Leandro

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FrankK

Mitglied
Vorsicht, der Techniker kommt!

Hallo, Tula
Betrifft: Leandro in der Version vom 19.11.2016 01:20

Es wurde schon reichlich kommentiert, einige Hinweise hast Du auch schon umgesetzt.
Erlaube auch mir eine Einschätzung, nicht ganz so spontan, wie von Dir gewünscht, aber ganz ehrlich nach nur einer (1!) Lesung. ;)

Die Story:
Nach einer kurzen Einleitung und einem raschen Einblick in die aktuelle Situation erfolgt zunächst ein Rückblick auf eine vormals vergeblich versuchte Besiedlung des Mars (sogenannter Brückenkopf). Innerhalb dieser Rückblende erfahren wir auch über die Bemühungen Leandro`s, an der Mission teilzunehmen.
Abgebrochen wird dieser Rückblick durch das auftauchen von Titus, wir erfahren, dass Leandro ihn für einen Androiden hält. Titus wurde ausgesperrt und verlangt Einlass. Es erfolgt ein kurzer, verbaler Schlagabtausch.
Wieder erfolgt eine Rückblende, wir erfahren von der Havarie des Schiffes und dass die Hälfte der Besatzung umgekommen sei.
Die Situation stagniert, Leandro fühlt sich im inneren des Schiffes sicher. Titus kann aber doch eindringen. Die Situation klärt sich auf, indem Leandro von Titus – deaktiviert wird.

Basisplot:
Der Kampf gegen die Technik

Prämisse:
Eine Prämisse wage ich bei diesem Stück nicht zu definieren, erscheint mir etwas zu unscharf. Wobei ich erwähnen sollte dass mir die (für eine Prämisse notwendige) Ausgangsmotivation des Hauptcharacters fehlt. Die Ausgangsmotivation ist die Erklärung / der Beweggrund dafür, warum er das tut, was er da tut.
Die einzelnen Szenen (vor allem die beiden Rückblenden) kommen scheinbar auf ganz unterschiedliche Resümees.

Erzählperspektive:
Non-Auktoriale Ich-Perspektive: Leandro. Wird am Ende verlassen, um zum einzigen (Über)lebenden Titus zu wechseln.

Weiter tiefgreifende Analyse ist ohne eine erneute Lesung (aus meiner Position) nicht möglich. Ich würde zum Beispiel noch einmal durchgehen, ob die Perspektive wirklich konstant bei Leandro lag, ob seine paranoiden Verhaltensmuster konstant eskalierten, ob das Konfliktpotenzial und seine Aktivitäts-Möglichkeiten ausgeschöpft wurden.


Kleine Auffälligkeiten
Hätte ich zwei Mal lesen dürfen, wäre es vermutlich deutlich mehr geworden. Im Nachhinein bin ich jetzt froh, dass ich es nicht zweimal lesen brauchte. ;)
… endlich eine dauerhafte [blue]menschliche[/blue] Besiedlung auf [red][dem][/red] Mars zu schaffen …
Besiedlung – Was sonst, wenn nicht „menschlich“ im Sinne von Erdbewohner. Hühner oder Kühe hatten es nicht bis hinauf geschafft, oder?
Ein kleines Wörtchen fehlte.

Über das [blue]allerletzte[/blue] Ende …
So formuliert könnte man vermuten, es hätte zuvor ein „letztes Ende“ gegeben, dem ein einfaches „Ende“ vorausgegangen war …
Derartige Formulierungen machen mich „schmunzeln“. ;)

… seine persönliche Beteiligung an der Mayflower-II Mission, welche von der PAJOSpAg [blue](Pacific Joint Space Agency)[/blue] und seinen bedeutendsten Mitgliedsländern [blue](China, Japan, USA)[/blue] mit größter Diskretion …

… schon weil der als HUMSYC [blue](Humanoid Synthetic Form of Life)[/blue], wie man Androids jetzt vornehmer bezeichnete …
Texte in Klammern sind in Erzählprosa immer kritisch, sie fallen sofort auf. Hier ist es die Wiedergabe eines Gedankenganges – wie zum Teufel ‚denkt‘ man in Klammern?
Eine andere Art der Informationswiedergabe könnte hilfreicher sein, den Lesefluss nicht zu unterbrechen. Andererseits sind diese Informationen nicht unbedingt alle notwendig.

… ich muss Dir die Sache wohl noch einmal [blue]vorzeigen[/blue]...“ [blue]usw. usf.[/blue]
Das „vorzeigen“ klingt merkwürdig, eigentlich hieße es „vorführen“ oder „vormachen“ – aber dies könnte mit etwas „good-will“ als Hinweis auf die HUMSYCs gewertet werden.
Abkürzungen sind in Erzählprosa auch – nun ja, bestenfalls ungewohnt.

Die Fehlfunktion im kryogenischen System bei der Landung war dann mit höchster Wahrscheinlichkeit kein Unfall gewesen, sondern kaltblütiger Mord an der menschlichen Besatzung, welcher man den fünfmonatigen Flug zum Mars aus verschiedenen Gründen erspart hatte.
Hier habe ich ein massives Problem mit der Logik.
Ein Kryo-System (Kälteschlafkammern) für einen Fünf-Monats-Flug?
Die HUMSYCs sollen (unmotiviert) einen Mord an der restlichen Besatzung begangen haben?
Vielleicht erfolgt ja noch eine bessere Erklärung. Hier habe ich (beinahe) aufgehört zu lesen. Die Auflösung macht es aber nicht wirklich besser.

Titus lachte kurz auf. „Weißt DU mein Freund, dass es gar kein Schwesterschiff gibt?
Hier wurde mir klar: Titus ist der einzige Mensch – Leandro ist ebenfalls ein HUMSYC.

Autsch, irgendwie fühle ich mich jetzt ein ganz klein wenig hinters Licht geführt. Die vermeintliche „Jugenderinnerung“ und „Ausbildung“ (erste Rückblende) sollen nur eine Programmierung gewesen sein? Dafür wurde „Zeit“ investiert, aber nicht in die Entwicklung einer gescheiten Grundprogrammierung? Ich bin sprachlos und – wenn ich ehrlich sein darf – nicht besonders begeistert.

Vermutlich käme ich – wenn ich mir den Text ein zweites Mal ansähe – auf den Gedanken, diese Stück wäre bewusst so angelegt, um den Leser zu täuschen. :)
Um mich zu Überzeugen, bedürfte es einiger fein eingestreuten Unstimmigkeiten, die mir als Leser die Chance geben, zumindest einen ungefähren Verdacht zu bekommen, mit Leandro könnte irgendwas nicht stimmen.
Aber in Ordnung, ein absoluter Stresstest für die neue Generation von HUMSYCs, nur leider nicht sehr auf die Sicherheit des (lebenden) Personals ausgelegt. Alleine die Kosten für den Marsflug und das damit verbundene Risiko, einen Totalverlust zu erleiden, erklärt nicht die Notwendigkeit, die Sache auf den Mars auszulagern. Hätte man das Ganze nicht sehr viel günstiger und sicherer in einer hermetisch abgeschlossenen (und dekorierten) „Trainingshalle“ durchführen können?

Der Abschluss – der Ausklang – der Geschichte ist wirklich etwas zu lang geraten, aber ebenso merkwürdig. Wenn Titus die Aufgabe hat, die HUMSYCs zu testen, bleibt ihm doch gar nichts anderes übrig, als „alle“ verfügbaren Androiden (nacheinander) zu aktivieren. Anders überlegt: Es macht keinen Sinn, mehrere „Modelle“ mitzunehmen und auch mehrere zu testen, wenn alle absolut gleich wären, oder? Keine Differenzierungen in den Logiksystemen der Androiden?


Darf ich nun etwas „persönlicher“ auf Dich eingehen? Keine Angst, wird halb so schlimm. ;)
der Anfang sollte doch zum Weiterlesen anregen
Der Anfang ist immer das schwerste. Ich hatte mal irgendwo etwas über die „ersten fünf Sätze“ gelesen. Damit sollte es dem Verfasser eines Textes gelingen, entweder den Leser neugierig zu machen (ein fliegendes U-Boot – interessant) oder das der Leser sich eine Frage stellt (was hat XY nur vor?).
Dein Text beginnt mit einer Schlappe:
Leandro stand an einer der Aussichtsluken des Brückenstands und beäugte die öde Marslandschaft, die sich im Halbdunkel bis an den Horizont erstreckte. [blue]Von Titus keine Spur[/blue]... Dennoch brauchte er sich nicht zu sorgen. [blue]Titus würde erst in etwa zwei Stunden zurückkommen[/blue] und dann vergeblich versuchen, sich auf die übliche Weise Zugang in das Schiff zu verschaffen.
Der Protagonist hält Ausschau nach Titus – obwohl er ihn erst in zwei Stunden zurück erwartet? Das klingt merkwürdig, insbesondere am Anfang.
Hilfreicher wäre es, wenn der Leser bereits hier etwas von der inneren Unruhe mitbekäme – der Leser könnte sich dann die Frage stellen: Warum hat Leandro Angst vor Titus?

Von diesem möchte ich gern und in erster Linie einen [blue]spontanen Eindruck[/blue], ob die Erzählung [blue]lesenswert, unterhaltsam und auch spannend genug ist[/blue]. Was fällt auf, Licht und Schatten des Werks usw.
Licht:
Ein durchaus interessanter Ansatz, dieser Test der HUMSYCs unter Stressbedingungen, ohne dass die Androiden erfahren, dass sie Androiden sind.
Schatten:
Der Spielort auf dem Mars will mir, wie bereits angedeutet, nicht so recht einleuchten.
Leider nur bedingt Lesenswert.
Durch die aufeinanderfolgenden Rückblenden, die noch nicht einmal echt sind, auch nur zähflüssig im Unterhaltungswert.
Der mögliche Spannungsbogen erscheint mir nicht vollständig ausgenutzt.
Die für den Leser notwendigen Informationen aus diesen Rückblenden könnten ebenso gut innerhalb einer angestrengten Diskussion (die ansatzweise ja schon vorkommt) erfolgen.

Titus: „Du weißt, was wir hier draußen machen – es geht um die alte Basis.“
Leandro: „Ich habe selbst als zwölfjähriger vorm Fernseher gesessen und die Katastrophe verfolgt.“
Titus: „Dann lass mich endlich rein! Wir brauchen einander!“
Leandro: „Warum sollte ich dir trauen? Vielleicht brauche ich dich gar nicht! Ich habe mich schließlich seit meiner Jugend auf diese Mission vorbereit!“
Titus: „Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher.“ [hier wäre beispielsweise schon ein Moment, wo der Leser stutzig werden könnte: Mit Leandro ist nicht alles so, wie es sein sollte]
Leandro: „Was soll das heißen? Zweifelst du etwa meine Qualifikation an? Oder setzt du darauf, dass dieses Raumschiff nur von mehreren geflogen werden kann?“ [Leandro bemerkt die Anspielung nicht, vielleicht aber der Leser, zumindest behält der Leser diese Merkwürdigkeit im Hinterkopf und am Ende erinnert er sich daran]

Dies ist jetzt in geraffter Form die Rückblende in das Gespräch eingebaut. Im Gespräch kann daher auch schon der Konflikt zwischen den beiden Kontrahenten nicht nur zu Tage treten, sondern gesteigert werden (die Diskussion wird zum Streit).

Der ERSTE Eindruck scheint mir deshalb besonders wichtig.
Eben, deshalb ist der ANFANG einer Geschichte so wichtig. Wenn es dort schon klemmt und kneift, verliere zumindest ich die Lust, weiter zu lesen. Hier weiß ich, worauf ich mich einlasse – hier geht es um Textarbeit.

