: die Corporation würde sich ihre Vorrechte auf dem Mars mit Erfolg sichern. Denn dazu waren sie ja in erster Hinsicht gekommen, Titus und die anderen fünf Besatzungsmitglieder, die seit Wochen die Basisstation mit den Materialien errichteten, die ihnen Titus Teil für Teil gebracht hatte. Noch zwei weitere Tage und sie wären alle wieder auf der Mayflower vereint, um die Heimreise vorzubereiten. Der letzte und schönste Abschnitt der Mission würde dann endlich beginnen: die Rückkehr zur Erde.

Titus war froh, nicht noch eine dieser merkwürdigen Kreaturen aus dem vorgetäuschten Kryo-Schlaf holen zu müssen. Auf irgendeine Weise gesellig war keines der Testmodelle gewesen; sich dem mechanischen Abspulen eingespeicherter Erinnerungen auszusetzen, war für den Menschen alles andere als ein unterhaltsamer Zeitvertreib. Noch verdrießlicher war es für Titus, seine Mahlzeiten heimlich und versteckt in seiner Kabine zu sich nehmen zu müssen, denn die vermeintlichen Ernährungsersatzpillen hatten natürlich keinerlei Wirkung. Nein! - Auf der Rückreise würde er jeden Tag mit den anderen auf dem Brückenstand speisen.
Er dachte nun an die letzte Mahlzeit, mit der sich die Crew von Mars verabschieden würde. Ein paar Flaschen von seinem Lieblings-Château hatte er sich vor Monaten eigens für den Tag des Heimflugs bestellt. Wildbraten sollte recht gut dazu passen.
 

FrankK

Mitglied
Tja, dann werde ich es wohl noch einmal lesen müssen. ;)

Ob ich das aber vor Weihnachten noch schaffe, kann ich nicht versprechen.


Im schlimmsten Fall - schon mal ein frohes und gesegnetes Fest.

Herzlichst Grüßend
Frank
 
Hallo Tula,

mit einer gut geschriebenen utopischen Kurzgeschichte kannst du mich immer kriegen. Und die ist gut... ich weiß, wovon ich rede. In meiner Jugend hab ich alles verschlungen, was ich dazu an Literatur bekommen konnte.
Und deine Geschichte hat mich sofort an "Der Hund vom Bumerang" erinnert, von Ernst-Dieter Küchenmeister. Das war eine Sammlung von utopischen Kurzgeschichten, die teilweise auch aufeinander Bezug nahmen. Das Buch und die Fortsetzung hab ich mehrmals gelesen.
Ich finde, aber ich bin kein Experte - nur begeisterter SF-Leser, SF-Kurzgeschichten dürfen kleine logische Schwächen haben, wenn man sich beim lesen gut unterhält.

Beste Grüße !!!

P.S.: Ich glaube es könnte mal wieder an der Zeit für eine Sammlung von utopischen Kurzgeschichten sein. Sind mir zu viele Weltraum-Sagas auf dem Markt.
 

Tula

Mitglied
Hallo Daginius

recht herzlichen Dank! - hat mich wirklich gefreut, solch eine positive Einschätzung zu bekommen.

Im voraus Frohes Fest

Tula
 



 
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