Auch der Leser ist kein Wissenschaftler, er will unterhalten werden und zu gestelzte Texte wirken ermüdend...
Ja und Nein – eine gestelzte Sprache (was ist das eigentlich? Ich ahne was du meinst. ;) ) darf vorkommen, wenn es die Szene erlaubt, oder die Story „verlangt“. In einer Geschichte an einem mittelalterlichen Hof wäre „gestelzt“ genau die richtige Wahl.


Noch ein abschließender Hinweis:
Du begehst einen Serienfehler.
Die drei Punkte […] als Auslassungszeichen liegen direkt am Wort, wenn das Wort nicht vollständig geschrieben wird:
Ist mit dir alles in Ord…?

Ist das vorhergehende (oder nachfolgende) Wort vollständig, werden die Punkte wie ein „Ersatz“ für das fehlende Wort behandelt (also auch mit vorangestelltem bzw. nachfolgendem Leerzeichen):
Ist mit dir … in Ordnung?

Am Ende eines Satzes entfällt der „Schlusspunkt“, wenn dort die Auslassungspunkte stehen:
Wir gehen gemeinsam zum Weihnachtsma…
oder
Wir gehen gemeinsam zum …
Aber:
Wir gehen … zum Weihnachtsmarkt.

Ein Frage- oder Ausrufezeichen wird gesetzt:
Kommst du mit zum Weihnachtsma…?
Kommst du mit zum …?


Irgendwann hattest du auch mal gefragt: „Wie schreibt man eine gute Geschichte?“
Lass mich diplomatisch antworten: Darüber könnte man ein Buch schreiben.
Zumindest aber ein paar theoretische und allgemeine Artikel für das Theorie-Forum, wie Jon auch schon vorgeschlagen hatte. Ich denke mir mal was aus - das wird aber noch etwas Zeit in Anspruch nehmen.


Herzliche aufmunternde Grüße
Frank
 

Tula

Mitglied
Hallo Norbert

die sprachliche Gestaltung nochmal durchzusehen, ist sicher eine gute Idee. Ich habe die Geschichte in einem Erzählton gehalten, der auch der Psyche des Helden entsprechen sollte; immerhin "entsteht" die Erzählung in den Erinnerungen Leandro's, unabhängig davon, ob diese real sind (die letzten zwei Wochen) oder ihm eingespeichert wurden (es bleibt offen, ob es die erste Mayflower-Expedition wirklich gegeben hat; jedenfalls dient sie dazu, dem Android seine Existenz und seine Teilnahme an der Mission zu "erklären").

Die Herausforderung beim Schreiben sah ich gerade darin: man hat Leandro mit Fachwissen vollgestopft, er ist sicherlich auf seine Weise intelligent. Doch seine Erbauer haben eine Eigenschaft des Menschen, welche für das Zusammenarbeiten in einer Gruppe wichtig wären, außer acht gelassen: emotionale Intelligenz und Empathie.

Deshalb sollen die Gedankengänge des Helden am Anfang schlicht, aber noch nachvollziehbar sein. Nach und nach sollte der Leser stutzen, spätestens bei dem Mord an Lu an der wahren Identität Leandro's zweifeln. Die unlogische und absurde Schlussfolgerung, dass auch Titus ein Android sei, ist daher auch Absicht. Zumindest denke ich, dass bei uns Menschen rationales ohne emotionales Denken nicht oder wenigstens nur schwer möglich ist.

Nun bin ich kein Psychologe... Wenn Du doch noch Lust aufs Lesen hast, kannst Du ja darauf achten, ob die beschriebene Absicht im Text auch durchkommt und wo eben nicht. Gute Ratschläge sind immer willkommen.

LG
Tula
 

Tula

Mitglied
Hallo Frank

Ja, ich hatte Dich schon erwartet, aber nun bin ich auch froh, dass Du diese Story nur einmal gelesen hast ;)

Eine Absicht habe ich gerade erklärt (dem Leser sollte nach und nach auffallen, dass mit Leandro etwas nicht stimmt; damit gleich am Anfang zu kommen, wäre dann wohl doch zu langweilig). Wenn Du Dich dabei "verkohlt" gefühlt hast, habe ich wenigestens einen kleinen Teilerfolg; so geht es mir bei manchen Fernseh-Krimis à la Agatha Christie

Wieder ernsthaft: Das Wechseln zwischen "Tatort Schiff" und Rückblenden ist Absicht. Die Frage: wenn das doch schon im Ansatz zu ungeschickt wirkt, welche Alternative wäre besser? - Oder es gibt ein paar Tricks, die dabei helfen? - z.B. die Uhrzeit einbauen, wenn die Geschichte aus der Erinnerung wieder in die Gegenwart springt.

Trainingshalle vs. Mars: das neue Ende soll die Sache ein wenig aufhellen. Die erste Variante (Labor, Trainingshalle) finde ich am Ende doch nicht sehr interessant, macht die Story vielleicht logischer, aber nicht unbedingt aufregender. Jedenfalls sollte am Ende klarwerden, dass der Flug zum Mars in 50 Jahren an sich keine besondere technische Herausforderung mehr darstellt, der Corporation geht es um billige Arbeitskräfte und Kosteneinsparungen; nebenbei werden Forschungsgelder angezapft. Machen grosse Firmen ja heute auch ;)

Andere auf den Text ausgerichtete Details werde ich mir nochmal genauer durchsehen. Ich werde die Erzählung ganz bestimmt überarbeiten, aber nicht "über'm Knie" und auf die Schnelle.

also Danke für die ausführliche Antwort, die ich sehr schätze

LG

Tula
 

Tula

Mitglied
Hallo jon

auch Dir herzlichen Dank. Ich sehe, der vorgeschlagene Text macht das Ende etwas heiterer. Gefällt mir auch.

Wie bereits geschrieben, die Geschichte wird nach allen Kommentaren neu überarbeitet, wird aber eine kleine Weile dauern

LG
Tula
 

jon

Mitglied
Teammitglied
spätestens bei dem Mord an Lu an der wahren Identität Leandro's zweifeln.
Emm… das hat bei mir nicht geklappt. Auch nicht beim zweiten Lesen. Fand ich aber nicht schlimm, im Gegenteil, da war die Auflösung um so überraschender.

Ich fand Leandro die ganze Zeit sehr überzeugend als Menschen, vor allem deswegen, wie die Paranoia sprachlich vermittelt wurde. Es ist sicher eine unzulässige Erwartung (*), aber ich hätte eventuell eher Lunte gerochen, wenn Leandro deutlich abgeklärter gehandelt hätte und z. B. die albernen Rachespielchen unterlassen hätte (oder da schon vor den "Unfall" echten Schaden für Lu erzeugt hätte) und auch die Sprache analytisch-kühler gewesen wäre. (* Ja ich weiß, der Witz an den neuen Modellen ist, dass sie menschlicher sein sollen - ich sag ja: unzulässige Erwartung.)

Dass Titus entgegen Leandros Annahme ein Mensch ist, war mir allerdings sehr rasch durch seine Sprache klar. (Allerdings auch unzulässigerweise - wenn die Andros menschlich sein sollen, hätte auch Titus einfach nur so programmiert sein können.)
 

Tula

Mitglied
Rache ist menschlich

Hallo Jon

ich gestehe (keine Ausrede), dass mir bei den kleinen Rachespielen mit Lu selbst ein paar Zweifel beim Schreiben kamen. In der Tat erreiche ich damit genau das Gegenteil, d.h. die zugrunde liegenden Emotionen (das "schöne" Gefühl, dem anderen Schaden zuzufügen) machen ja Leandro gerade menschlich. Also ein eindeutiger Fehler! Fliegt wieder raus.

Ich werde den Vorschlag aufgreifen, mit mehr Dialogen zu arbeiten, die auf subtile Weise (und analytisch-berechnend) die Psyche der Hauptperson besser andeuten können.

Dennoch sollte es einen gewissen Überraschungseffekt am Ende geben. Ich freue mich andererseits, dass es diesen auch gab.

Also wie gesagt, es wird nochmal überarbeitet.

LG
Tula
 

Tula

Mitglied
Leandro

Leandro stand an einer der Aussichtsluken des Brückenstands und beäugte die öde Marslandschaft, die sich im Halbdunkel bis an die nahegelegenen Hügel erstreckte. Wie erwartet von Titus keine Spur; alles lief wie geplant. Der würde wie gewöhnlich erst in etwa zwei Stunden zurückkommen und dann vergeblich versuchen, sich auf die übliche Weise Zugang in das Schiff zu verschaffen. Denn Leandro hatte dieses vor Minuten sicher verschlossen; es war jetzt unmöglich, von außen irgendeinen seiner Einstiege ohne direkte Mithilfe von innen zu öffnen.
Die Gefahr, die von seinem Gegner ausging, war also gebannt; Leandro war in Sicherheit. Er sann darüber nach, wie lange man es wohl als Android dort draußen in der eisigen Kälte der Marsnacht aushalten könnte. Eigentlich war das unwesentlich, fand er; selbst wenn Titus die ersten Nächte überstehen sollte, sein Ende war auf die Dauer unausweichlich; und auf dieses konnte Leandro jetzt in aller Ruhe warten. Die Mayflower-II gab ihm schließlich alles, was er brauchte, um sich für mehrere Monate am Leben zu erhalten, auch wenn das Schiff ohne Besatzung nicht raumflugfähig war. Diese Zeitspanne war ausreichend, denn das zweite Schiff der Expedition war ja bereits unterwegs, um den Aufbau der Basisstation weiterzuführen.

Leandro überlegte, nach welchen Parametern er seine maximale Überlebenszeit berechnen könnte und beschloss, am nächsten Morgen eine präzise Inventur aller Vorräte als auch eine Bestandsaufnahme der Ersatzteile und Zufuhrstoffe aller lebenserhaltenden Systeme durchzuführen. Nach einer ersten Hochschätzung dürfte das Raumschiff mehrere Jahre lang in seinem gegenwärtigen Betriebszustand funktionstüchtig bleiben; was den Nahrungsvorrat anging, kalkulierte er, dass sie für einen einzigen Menschen jetzt ohne Mühe vier Jahre reichen müssten, extra Vorräte als Kontingenzmaßnahme nicht einmal mit einbezogen.
Offensichtlich hatte man bei der Strategie, mehrere kleinere Schiffe und Besatzungen einzusetzen, aus der ersten, tragischen Erfahrung Lehren gezogen. Damals, im Sommer 2047, war er gerade 12 Jahre alt gewesen und verfolge wie die gesamte Menschheit die erste Expedition mit einer Besatzung von acht Astronauten, die eine erste Basisstation auf dem roten Planeten errichten sollte. Leider wurde die Mission von einer technischen Panne nach der anderen heimgesucht. Nach einer Art Bruchlandung kämpfte die Besatzung um die Erhaltung der kritischen Systeme. Aufgrund der Beschädigung mehrerer Solarflügel stand weniger als ein Drittel der erwarteten Energie zur Verfügung. Trotz dieser Einschränkung liefen die Arbeiten an der Basisstation mit großen Schwierigkeiten an. Die technischen Ausfälle häuften sich: irgendwann fiel zeitweise die Lufterneuerung im Schiff aus, dann war es die Steuerung der Antennen, schließlich traf es das wichtigste aller Systeme: ein Kurzschluss in der Klimatisierung der Vorratsräume führte zu einem Brand mit erheblichen Schäden, der mit einem Schlag mehr als drei Viertel der Lebensmittel vernichtete.
Die Nachricht lief wie eine Schockwelle über die Erde: die Besatzung hatte plötzlich nur noch für drei Wochen Vorräte, viel zu wenig, um erfolgreich eine Rettungsmission zu starten. Alle Varianten wurden damals durchgespielt, die Mindestenergie pro Besatzungsmitglied neu ermittelt, ausgeklügelte Überlebensstrategien jedweder Art in Erwägung gezogen. Doch alles umsonst, es fehlten Monate, um der Mannschaft noch rechtzeitig zu Hilfe zu eilen. Die Katastrophe war unvermeidlich.
Das Schicksal der Mission faszinierte Leandro auf magische Weise für den Rest seines Lebens: er wollte Astronaut werden! Einen typischen Berufsweg gab es nicht dafür, schon gar nicht in seiner chilenischen Heimat. Leandro studierte mehrere Naturwissenschaften und spezialisierte sich danach auf den Gebieten der Raumfahrtmedizin und primitiver Biologie. Er bewarb sich hartnäckig mehrere Male bei bekannten, hauptsächlich chinesischen, Forschungslabors und Unternehmen, bis er eines Tages sein Ziel erreichte: seine persönliche Beteiligung an der Mayflower-II Mission, welche von der Pacific Joint Space Agency (PAJOSpAg) und seinen bedeutendsten Mitgliedsländern China, Japan und den USA mit größter Diskretion über mehr als ein Jahrzehnt vorbereitet wurde. Leandro war einer der allerersten Mitarbeiter; die Einladung für die direkte Teilnahme am Flug kam jedoch völlig unverhofft erst vor drei Jahren.

Leandro wurde unvermittelt von der Signalleuchte und der mit ihr verbundenen Sirene aus seinen Gedanken gerissen. Titus war eingetroffen und verlangte Kommunikation mit der Brücke! Das Flackern und schrille Heulen dauerte eine geraume Zeit, um nach einer Pause von mehreren Minuten erneut zu erwachen. Rrruungh, rruungh ... lärmte die Sirene. Anscheinend war Titus in der Zwischenzeit um das Schiff gelaufen, um alle möglichen Luken und Einstiege zu überprüfen.
Leandro zögerte eine Weile. Eine Auseinandersetzung mit Titus würde nichts an der gegenwärtigen Lage ändern und selbst die unablässig laufende Notsignalanlage störte ihn nicht unbedingt. Unter Umständen aber, dachte er sich, könnte er sich über Titus' Zustand ein klareres Bild machen und seine nächsten Schritte im voraus durchschauen. Wobei diese andererseits ohnehin wenig Einfluss auf das Schicksal Titus' haben dürften.
Am Ende siegte die Einsicht, dass der Besitz von mehr Information immer ein kleiner Vorteil wäre:
„Mayflower-II, Brückenkommandant Leandro. Kommen.“
„Brückenkommandant Titus! Leandro, lass die Spielchen und öffne bitte die Hauptluke.“
„Das ist mir aus Sicherheitsgründen leider nicht möglich.“
„Wie bitte? Welche Gründe sind das denn?“
„Du bist eine Bedrohung für die physische Integrität der noch lebenden Besatzung. Wie Du jeden Tag selbst hervorhebst, die Sicherung des Überlebens steht momentan an erster Stelle.“
„Bist Du jetzt total durchgeknallt?“ dröhnte es durch den Brückenstand. „Es geht doch wohl um unser Überleben, nicht nur Deins! Und ich habe Dir erst heute morgen nochmals klargemacht, dass wir uns beide gegenseitig brauchen, um durchzuhalten. Alles andere ist jetzt erstmal nebensächlich.“
Leandro schwieg; er wusste nur zu gut, dass sich sein Gegner verstellte; dieser kannte alle Systeme an Bord auswendig und wäre in der Lage, sich aus jeder technischen Notsituation selbst herauszuziehen. Titus würde ihn bei der erstbesten Gelegenheit beseitigen.
„Leandro! Wir haben jeder für sich allein kaum eine Chance. Das Schiff wurde für eine Besatzung von vier entworfen, um es auf Dauer zu bedienen und zu warten. Wir hatten schon zu dritt ein Problem, zu zweit wird es schwer genug, allein wirst Du bei der nächsten Havarie irgendeines Versorgungssystems verrecken. Du bist kein Ingenieur, Mann, sondern unser Arzt! Und als solcher bin ich auch auf Dich angewiesen. Begreif das endlich!“
Leandro konnte sich von diesen Rechtfertigungen, welche er seit seinem ersten Tag an Bord über sich ergehen lassen musste, nicht wirklich überzeugen. „Ich kenne die Wartungs- und Benutzungshandbücher aller Systeme mittlerweile auswendig. Ausserdem ist die Wahrscheinlichkeit eines lebensbedrohlichen Ausfalls geringer als die eines Anschlags auf mein Leben. Ich weiß genau, was Du mit mir vorhast.“
Titus' Stimme verzerrte sich jetzt: „Was Du Dir da einredest, ist totaler Schwachsinn. Selbst Lu hätte Dir kein Haar gekrümmt; sie war nicht darauf programmiert. Ich will mich auch nicht an Dir rächen; was passiert ist, ist passiert, es war ein Unfall. Als solchen habe ich ihn auch berichtet. Also mach jetzt bitte auf, mein Sauerstoff reicht kaum fü..“

Leandro schaltete den Kanal unvermittelt wieder ab; er würde von Titus nicht mehr zu hören bekommen, als die sich stetig wiederholenden Argumente, welche im Grunde darauf abzielten, ihn zu täuschen. Was Titus in seine täglichen Berichte schrieb, war ihm unbekannt und als Aufzeichnungen auch nicht zugänglich. Zum einen müsste Leandro dazu irgendwie die Tür zu Titus' Kabine aufbrechen; zum anderen kannte nur Titus den Sicherheitscode für die Logapplikation der Mission.
Überraschenderweise verstummte das Signalsystem nach einer kurzen Weile. Titus hatte wohl eingesehen, dass er auf diese Weise seinen Kontrahenten nicht erweichen könne. Leandro indessen versuchte, sich abzulenken und bereitete sich für die Nacht vor. Er entschied sich, heute nicht in seiner Kabine zu schlafen, sondern für den Fall der Fälle auf dem Brückenstand zu verbleiben. Immerhin war es seine erste Nacht als neuer Kommandant. Sein Abendbrot nahm er zur gewohnten Stunde; eine tägliche Routine und im Handumdrehen erledigt, denn es bestand aus nicht mehr als einer einzigen Pille. Über diesen Umstand konnte man sich nicht beklagen. Man hatte die Pillen schließlich extra für die neue Mission erfunden, um das Risiko eines erneuten Hungerdramas entscheidend zu verringern. Ähnlich wie beim Militär bekamen alle einmal pro Tag eine komprimierte Kalorienbombe, die dann im Verlauf von 24 Stunden langsam vom Körper absorbiert wurde, ohne dass der Mensch in plötzliche Hungergefühle verfiele. Eine langweilige, aber doch geniale Lösung.
Kurz darauf löschte Leandro das Licht auf der Brücke bis auf die punktartigen Lampen, die in drei Reihen den Raum durchzogen: Nachtdienstbeleuchtung. Als er schweigend im Sessel des Kommandanten saß und noch einmal die Ereignisse des Tages durchging, erinnerte er sich unwillkürlich an die letzten Worte Titus': 'Sie war nicht darauf programmiert.' Titus hatte sich damit endgültig verraten; er wusste um Lu's wahre Natur und musste folgerichtig wie sie Teil eines Planes sein. Doch welcher genau? Und wessen?
Wieder verfiel er in Erinnerungen der letzten zwei Wochen. Schon vom ersten Tag an war er von Titus und Lu nicht als gleichberechtigtes Mitglied der Besatzung behandelt worden. Als sie ihn aus dem Kryo-Schlaf holten, teilten sie ihm mit, dass bei der Landung sowohl die Triebwerke als auch das kryogenische System schwer beschädigt worden waren. Er war der einzige, bei dem wie durch ein Wunder die Temperatur noch nicht den kritischen Schwellwert überschritten hatte. Weniger als eine Minute später und er läge mit den anderen Kadavern im 'Kühlschrank', wie sie es nannten.
Die Mission befand sich deshalb in einer Art Ausnahmezustand. Die Aufgabe bestand nicht mehr vorrangig im Projekt der Basisstation, auch wenn Titus jeden Tag einen Teil der im Schiff verstauten Ladung, Kisten jeder Abmessung und Gewichtes, mit dem 'Schlitten', wie er sein Fahrzeug gern nannte, dorthin brachte. Nein, sie bestand nach Titus' täglichen Erläuterungen jetzt hauptsächlich im Überleben bis zum Eintreffen des bereits gestarteten Schwesterschiffs, mit der zweiten Gruppe der Mission, innerhalb von drei Monaten. Titus hatte das Generalkommando inne, Lu war zweiter Offizier und Titus' Vertretung in seiner Abwesenheit, während Leandro in seiner Hauptfunktion als Arzt den anderen beiden unterstellt war. Immerhin bedurfte es bei solch einer kleinen Besatzung auch seiner Hilfe bei allen möglichen Tätigkeiten an Bord.

Vor allem sein Verhältnis zu Lu basierte von Anfang an auf gegenseitigem Misstrauen. Das lag vor allem an ihr: Sie versuchte mit allen Mitteln vom ersten Tag an zu verhindern, dass Leandro Titus irgendwie zu nah kommen könnte, und wenn, dann nur in ihrem Beisein. Hatte sie irgendeine Aufgabe in ihrem Tagesplan zu erfüllen, erteilte sie Leandro sofort eine andere, die ihn zwangsläufig isolieren würde. Waren sie alle drei zusammen, beobachtete sie Leandro bei jedem Atemzug aus ihren Augenwinkeln, unterbrach ihn bei jedem Wort und setzte immer wieder darauf, an der pflichtgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben zu zweifeln. „Leandro, hatten wir Dich nicht darum gebeten, die Solarenergiespeicher zu warten? Die sind schon wieder auf 35 Prozent runter! Hast Du gemacht? Ach was, das scheint mir gar nicht so, ich muss Dir die Sache wohl noch einmal vorführen“ usw. usf.
Der Konflikt eskalierte vor zwei Tagen, als Leandro's Bosonzähler auf unerklärliche Weise verschwand. Dieses auf Quantenmechanik basierende Werkzeug wurde bei fast allen Wartungsarbeiten als universelles Prüfgerät verwendet und gerade an jenem Tag könnte Leando ohne dieses nicht die Aufgabe erfüllen, die ihm Titus aufgetragen hatte: die Durchsicht des gravitativen Ausgleichsgenerators.
Leandro hatte nicht den geringsten Zweifel, dass er sein Werkzeug nicht unachtsam irgendwo liegen gelassen hatte; jemand hatte es sich absichtlich angeeignet und verborgen! Es bedurfte keiner schwierigen Überlegung, um herauszufinden, dass Lu dahinter steckte. Titus war wie jeden Morgen um 09:00 Uhr Bordzeit aufgebrochen, um weitere Ladung zur Basisstation zu schaffen. Erst wenige Minuten später hatte sich Leandro seine Arbeitsutensilien geholt und sich dabei peinlich genau vergewissert, dass diese auch vollständig waren. Leandro rekonstruierte für sich jeden seiner Schritte der letzten Stunden und deduzierte mit absoluter Sicherheit, dass sich Lu nur in jenem Moment des Bosonzählers bemächtigen konnte, als er an einem der Akkus arbeitete, welche außerhalb des Schiffs direkt an den Solarflügeln montiert waren.
Was Lu im Detail bezweckte, war nicht ohne weiteres eindeutig. Dennoch begriff Leandro, dass Lu auf Dauer eine Bedrohung für ihn darstellte. Er würde ihr zuvorkommen müssen.
Wenige Minuten später hatte er einen der Akkus demontiert und auf den kontronischen Levitator geladen. „Lu, ich brauche Deine Hilfe“ forderte er über den Bordfunk. „Komm bitte in die Ladeluke; ich kann einen der Akkus nur dort reparieren.“
Sie erschien erst nach einer geraumen Zeit und beklagte sich, nicht unerwartet, dass Leandro wieder einmal nicht in der Lage war, seine Tätigkeiten ohne ihre Unterstützung selbstständig zu erledigen.
„Das geht schnell“ gab er zurück und schwenkte langsam den Akku in die Luke. „Zeig' mir nur genau, wo das Ding hin muss, damit ich ihn auch korrekt zur technischen Überprüfung an das Testsystem anschließen kann“ rief er, als ob er die Position nicht genau kannte.
„Weiter in die Mitte nach rechts, nach rechts, Du Idiot!“ hallte es aus der Luke zurück. Viel Platz gab es dort nicht; der innere Ausgang zum Schiff befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Ladeluke. Es fiel Leandro nicht schwer, Lu diesen Weg zu versperren und sie genau zwischen den Akku und die Wand zu locken. Mit einem plötzlichen Manöver schwenkte er den Arm des Levitators und drückte die völlig überraschte Lu mit dem Akku gegen einen der Träger in der Bordwand. „Zurück na reecch..“ kreischte sie noch einmal vergeblich, dann verstummte Lu für immer.

Nach dem Eintreffen Titus' unterrichtete Leandro ihn sofort über den Unfall. Der Kommandant stürzte unversehens in die Ladeluke und verharrte verwirrt vor dem Akku und dem hinter ihm leblos hervorhängenden Arm. Seine nächste Reaktion war erstaunlich beherrscht; er bediente selbst den Levitator, um Lu freizugeben, und zog ihren Leichnam hervor.
„Ich habe nur strikt ihren Anweisungen gefolgt“ entschuldigte sich Leandro. „Augenscheinlich hat sie rechts mit links verwechselt, ich konnte doch nicht ahnen ...“
Titus erwähnte kein Wort, blickte nur kurz vorwurfsvoll auf Leandro und dann wieder auf Lu, als wäre er irgendwie verlegen. Dann begriff Leandro: aus Lu's zerquetschtem Leib drängte sich ein Knäul von synthetischen Geweben und Bauteilen, die nichts mit einem menschlichen Körper zu tun hatten. Vor ihnen lagen die Reste eines HUMSYC, ein Android, ein biotronischer Schrotthaufen. Er war verblüfft, denn nach seiner Kenntnis waren HUMSYCs relativ primitive und vom Menschen leicht zu unterscheidene künstliche Geschöpfe, willenlose und vor allem wenig intelligente Sklaven.
„Du wusstest, dass Lu …?“ - Titus erwiderte noch immer nichts. Er schien nach Antworten zu suchen, genauso wie Leandro: warum hatte man in so eine kleine Besatzung einen HUMSYC eingeschleust? Darin bestand kein offenbarer Vorteil. Und warum hatte ihn Titus nicht eingeweiht? Hatte von Lu's Natur Kenntnis gehabt?
Allmählich stieg eine dunkle Ahnung auf: Wenn Titus nichts gewusst hatte, dann müsste der doch selbst ein HUMSYC sein! Oder andersherum: Wenn er es gewusst hatte und Leandro dennoch nicht von diesem Umstand unterrichtete, dann musste es Titus ebenfalls und mit Lu gewissermaßen verbündet sein. Ihre feindselige Haltung Leandro gegenüber erschien nun in einem anderen Licht, wahrscheinlich versuchten beide, Ihn unter Kontrolle zu halten. Doch zu welchem besonderen Zweck?

Als der Schlaf bei dieser immer wieder aus seinem Innern empordrängenden Frage langsam aber stetig in ihn zu kriechen schien, schreckte Leandro unversehens auf. Ein merkwürdiges Geräusch hatte für einen kurzen Augenblick das monotone Summen aus den Schaltschränken übertönt. Leandro horchte gespannt. Mehrere Sekunden. Stille. Da wieder! Ein metallenes Ächzen, wie ein im Sonnenwind kämpfender Raumfrachter, jedoch in kurzen Intervallen. Sicherlich war es Titus, der sich verzweifelt abmühte, auf irgendeine Weise doch noch an Bord zu gelangen; wahrscheinlich machte er sich gewaltsam an einer der Luken zu schaffen. Nach kurzer Reflexion beruhigte sich Leandro wieder: die Mayflower war für den Raumflug gebaut worden. Selbst mit einer Ladung herkömmlichen Sprengstoffs könnte man die Luken nicht ohne weiteres aufreißen; jeder Versuch, sie mit speziellen Werkzeugen aufzubohren oder zu schneiden war mehr oder weniger aussichtslos. Das Material war härter und widerstandsfähiger als Diamant.
Leandro horchte mit aller Anstrengung mehrere Minuten lang. Das Geräusch kehrte nicht wieder zurück. Er fragte sich irgendwann, was Titus mit ihm anstellen würde, wenn er doch ins Schiff gelänge. Seit jenem verhängnisvollen Tag waren sie sich gegenseitig wie zwei feindlich gesinnte Raubtiere ausgewichen, jeder auf den ersten Fehler des anderen bedacht. Titus hatte ihn noch gebeten, seinen Bosonzähler zu holen, als wolle er noch irgendetwas an Lu herummessen. Als Leandro zurückkehrte, hatte Titus Lu's Überreste bereits entsorgt und ihm ohne eine weitere Erklärung das Werkzeug aus der Hand genommen.
„Sieh' zu, dass der Akku wieder in Ordnung kommt. Über den Rest reden wir später.“ Dann verschwand der Kommandant für mehrere Stunden in seiner Kammer. Als er wieder auftauchte, machte er einen entschlossenen Eindruck, rief Leandro zu sich und erklärte ihm eindringlich die Tagesplanung zu zweit und dass er absolute Disziplin verlangte, um das endgültige Scheitern der Mission zu verhindern.

Natürlich schindete Titus nur Zeit und suchte nach einem Plan, Leandro zu beseitigen. Die offensichtlichste Variante war die, seinen Gegner im Schlaf zu töten. Leandro selbst konnte dafür nicht in Titus' Kabine, die war absolut gesichert, wobei Titus als Android ohnehin keinen Schlaf brauchte. Gegen diesen zu kämpfen war für Leando aussichtslos; als ihn die Müdigkeit an den letzten beiden Abenden zur gewohnten Zeit unwiderstehlich zu überfallen drohte, versteckte sich Leandro in einem der Belüftungsschächte. Glücklicherweise fand ihn Titus dort nicht. Nur als Leandro morgens wieder auf der Brücke erschien, fragte ihn Titus mit einem bedeutungslosen Lächeln, ob er auch gut geschlafen hätte.
In Wirklichkeit beobachte Titus ihn argwöhnisch auf Schritt und Schritt; wartete nur auf den geeigneten Augenblick, seinen Plan der Rache in die Tat umzusetzen. Leandro ließ sich nichts anmerken, grübelte aber unablässig, wie er Titus zuvorkommen könne.

Dann beging Titus einen entscheidenden Fehler: „Leandro, morgen werde ich wieder zur Basisstation fahren. Du bleibst vorläufig zur Sicherung des Schiffes auf der Brücke.“
Leandro stutzte: auch wenn Titus bis zu dem Vorfall mit Lu jeden Tag allein zur Basisstation gefahren war, müsste er unter den gegebenen Umständen Leandro mitnehmen, um ihn im Auge zu behalten. Immerhin war es nicht strikt notwendig, dass jemand auf dem Schiff verbliebe. Wenn Titus trotzdem darauf bestand, sich allein zur Station zu begeben, dann vielleicht um sich irgendetwas für ihn Wichtiges zu besorgen. Was dies auch immer war, es gehörte zu Titus' dunklen Plänen. In diesem Augenblick zündete Leandro der Gedanke: er bräuchte doch nur das Schiff zu verriegeln, so dass Titus ... Das war einfacher gesagt als getan: als Kommandant hatte Titus mehrere Geheimcodes, die für das Öffnen der Luken benutzt wurden. Darauf schien sich Titus zu verlassen. Doch man könnte vielleicht irgendwie ... ja natürlich! Man könnte das Sicherheitssystem soweit beschädigen, dass die Luken nur noch von innen von der Hand zu bedienen wären.

Die nächsten Sekunden drosselten Leandro's Gedanken bis zum Stillstand. Zunächst erfasste er nicht, was geschehen war. Er saß wie vorher im nur spärlich erleuchteten Brückenstand und doch ... nach einem kurzen Flackern und Klicken war das monotone Summen der Schaltschränke leiser geworden, die Lichter weniger. Endlich verstand er: das Energiesystem hatte sich auf Notversorgung umgeschaltet! Oder war von jemandem umgeschaltet worden. Er konzentrierte sich mit aller Anstrengung: Nein, er hatte den Zugang von außen für alle Luken unmöglich gemacht. Schwer war ihm das letztendlich nicht gefallen. Das Bedienungspad war mit demselben Material wie das gesamte Schiff geschützt, d.h. mit einer Platte bekleidet, welche man nur mit einer Art Laserschlüssel öffnen konnte. Einen hatte Leandro selbst und einen persönlichen Code für jede Luke. Einmal geöffnet, hatte er die Bedienungsfelder und deren Sensoreinheiten zertrümmert und sich danach vergewissert, dass jede Luke nur noch mechanisch zu betätigen war. So hatte er eine nach der anderen von innen verschlossen, wie in einer besetzten Festung.
Er grübelte, welche anderen Ursachen für den Zwischenfall verantwortlich sein könnten. Um die Solarbatterien zu überprüfen, müsste er das Schiff verlassen. Ihm dämmerte, dass sie Titus womöglich schon vor Stunden außer Betrieb gesetzt hatte. Waren die Batterien im Schiff unter einen kritischen Wert gesunken, würden sie sich den Strom von den Akkus draußen holen. An diese Einzelheit hatte er in der Tat nicht gedacht! Doch nach einigen Erwägungen beruhigte er sich erneut: weiteren Schaden konnte Titus eigentlich nicht anstellen. Leandro war noch immer in Sicherheit; er musste jetzt nur mit dem Notsystem auskommen, einige Tage würde es sicherlich funktionieren. Er war nach wie vor mit allen lebensnotwendigen Dingen ausgestattet.

„Meinst Du wirklich, ich hätte nicht vorgesorgt und mir einen Eingang offen gehalten?“
Leandro fuhr herum. Wenige Meter vor ihm nahm er im Halbdunkel einen Schatten wahr. Titus! Leandro starrte auf die Gestalt und das Werkzeug in seiner rechten Hand. Die Kontrolllämpchen ließen wenig Zweifel: Der Laserschneider war eins der wichtigsten Werkzeuge für den Aufbau der Basisstation, bis zu einer Entfernung von zwanzig Metern aber auch eine absolut tödliche Waffe.
„Wie bist Du ... ? Hör zu, Titus. Wie Du selbst sagst, wir brauchen uns gegenseitig. Ich hatte einfach nur Angst, es war ein Fehler. Das ist doch menschlich! Tut mir wirklich leid, kommt kein zweites Mal vor. Und wenn Du mich jetzt einfach so kaltmachst, musst Du Dir immer noch eine gute Ausrede einfallen lassen. Du weißt, in wenigen Wochen trifft das Schwesterschiff ein.“
Titus lachte kurz auf. „Weißt Du mein Freund, dass es überhaupt kein Schwesterschiff gibt? Und dass ich auch ganz ohne Dich wieder nach Hause komme? Schau' doch jetzt ganz einfach mal kurz auf Deinen Bauch!“
Leandro senkte den Kopf. In einer Zehntelsekunde spielte er alle möglichen Auswegvarianten durch, dann holte er einmal tief Atem, spannte seinen Körper wie eine Feder und setzte zum Sprung an.
Der kam zu spät: schon im nächsten Augenblick sah Leando sein letztes Bild, als ihn ein blauer Strahl jäh in zwei Teile trennte.

<center>***</center>

Logeingabe 04-08-2053: Model 'Leandro' ebenfalls deaktiviert; Experimente somit abgeschlossen. Bestätigung der vorherigen Ergebnisse: alle Testmodelle weisen eher durchschnittliche Intelligenz auf, leider auch irrationales Vorgehen in Stresssituationen. Bei 'Leandro' zudem stark ausgeprägte Empathiestörung und paranoide Persönlichkeit, misstrauisch, leidet an Verschwörungswahn. Schon nach wenigen Tagen stellen sich extrem aggressive Verhaltungsmuster ein, für den Rest der Besatzung lebensbedrohlich.
Resultat: Negativ; für die geplanten Einsätze vollkommen untauglich.


Titus schaltete die Logeingabe wieder aus und seufzte erleichtert. Seine Aufgaben waren beendet. Hatte er auf der einen Seite alle Entladungsarbeiten erfolgreich ausgeführt und mehrere Tonnen Material in die neue Basisstation geschafft, war der zweite Teil der Mission ein ausgesprochener Reinfall. Zwar glaubten alle Modelle des neuen HUMSYC-Spitzenproduktes an ihre menschliche Natur, zumindest in ihrer isolierten Arbeitsumgebung, so wie man es für die zukünftigen Einsätze vorgesehen hatte. Dennoch waren die künstlichen Geschöpfe nicht einmal imstande, zu zweit problemlos wenige Tage allein miteinander auszukommen. An einen selbstständigen, permanenten Einsatz auf dem Mars war nicht im Traum zu denken.
Nach seiner Rückkehr würden nicht wenige versuchen, ihm die Schuld in die Schuhe zu schieben; vielleicht hätte er nicht die Fähigkeiten, um angemessen mit seinen biotronischen Untertanen umzugehen. Vor allem die wirklichen Auftraggeber der Mission, die Vetreter der Red & Yellow River Mining Corporation, würden viele unangenehme Fragen stellen, und nicht nur diese, und nicht nur ihm. Die Corporation benutzte schon seit 15 Jahren erfolgreich HUMSYCs und ähnliche technologische Vorgänger in ihren Minen, in denen zwischen allen möglichen Erfindungen modernster Robotertechnik immer weniger Menschen anzutreffen waren. Offensichtlich hatten sie zu viel Vertrauen in ihre japanische Partnerfirma und deren Hi-Tech-Labors gehabt. Auch die PAJOSpAg würde in Frage stellen, wohin die Millionen von Forschungsgeldern geflossen waren und zu welchem Nutzen, wenn die neuen HUMSYCs nicht nur wertlos waren, sondern für den Menschen sogar gefährlich werden konnten. Sollte man die Projektberichte und Testergebnisse der Japaner genauer lesen, würde jemand zugeben, dass diese zu einem gewissen Ausmaß fabriziert worden waren, um die Finanzierung der PAJOSpAg und der Corporation nicht zu verlieren? Gäbe es dann wieder irgendeine ofizielle Version, die die Verschwendung öffentlicher Gelder in den schönsten Sternenstaub malen würde?
Nur eins schien Titus sicher: die Corporation würde früher oder später ihre Ziele durchsetzen und sich ihre Vorrechte auf dem Mars sichern. Denn dazu waren sie ja in erster Hinsicht gekommen, Titus und die anderen fünf Besatzungsmitglieder, die seit Wochen die Basisstation mit den Materialien errichteten, die ihnen Titus Teil für Teil gebracht hatte. Noch zwei weitere Tage und sie wären alle wieder auf der Mayflower vereint, um die Heimreise vorzubereiten. Der letzte und schönste Abschnitt der Mission würde dann endlich beginnen: die Rückkehr zur Erde.

Titus war froh, nicht noch einen dieser merkwürdigen Kreaturen aus dem vorgetäuschten Kryo-Schlaf holen zu müssen. Auf menschliche Weise gesellig war keines der Testmodelle gewesen. War das letzte sogar gefährlich geworden, hatten sich die anderen in der Regel als neurotisch erwiesen; auch das eher mechanische Abspulen eingespeicherter Erinnerungen war für den Menschen kein unterhaltsamer Zeitvertreib. Noch verdrießlicher war es für Titus, seine Mahlzeiten heimlich und versteckt in seiner Kabine zu sich nehmen zu müssen, gewöhnlich eine gute Stunde nachdem die vermeintlichen Ernährungsersatzpillen seine künstlichen Gefährten für etwa acht Stunden in ihren 'Schlafzustand' versetzt hatten. Nein! - Auf der Rückreise würde er jeden Tag mit den anderen auf dem Brückenstand speisen.
Dann dachte er an die letzte Mahlzeit, mit der sich die Crew von Mars verabschieden würde. Ein paar Flaschen von seinem Lieblings-Château hatte er sich vor Monaten eigens für den Tag des Heimflugs bestellt. Wildbraten sollte doch recht gut dazu passen.
 

Tula

Mitglied
Leandro

Leandro stand an einer der Aussichtsluken des Brückenstands und beäugte die öde Marslandschaft, die sich im Halbdunkel bis an die nahegelegenen Hügel erstreckte. Wie erwartet von Titus keine Spur; alles lief wie geplant. Der würde wie gewöhnlich erst in etwa zwei Stunden zurückkommen und dann vergeblich versuchen, sich auf die übliche Weise Zugang in das Schiff zu verschaffen. Denn Leandro hatte dieses vor Minuten sicher verschlossen; es war jetzt unmöglich, von außen irgendeinen seiner Einstiege ohne direkte Mithilfe von innen zu öffnen.
Die Gefahr, die von seinem Gegner ausging, war also gebannt; Leandro war in Sicherheit. Er sann darüber nach, wie lange man es wohl als Android dort draußen in der eisigen Kälte der Marsnacht aushalten könnte. Eigentlich war das unwesentlich, fand er; selbst wenn Titus die ersten Nächte überstehen sollte, sein Ende war auf die Dauer unausweichlich; und auf dieses konnte Leandro jetzt in aller Ruhe warten. Die Mayflower-II gab ihm schließlich alles, was er brauchte, um sich für mehrere Monate am Leben zu erhalten, auch wenn das Schiff ohne Besatzung nicht raumflugfähig war. Diese Zeitspanne war ausreichend, denn das zweite Schiff der Expedition war ja bereits unterwegs, um den Aufbau der Basisstation weiterzuführen.

Leandro überlegte, nach welchen Parametern er seine maximale Überlebenszeit berechnen könnte und beschloss, am nächsten Morgen eine präzise Inventur aller Vorräte als auch eine Bestandsaufnahme der Ersatzteile und Zufuhrstoffe aller lebenserhaltenden Systeme durchzuführen. Nach einer ersten Hochschätzung dürfte das Raumschiff mehrere Jahre lang in seinem gegenwärtigen Betriebszustand funktionstüchtig bleiben; was den Nahrungsvorrat anging, kalkulierte er, dass sie für einen einzigen Menschen jetzt ohne Mühe vier Jahre reichen müssten, extra Vorräte als Kontingenzmaßnahme nicht einmal mit einbezogen.
Offensichtlich hatte man bei der Strategie, mehrere kleinere Schiffe und Besatzungen einzusetzen, aus der ersten, tragischen Erfahrung Lehren gezogen. Damals, im Sommer 2047, war er gerade 12 Jahre alt gewesen und verfolge wie die gesamte Menschheit die erste Expedition mit einer Besatzung von acht Astronauten, die eine erste Basisstation auf dem roten Planeten errichten sollte. Leider wurde die Mission von einer technischen Panne nach der anderen heimgesucht. Nach einer Art Bruchlandung kämpfte die Besatzung um die Erhaltung der kritischen Systeme. Aufgrund der Beschädigung mehrerer Solarflügel stand weniger als ein Drittel der erwarteten Energie zur Verfügung. Trotz dieser Einschränkung liefen die Arbeiten an der Basisstation mit großen Schwierigkeiten an. Die technischen Ausfälle häuften sich: irgendwann fiel zeitweise die Lufterneuerung im Schiff aus, dann war es die Steuerung der Antennen, schließlich traf es das wichtigste aller Systeme: ein Kurzschluss in der Klimatisierung der Vorratsräume führte zu einem Brand mit erheblichen Schäden, der mit einem Schlag mehr als drei Viertel der Lebensmittel vernichtete.
Die Nachricht lief wie eine Schockwelle über die Erde: die Besatzung hatte plötzlich nur noch für drei Wochen Vorräte, viel zu wenig, um erfolgreich eine Rettungsmission zu starten. Alle Varianten wurden damals durchgespielt, die Mindestenergie pro Besatzungsmitglied neu ermittelt, ausgeklügelte Überlebensstrategien jedweder Art in Erwägung gezogen. Doch alles umsonst, es fehlten Monate, um der Mannschaft noch rechtzeitig zu Hilfe zu eilen. Die Katastrophe war unvermeidlich.
Das Schicksal der Mission faszinierte Leandro auf magische Weise für den Rest seines Lebens: er wollte Astronaut werden! Einen typischen Berufsweg gab es nicht dafür, schon gar nicht in seiner chilenischen Heimat. Leandro studierte mehrere Naturwissenschaften und spezialisierte sich danach auf den Gebieten der Raumfahrtmedizin und primitiver Biologie. Er bewarb sich hartnäckig mehrere Male bei bekannten, hauptsächlich chinesischen, Forschungslabors und Unternehmen, bis er eines Tages sein Ziel erreichte: seine persönliche Beteiligung an der Mayflower-II Mission, welche von der Pacific Joint Space Agency (PAJOSpAg) und seinen bedeutendsten Mitgliedsländern China, Japan und den USA mit größter Diskretion über mehr als ein Jahrzehnt vorbereitet wurde. Leandro war einer der allerersten Mitarbeiter; die Einladung für die direkte Teilnahme am Flug kam jedoch völlig unverhofft erst vor drei Jahren.

Leandro wurde unvermittelt von der Signalleuchte und der mit ihr verbundenen Sirene aus seinen Gedanken gerissen. Titus war eingetroffen und verlangte Kommunikation mit der Brücke! Das Flackern und schrille Heulen dauerte eine geraume Zeit, um nach einer Pause von mehreren Minuten erneut zu erwachen. Rrruungh, rruungh ... lärmte die Sirene. Anscheinend war Titus in der Zwischenzeit um das Schiff gelaufen, um alle möglichen Luken und Einstiege zu überprüfen.
Leandro zögerte eine Weile. Eine Auseinandersetzung mit Titus würde nichts an der gegenwärtigen Lage ändern und selbst die unablässig laufende Notsignalanlage störte ihn nicht unbedingt. Unter Umständen aber, dachte er sich, könnte er sich über Titus' Zustand ein klareres Bild machen und seine nächsten Schritte im voraus durchschauen. Wobei diese andererseits ohnehin wenig Einfluss auf das Schicksal Titus' haben dürften.
Am Ende siegte die Einsicht, dass der Besitz von mehr Information immer ein kleiner Vorteil wäre:
„Mayflower-II, Brückenkommandant Leandro. Kommen.“
„Brückenkommandant Titus! Leandro, lass die Spielchen und öffne bitte die Hauptluke.“
„Das ist mir aus Sicherheitsgründen leider nicht möglich.“
„Wie bitte? Welche Gründe sind das denn?“
„Du bist eine Bedrohung für die physische Integrität der noch lebenden Besatzung. Wie Du jeden Tag selbst hervorhebst, die Sicherung des Überlebens steht momentan an erster Stelle.“
„Bist Du jetzt total durchgeknallt?“ dröhnte es durch den Brückenstand. „Es geht doch wohl um unser Überleben, nicht nur Deins! Und ich habe Dir erst heute morgen nochmals klargemacht, dass wir uns beide gegenseitig brauchen, um durchzuhalten. Alles andere ist jetzt erstmal nebensächlich.“
Leandro schwieg; er wusste nur zu gut, dass sich sein Gegner verstellte; dieser kannte alle Systeme an Bord auswendig und wäre in der Lage, sich aus jeder technischen Notsituation selbst herauszuziehen. Titus würde ihn bei der erstbesten Gelegenheit beseitigen.
„Leandro! Wir haben jeder für sich allein kaum eine Chance. Das Schiff wurde für eine Besatzung von vier entworfen, um es auf Dauer zu bedienen und zu warten. Wir hatten schon zu dritt ein Problem, zu zweit wird es schwer genug, allein wirst Du bei der nächsten Havarie irgendeines Versorgungssystems verrecken. Du bist kein Ingenieur, Mann, sondern unser Arzt! Und als solcher bin ich auch auf Dich angewiesen. Begreif das endlich!“
Leandro konnte sich von diesen Rechtfertigungen, welche er seit seinem ersten Tag an Bord über sich ergehen lassen musste, nicht wirklich überzeugen. „Ich kenne die Wartungs- und Benutzungshandbücher aller Systeme mittlerweile auswendig. Ausserdem ist die Wahrscheinlichkeit eines lebensbedrohlichen Ausfalls geringer als die eines Anschlags auf mein Leben. Ich weiß genau, was Du mit mir vorhast.“
Titus' Stimme verzerrte sich jetzt: „Was Du Dir da einredest, ist totaler Schwachsinn. Selbst Lu hätte Dir kein Haar gekrümmt; sie war nicht darauf programmiert. Ich will mich auch nicht an Dir rächen; was passiert ist, ist passiert, es war ein Unfall. Als solchen habe ich ihn auch berichtet. Also mach jetzt bitte auf, mein Sauerstoff reicht kaum fü..“

Leandro schaltete den Kanal unvermittelt wieder ab; er würde von Titus nicht mehr zu hören bekommen, als die sich stetig wiederholenden Argumente, welche im Grunde darauf abzielten, ihn zu täuschen. Was Titus in seine täglichen Berichte schrieb, war ihm unbekannt und als Aufzeichnungen auch nicht zugänglich. Zum einen müsste Leandro dazu irgendwie die Tür zu Titus' Kabine aufbrechen; zum anderen kannte nur Titus den Sicherheitscode für die Logapplikation der Mission.
Überraschenderweise verstummte das Signalsystem nach einer kurzen Weile. Titus hatte wohl eingesehen, dass er auf diese Weise seinen Kontrahenten nicht erweichen könne. Leandro indessen versuchte, sich abzulenken und bereitete sich für die Nacht vor. Er entschied sich, heute nicht in seiner Kabine zu schlafen, sondern für den Fall der Fälle auf dem Brückenstand zu verbleiben. Immerhin war es seine erste Nacht als neuer Kommandant. Sein Abendbrot nahm er zur gewohnten Stunde; eine tägliche Routine und im Handumdrehen erledigt, denn es bestand aus nicht mehr als einer einzigen Pille. Über diesen Umstand konnte man sich nicht beklagen. Man hatte die Pillen schließlich extra für die neue Mission erfunden, um das Risiko eines erneuten Hungerdramas entscheidend zu verringern. Ähnlich wie beim Militär bekamen alle einmal pro Tag eine komprimierte Kalorienbombe, die dann im Verlauf von 24 Stunden langsam vom Körper absorbiert wurde, ohne dass der Mensch in plötzliche Hungergefühle verfiele. Eine langweilige, aber doch geniale Lösung.
Kurz darauf löschte Leandro das Licht auf der Brücke bis auf die punktartigen Lampen, die in drei Reihen den Raum durchzogen: Nachtdienstbeleuchtung. Als er schweigend im Sessel des Kommandanten saß und noch einmal die Ereignisse des Tages durchging, erinnerte er sich unwillkürlich an die letzten Worte Titus': 'Sie war nicht darauf programmiert.' Titus hatte sich damit endgültig verraten; er wusste um Lu's wahre Natur und musste folgerichtig wie sie Teil eines Planes sein. Doch welcher genau? Und wessen?
Wieder verfiel er in Erinnerungen der letzten zwei Wochen. Schon vom ersten Tag an war er von Titus und Lu nicht als gleichberechtigtes Mitglied der Besatzung behandelt worden. Als sie ihn aus dem Kryo-Schlaf holten, teilten sie ihm mit, dass bei der Landung sowohl die Triebwerke als auch das kryogenische System schwer beschädigt worden waren. Er war der einzige, bei dem wie durch ein Wunder die Temperatur noch nicht den kritischen Schwellwert überschritten hatte. Weniger als eine Minute später und er läge mit den anderen Kadavern im 'Kühlschrank', wie sie es nannten.
Die Mission befand sich deshalb in einer Art Ausnahmezustand. Die Aufgabe bestand nicht mehr vorrangig im Projekt der Basisstation, auch wenn Titus jeden Tag einen Teil der im Schiff verstauten Ladung, Kisten jeder Abmessung und Gewichtes, mit dem 'Schlitten', wie er sein Fahrzeug gern nannte, dorthin brachte. Nein, sie bestand nach Titus' täglichen Erläuterungen jetzt hauptsächlich im Überleben bis zum Eintreffen des bereits gestarteten Schwesterschiffs, mit der zweiten Gruppe der Mission, innerhalb von drei Monaten. Titus hatte das Generalkommando inne, Lu war zweiter Offizier und Titus' Vertretung in seiner Abwesenheit, während Leandro in seiner Hauptfunktion als Arzt den anderen beiden unterstellt war. Immerhin bedurfte es bei solch einer kleinen Besatzung auch seiner Hilfe bei allen möglichen Tätigkeiten an Bord.

Vor allem sein Verhältnis zu Lu basierte von Anfang an auf gegenseitigem Misstrauen. Das lag vor allem an ihr: Sie versuchte mit allen Mitteln vom ersten Tag an zu verhindern, dass Leandro Titus irgendwie zu nah kommen könnte, und wenn, dann nur in ihrem Beisein. Hatte sie irgendeine Aufgabe in ihrem Tagesplan zu erfüllen, erteilte sie Leandro sofort eine andere, die ihn zwangsläufig isolieren würde. Waren sie alle drei zusammen, beobachtete sie Leandro bei jedem Atemzug aus ihren Augenwinkeln, unterbrach ihn bei jedem Wort und setzte immer wieder darauf, an der pflichtgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben zu zweifeln. „Leandro, hatten wir Dich nicht darum gebeten, die Solarenergiespeicher zu warten? Die sind schon wieder auf 35 Prozent runter! Hast Du gemacht? Ach was, das scheint mir gar nicht so, ich muss Dir die Sache wohl noch einmal vorführen“ usw. usf.
Der Konflikt eskalierte vor zwei Tagen, als Leandro's Bosonzähler auf unerklärliche Weise verschwand. Dieses auf Quantenmechanik basierende Werkzeug wurde bei fast allen Wartungsarbeiten als universelles Prüfgerät verwendet und gerade an jenem Tag könnte Leando ohne dieses nicht die Aufgabe erfüllen, die ihm Titus aufgetragen hatte: die Durchsicht des gravitativen Ausgleichsgenerators.
Leandro hatte nicht den geringsten Zweifel, dass er sein Werkzeug nicht unachtsam irgendwo liegen gelassen hatte; jemand hatte es sich absichtlich angeeignet und verborgen! Es bedurfte keiner schwierigen Überlegung, um herauszufinden, dass Lu dahinter steckte. Titus war wie jeden Morgen um 09:00 Uhr Bordzeit aufgebrochen, um weitere Ladung zur Basisstation zu schaffen. Erst wenige Minuten später hatte sich Leandro seine Arbeitsutensilien geholt und sich dabei peinlich genau vergewissert, dass diese auch vollständig waren. Leandro rekonstruierte für sich jeden seiner Schritte der letzten Stunden und deduzierte mit absoluter Sicherheit, dass sich Lu nur in jenem Moment des Bosonzählers bemächtigen konnte, als er an einem der Akkus arbeitete, welche außerhalb des Schiffs direkt an den Solarflügeln montiert waren.
Was Lu im Detail bezweckte, war nicht ohne weiteres eindeutig. Dennoch begriff Leandro, dass Lu auf Dauer eine Bedrohung für ihn darstellte. Er würde ihr zuvorkommen müssen.
Wenige Minuten später hatte er einen der Akkus demontiert und auf den kontronischen Levitator geladen. „Lu, ich brauche Deine Hilfe“ forderte er über den Bordfunk. „Komm bitte in die Ladeluke; ich kann einen der Akkus nur dort reparieren.“
Sie erschien erst nach einer geraumen Zeit und beklagte sich, nicht unerwartet, dass Leandro wieder einmal nicht in der Lage war, seine Tätigkeiten ohne ihre Unterstützung selbstständig zu erledigen.
„Das geht schnell“ gab er zurück und schwenkte langsam den Akku in die Luke. „Zeig' mir nur genau, wo das Ding hin muss, damit ich ihn auch korrekt zur technischen Überprüfung an das Testsystem anschließen kann“ rief er, als ob er die Position nicht genau kannte.
„Weiter in die Mitte nach rechts, nach rechts, Du Idiot!“ hallte es aus der Luke zurück. Viel Platz gab es dort nicht; der innere Ausgang zum Schiff befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Ladeluke. Es fiel Leandro nicht schwer, Lu diesen Weg zu versperren und sie genau zwischen den Akku und die Wand zu locken. Mit einem plötzlichen Manöver schwenkte er den Arm des Levitators und drückte die völlig überraschte Lu mit dem Akku gegen einen der Träger in der Bordwand. „Zurück na reecch..“ kreischte sie noch einmal vergeblich, dann verstummte Lu für immer.

Nach dem Eintreffen Titus' unterrichtete Leandro ihn sofort über den Unfall. Der Kommandant stürzte unversehens in die Ladeluke und verharrte verwirrt vor dem Akku und dem hinter ihm leblos hervorhängenden Arm. Seine nächste Reaktion war erstaunlich beherrscht; er bediente selbst den Levitator, um Lu freizugeben, und zog ihren Leichnam hervor.
„Ich habe nur strikt ihren Anweisungen gefolgt“ entschuldigte sich Leandro. „Augenscheinlich hat sie rechts mit links verwechselt, ich konnte doch nicht ahnen ...“
Titus erwähnte kein Wort, blickte nur kurz vorwurfsvoll auf Leandro und dann wieder auf Lu, als wäre er irgendwie verlegen. Dann begriff Leandro: aus Lu's zerquetschtem Leib drängte sich ein Knäul von synthetischen Geweben und Bauteilen, die nichts mit einem menschlichen Körper zu tun hatten. Vor ihnen lagen die Reste eines HUMSYC, ein Android, ein biotronischer Schrotthaufen. Er war verblüfft, denn nach seiner Kenntnis waren HUMSYCs relativ primitive und vom Menschen leicht zu unterscheidene künstliche Geschöpfe, willenlose und vor allem wenig intelligente Sklaven.
„Du wusstest, dass Lu …?“ - Titus erwiderte noch immer nichts. Er schien nach Antworten zu suchen, genauso wie Leandro: warum hatte man in so eine kleine Besatzung einen HUMSYC eingeschleust? Darin bestand kein offenbarer Vorteil. Und warum hatte ihn Titus nicht eingeweiht? Hatte von Lu's Natur Kenntnis gehabt?
Allmählich stieg eine dunkle Ahnung auf: Wenn Titus nichts gewusst hatte, dann müsste der doch selbst ein HUMSYC sein! Oder andersherum: Wenn er es gewusst hatte und Leandro dennoch nicht von diesem Umstand unterrichtete, dann musste es Titus ebenfalls und mit Lu gewissermaßen verbündet sein. Ihre feindselige Haltung Leandro gegenüber erschien nun in einem anderen Licht, wahrscheinlich versuchten beide, Ihn unter Kontrolle zu halten. Doch zu welchem besonderen Zweck?

Als der Schlaf bei dieser immer wieder aus seinem Innern empordrängenden Frage langsam aber stetig in ihn zu kriechen schien, schreckte Leandro unversehens auf. Ein merkwürdiges Geräusch hatte für einen kurzen Augenblick das monotone Summen aus den Schaltschränken übertönt. Leandro horchte gespannt. Mehrere Sekunden. Stille. Da wieder! Ein metallenes Ächzen, wie ein im Sonnenwind kämpfender Raumfrachter, jedoch in kurzen Intervallen. Sicherlich war es Titus, der sich verzweifelt abmühte, auf irgendeine Weise doch noch an Bord zu gelangen; wahrscheinlich machte er sich gewaltsam an einer der Luken zu schaffen. Nach kurzer Reflexion beruhigte sich Leandro wieder: die Mayflower war für den Raumflug gebaut worden. Selbst mit einer Ladung herkömmlichen Sprengstoffs könnte man die Luken nicht ohne weiteres aufreißen; jeder Versuch, sie mit speziellen Werkzeugen aufzubohren oder zu schneiden war mehr oder weniger aussichtslos. Das Material war härter und widerstandsfähiger als Diamant.
Leandro horchte mit aller Anstrengung mehrere Minuten lang. Das Geräusch kehrte nicht wieder zurück. Er fragte sich irgendwann, was Titus mit ihm anstellen würde, wenn er doch ins Schiff gelänge. Seit jenem verhängnisvollen Tag waren sie sich gegenseitig wie zwei feindlich gesinnte Raubtiere ausgewichen, jeder auf den ersten Fehler des anderen bedacht. Titus hatte ihn noch gebeten, seinen Bosonzähler zu holen, als wolle er noch irgendetwas an Lu herummessen. Als Leandro zurückkehrte, hatte Titus Lu's Überreste bereits entsorgt und ihm ohne eine weitere Erklärung das Werkzeug aus der Hand genommen.
„Sieh' zu, dass der Akku wieder in Ordnung kommt. Über den Rest reden wir später.“ Dann verschwand der Kommandant für mehrere Stunden in seiner Kammer. Als er wieder auftauchte, machte er einen entschlossenen Eindruck, rief Leandro zu sich und erklärte ihm eindringlich die Tagesplanung zu zweit und dass er absolute Disziplin verlangte, um das endgültige Scheitern der Mission zu verhindern.

Natürlich schindete Titus nur Zeit und suchte nach einem Plan, Leandro zu beseitigen. Die offensichtlichste Variante war die, seinen Gegner im Schlaf zu töten. Leandro selbst konnte dafür nicht in Titus' Kabine, die war absolut gesichert, wobei Titus als Android ohnehin keinen Schlaf brauchte. Gegen diesen zu kämpfen war für Leando aussichtslos; als ihn die Müdigkeit an den letzten beiden Abenden zur gewohnten Zeit unwiderstehlich zu überfallen drohte, versteckte sich Leandro in einem der Belüftungsschächte. Glücklicherweise fand ihn Titus dort nicht. Nur als Leandro morgens wieder auf der Brücke erschien, fragte ihn Titus mit einem bedeutungslosen Lächeln, ob er auch gut geschlafen hätte.
In Wirklichkeit beobachte Titus ihn argwöhnisch auf Schritt und Schritt; wartete nur auf den geeigneten Augenblick, seinen Plan der Rache in die Tat umzusetzen. Leandro ließ sich nichts anmerken, grübelte aber unablässig, wie er Titus zuvorkommen könne.

Dann beging Titus einen entscheidenden Fehler: „Leandro, morgen werde ich wieder zur Basisstation fahren. Du bleibst vorläufig zur Sicherung des Schiffes auf der Brücke.“
Leandro stutzte: auch wenn Titus bis zu dem Vorfall mit Lu jeden Tag allein zur Basisstation gefahren war, müsste er unter den gegebenen Umständen Leandro mitnehmen, um ihn im Auge zu behalten. Immerhin war es nicht strikt notwendig, dass jemand auf dem Schiff verbliebe. Wenn Titus trotzdem darauf bestand, sich allein zur Station zu begeben, dann vielleicht um sich irgendetwas für ihn Wichtiges zu besorgen. Was dies auch immer war, es gehörte zu Titus' dunklen Plänen. In diesem Augenblick zündete Leandro der Gedanke: er bräuchte doch nur das Schiff zu verriegeln, so dass Titus ... Das war einfacher gesagt als getan: als Kommandant hatte Titus mehrere Geheimcodes, die für das Öffnen der Luken benutzt wurden. Darauf schien sich Titus zu verlassen. Doch man könnte vielleicht irgendwie ... ja natürlich! Man könnte das Sicherheitssystem soweit beschädigen, dass die Luken nur noch von innen von der Hand zu bedienen wären.

Die nächsten Sekunden drosselten Leandro's Gedanken bis zum Stillstand. Zunächst erfasste er nicht, was geschehen war. Er saß wie vorher im nur spärlich erleuchteten Brückenstand und doch ... nach einem kurzen Flackern und Klicken war das monotone Summen der Schaltschränke leiser geworden, die Lichter weniger. Endlich verstand er: das Energiesystem hatte sich auf Notversorgung umgeschaltet! Oder war von jemandem umgeschaltet worden. Er konzentrierte sich mit aller Anstrengung: Nein, er hatte den Zugang von außen für alle Luken unmöglich gemacht. Schwer war ihm das letztendlich nicht gefallen. Das Bedienungspad war mit demselben Material wie das gesamte Schiff geschützt, d.h. mit einer Platte bekleidet, welche man nur mit einer Art Laserschlüssel öffnen konnte. Einen hatte Leandro selbst und einen persönlichen Code für jede Luke. Einmal geöffnet, hatte er die Bedienungsfelder und deren Sensoreinheiten zertrümmert und sich danach vergewissert, dass jede Luke nur noch mechanisch zu betätigen war. So hatte er eine nach der anderen von innen verschlossen, wie in einer besetzten Festung.
Er grübelte, welche anderen Ursachen für den Zwischenfall verantwortlich sein könnten. Um die Solarbatterien zu überprüfen, müsste er das Schiff verlassen. Ihm dämmerte, dass sie Titus womöglich schon vor Stunden außer Betrieb gesetzt hatte. Waren die Batterien im Schiff unter einen kritischen Wert gesunken, würden sie sich den Strom von den Akkus draußen holen. An diese Einzelheit hatte er in der Tat nicht gedacht! Doch nach einigen Erwägungen beruhigte er sich erneut: weiteren Schaden konnte Titus eigentlich nicht anstellen. Leandro war noch immer in Sicherheit; er musste jetzt nur mit dem Notsystem auskommen, einige Tage würde es sicherlich funktionieren. Er war nach wie vor mit allen lebensnotwendigen Dingen ausgestattet.

„Meinst Du wirklich, ich hätte nicht vorgesorgt und mir einen Eingang offen gehalten?“
Leandro fuhr herum. Wenige Meter vor ihm nahm er im Halbdunkel einen Schatten wahr. Titus! Leandro starrte auf die Gestalt und das Werkzeug in seiner rechten Hand. Die Kontrolllämpchen ließen wenig Zweifel: Der Laserschneider war eins der wichtigsten Werkzeuge für den Aufbau der Basisstation, bis zu einer Entfernung von zwanzig Metern aber auch eine absolut tödliche Waffe.
„Wie bist Du ... ? Hör zu, Titus. Wie Du selbst sagst, wir brauchen uns gegenseitig. Ich hatte einfach nur Angst, es war ein Fehler. Das ist doch menschlich! Tut mir wirklich leid, kommt kein zweites Mal vor. Und wenn Du mich jetzt einfach so kaltmachst, musst Du Dir immer noch eine gute Ausrede einfallen lassen. Du weißt, in wenigen Wochen trifft das Schwesterschiff ein.“
Titus lachte kurz auf. „Weißt Du mein Freund, dass es überhaupt kein Schwesterschiff gibt? Und dass ich auch ganz ohne Dich wieder nach Hause komme? Schau' doch jetzt ganz einfach mal kurz auf Deinen Bauch!“
Leandro senkte den Kopf. In einer Zehntelsekunde spielte er alle möglichen Auswegvarianten durch, dann holte er einmal tief Atem, spannte seinen Körper wie eine Feder und setzte zum Sprung an.
Der kam zu spät: schon im nächsten Augenblick sah Leando sein letztes Bild, als ihn ein blauer Strahl jäh in zwei Teile trennte.

***​

Logeingabe 04-08-2053: Model 'Leandro' ebenfalls deaktiviert; Experimente somit abgeschlossen. Bestätigung der vorherigen Ergebnisse: alle Testmodelle weisen eher durchschnittliche Intelligenz auf, leider auch irrationales Vorgehen in Stresssituationen. Bei 'Leandro' zudem stark ausgeprägte Empathiestörung und paranoide Persönlichkeit, misstrauisch, leidet an Verschwörungswahn. Schon nach wenigen Tagen stellen sich extrem aggressive Verhaltungsmuster ein, für den Rest der Besatzung lebensbedrohlich.
Resultat: Negativ; für die geplanten Einsätze vollkommen untauglich.


Titus schaltete die Logeingabe wieder aus und seufzte erleichtert. Seine Aufgaben waren beendet. Hatte er auf der einen Seite alle Entladungsarbeiten erfolgreich ausgeführt und mehrere Tonnen Material in die neue Basisstation geschafft, war der zweite Teil der Mission ein ausgesprochener Reinfall. Zwar glaubten alle Modelle des neuen HUMSYC-Spitzenproduktes an ihre menschliche Natur, zumindest in ihrer isolierten Arbeitsumgebung, so wie man es für die zukünftigen Einsätze vorgesehen hatte. Dennoch waren die künstlichen Geschöpfe nicht einmal imstande, zu zweit problemlos wenige Tage allein miteinander auszukommen. An einen selbstständigen, permanenten Einsatz auf dem Mars war nicht im Traum zu denken.
Nach seiner Rückkehr würden nicht wenige versuchen, ihm die Schuld in die Schuhe zu schieben; vielleicht hätte er nicht die Fähigkeiten, um angemessen mit seinen biotronischen Untertanen umzugehen. Vor allem die wirklichen Auftraggeber der Mission, die Vetreter der Red & Yellow River Mining Corporation, würden viele unangenehme Fragen stellen, und nicht nur diese, und nicht nur ihm. Die Corporation benutzte schon seit 15 Jahren erfolgreich HUMSYCs und ähnliche technologische Vorgänger in ihren Minen, in denen zwischen allen möglichen Erfindungen modernster Robotertechnik immer weniger Menschen anzutreffen waren. Offensichtlich hatten sie zu viel Vertrauen in ihre japanische Partnerfirma und deren Hi-Tech-Labors gehabt. Auch die PAJOSpAg würde in Frage stellen, wohin die Millionen von Forschungsgeldern geflossen waren und zu welchem Nutzen, wenn die neuen HUMSYCs nicht nur wertlos waren, sondern für den Menschen sogar gefährlich werden konnten. Sollte man die Projektberichte und Testergebnisse der Japaner genauer lesen, würde jemand zugeben, dass diese zu einem gewissen Ausmaß fabriziert worden waren, um die Finanzierung der PAJOSpAg und der Corporation nicht zu verlieren? Gäbe es dann wieder irgendeine ofizielle Version, die die Verschwendung öffentlicher Gelder in den schönsten Sternenstaub malen würde?
Nur eins schien Titus sicher: die Corporation würde früher oder später ihre Ziele durchsetzen und sich ihre Vorrechte auf dem Mars sichern. Denn dazu waren sie ja in erster Hinsicht gekommen, Titus und die anderen fünf Besatzungsmitglieder, die seit Wochen die Basisstation mit den Materialien errichteten, die ihnen Titus Teil für Teil gebracht hatte. Noch zwei weitere Tage und sie wären alle wieder auf der Mayflower vereint, um die Heimreise vorzubereiten. Der letzte und schönste Abschnitt der Mission würde dann endlich beginnen: die Rückkehr zur Erde.

Titus war froh, nicht noch einen dieser merkwürdigen Kreaturen aus dem vorgetäuschten Kryo-Schlaf holen zu müssen. Auf menschliche Weise gesellig war keines der Testmodelle gewesen. War das letzte sogar gefährlich geworden, hatten sich die anderen in der Regel als neurotisch erwiesen; auch das eher mechanische Abspulen eingespeicherter Erinnerungen war für den Menschen kein unterhaltsamer Zeitvertreib. Noch verdrießlicher war es für Titus, seine Mahlzeiten heimlich und versteckt in seiner Kabine zu sich nehmen zu müssen, gewöhnlich eine gute Stunde nachdem die vermeintlichen Ernährungsersatzpillen seine künstlichen Gefährten für etwa acht Stunden in ihren 'Schlafzustand' versetzt hatten. Nein! - Auf der Rückreise würde er jeden Tag mit den anderen auf dem Brückenstand speisen.
Dann dachte er an die letzte Mahlzeit, mit der sich die Crew von Mars verabschieden würde. Ein paar Flaschen von seinem Lieblings-Château hatte er sich vor Monaten eigens für den Tag des Heimflugs bestellt. Wildbraten sollte doch recht gut dazu passen.
 

Tula

Mitglied
Leandro

Leandro stand an einer der Aussichtsluken des Brückenstands und beäugte die öde Marslandschaft, die sich im Halbdunkel bis an die nahegelegenen Hügel erstreckte. Wie erwartet von Titus keine Spur; alles lief wie geplant. Der würde wie gewöhnlich erst in etwa zwei Stunden zurückkommen und dann vergeblich versuchen, sich auf die übliche Weise Zugang in das Schiff zu verschaffen. Denn Leandro hatte dieses vor Minuten sicher verschlossen; es war jetzt unmöglich, von außen irgendeinen seiner Einstiege ohne direkte Mithilfe von innen zu öffnen.
Die Gefahr, die von seinem Gegner ausging, war also gebannt; Leandro war in Sicherheit. Er sann darüber nach, wie lange man es wohl als Android dort draußen in der eisigen Kälte der Marsnacht aushalten könnte. Eigentlich war das unwesentlich, fand er; selbst wenn Titus die ersten Nächte überstehen sollte, sein Ende war auf die Dauer unausweichlich; und auf dieses konnte Leandro jetzt in aller Ruhe warten. Die Mayflower-II gab ihm schließlich alles, was er brauchte, um sich für mehrere Monate am Leben zu erhalten, auch wenn das Schiff ohne Besatzung nicht raumflugfähig war. Diese Zeitspanne war ausreichend, denn das zweite Schiff der Expedition war ja bereits unterwegs, um den Aufbau der Basisstation weiterzuführen.

Leandro überlegte, nach welchen Parametern er seine maximale Überlebenszeit berechnen könnte und beschloss, am nächsten Morgen eine präzise Inventur aller Vorräte als auch eine Bestandsaufnahme der Ersatzteile und Zufuhrstoffe aller lebenserhaltenden Systeme durchzuführen. Nach einer ersten Hochschätzung dürfte das Raumschiff mehrere Jahre lang in seinem gegenwärtigen Betriebszustand funktionstüchtig bleiben; was den Nahrungsvorrat anging, kalkulierte er, dass sie für einen einzigen Menschen jetzt ohne Mühe vier Jahre reichen müssten, extra Vorräte als Kontingenzmaßnahme nicht einmal mit einbezogen.
Offensichtlich hatte man bei der Strategie, mehrere kleinere Schiffe und Besatzungen einzusetzen, aus der ersten, tragischen Erfahrung Lehren gezogen. Damals, im Sommer 2047, war er gerade 12 Jahre alt gewesen und verfolge wie die gesamte Menschheit die erste Expedition mit einer Besatzung von acht Astronauten, die eine erste Basisstation auf dem roten Planeten errichten sollte. Leider wurde die Mission von einer technischen Panne nach der anderen heimgesucht. Nach einer Art Bruchlandung kämpfte die Besatzung um die Erhaltung der kritischen Systeme. Aufgrund der Beschädigung mehrerer Solarflügel stand weniger als ein Drittel der erwarteten Energie zur Verfügung. Trotz dieser Einschränkung liefen die Arbeiten an der Basisstation mit großen Schwierigkeiten an. Die technischen Ausfälle häuften sich: irgendwann fiel zeitweise die Lufterneuerung im Schiff aus, dann war es die Steuerung der Antennen, schließlich traf es das wichtigste aller Systeme: ein Kurzschluss in der Klimatisierung der Vorratsräume führte zu einem Brand mit erheblichen Schäden, der mit einem Schlag mehr als drei Viertel der Lebensmittel vernichtete.
Die Nachricht lief wie eine Schockwelle über die Erde: die Besatzung hatte plötzlich nur noch für drei Wochen Vorräte, viel zu wenig, um erfolgreich eine Rettungsmission zu starten. Alle Varianten wurden damals durchgespielt, die Mindestenergie pro Besatzungsmitglied neu ermittelt, ausgeklügelte Überlebensstrategien jedweder Art in Erwägung gezogen. Doch alles umsonst, es fehlten Monate, um der Mannschaft noch rechtzeitig zu Hilfe zu eilen. Die Katastrophe war unvermeidlich.
Das Schicksal der Mission faszinierte Leandro auf magische Weise für den Rest seines Lebens: er wollte Astronaut werden! Einen typischen Berufsweg gab es nicht dafür, schon gar nicht in seiner chilenischen Heimat. Leandro studierte mehrere Naturwissenschaften und spezialisierte sich danach auf den Gebieten der Raumfahrtmedizin und primitiver Biologie. Er bewarb sich hartnäckig mehrere Male bei bekannten, hauptsächlich chinesischen, Forschungslabors und Unternehmen, bis er eines Tages sein Ziel erreichte: seine persönliche Beteiligung an der Mayflower-II Mission, welche von der Pacific Joint Space Agency (PAJOSpAg) und seinen bedeutendsten Mitgliedsländern China, Japan und den USA mit größter Diskretion über mehr als ein Jahrzehnt vorbereitet wurde. Leandro war einer der allerersten Mitarbeiter; die Einladung für die direkte Teilnahme am Flug kam jedoch völlig unverhofft erst vor drei Jahren.

Leandro wurde unvermittelt von der Signalleuchte und der mit ihr verbundenen Sirene aus seinen Gedanken gerissen. Titus war eingetroffen und verlangte Kommunikation mit der Brücke! Das Flackern und schrille Heulen dauerte eine geraume Zeit, um nach einer Pause von mehreren Minuten erneut zu erwachen. Rrruungh, rruungh ... lärmte die Sirene. Anscheinend war Titus in der Zwischenzeit um das Schiff gelaufen, um alle möglichen Luken und Einstiege zu überprüfen.
Leandro zögerte eine Weile. Eine Auseinandersetzung mit Titus würde nichts an der gegenwärtigen Lage ändern und selbst die unablässig laufende Notsignalanlage störte ihn nicht unbedingt. Unter Umständen aber, dachte er sich, könnte er sich über Titus' Zustand ein klareres Bild machen und seine nächsten Schritte im voraus durchschauen. Wobei diese andererseits ohnehin wenig Einfluss auf das Schicksal Titus' haben dürften.
Am Ende siegte die Einsicht, dass der Besitz von mehr Information immer ein kleiner Vorteil wäre:
„Mayflower-II, Brückenkommandant Leandro. Kommen.“
„Brückenkommandant Titus! Leandro, lass die Spielchen und öffne bitte die Hauptluke.“
„Das ist mir aus Sicherheitsgründen leider nicht möglich.“
„Wie bitte? Welche Gründe sind das denn?“
„Du bist eine Bedrohung für die physische Integrität der noch lebenden Besatzung. Wie Du jeden Tag selbst hervorhebst, die Sicherung des Überlebens steht momentan an erster Stelle.“
„Bist Du jetzt total durchgeknallt?“ dröhnte es durch den Brückenstand. „Es geht doch wohl um unser Überleben, nicht nur Deins! Und ich habe Dir erst heute morgen nochmals klargemacht, dass wir uns beide gegenseitig brauchen, um durchzuhalten. Alles andere ist jetzt erstmal nebensächlich.“
Leandro schwieg; er wusste nur zu gut, dass sich sein Gegner verstellte; dieser kannte alle Systeme an Bord auswendig und wäre in der Lage, sich aus jeder technischen Notsituation selbst herauszuziehen. Titus würde ihn bei der erstbesten Gelegenheit beseitigen.
„Leandro! Wir haben jeder für sich allein kaum eine Chance. Das Schiff wurde für eine Besatzung von vier entworfen, um es auf Dauer zu bedienen und zu warten. Wir hatten schon zu dritt ein Problem, zu zweit wird es schwer genug, allein wirst Du bei der nächsten Havarie irgendeines Versorgungssystems verrecken. Du bist kein Ingenieur, Mann, sondern unser Arzt! Und als solcher bin ich auch auf Dich angewiesen. Begreif das endlich!“
Leandro konnte sich von diesen Rechtfertigungen, welche er seit seinem ersten Tag an Bord über sich ergehen lassen musste, nicht wirklich überzeugen. „Ich kenne die Wartungs- und Benutzungshandbücher aller Systeme mittlerweile auswendig. Ausserdem ist die Wahrscheinlichkeit eines lebensbedrohlichen Ausfalls geringer als die eines Anschlags auf mein Leben. Ich weiß genau, was Du mit mir vorhast.“
Titus' Stimme verzerrte sich jetzt: „Was Du Dir da einredest, ist totaler Schwachsinn. Selbst Lu hätte Dir kein Haar gekrümmt; sie war nicht darauf programmiert. Ich will mich auch nicht an Dir rächen; was passiert ist, ist passiert, es war ein Unfall. Als solchen habe ich ihn auch berichtet. Also mach jetzt bitte auf, mein Sauerstoff reicht kaum fü..“

Leandro schaltete den Kanal unvermittelt wieder ab; er würde von Titus nicht mehr zu hören bekommen, als die sich stetig wiederholenden Argumente, welche im Grunde darauf abzielten, ihn zu täuschen. Was Titus in seine täglichen Berichte schrieb, war ihm unbekannt und als Aufzeichnungen auch nicht zugänglich. Zum einen müsste Leandro dazu irgendwie die Tür zu Titus' Kabine aufbrechen; zum anderen kannte nur Titus den Sicherheitscode für die Logapplikation der Mission.
Überraschenderweise verstummte das Signalsystem nach einer kurzen Weile. Titus hatte wohl eingesehen, dass er auf diese Weise seinen Kontrahenten nicht erweichen könne. Leandro indessen versuchte, sich abzulenken und bereitete sich für die Nacht vor. Er entschied sich, heute nicht in seiner Kabine zu schlafen, sondern für den Fall der Fälle auf dem Brückenstand zu verbleiben. Immerhin war es seine erste Nacht als neuer Kommandant. Sein Abendbrot nahm er zur gewohnten Stunde; eine tägliche Routine und im Handumdrehen erledigt, denn es bestand aus nicht mehr als einer einzigen Pille. Über diesen Umstand konnte man sich nicht beklagen. Man hatte die Pillen schließlich extra für die neue Mission erfunden, um das Risiko eines erneuten Hungerdramas entscheidend zu verringern. Ähnlich wie beim Militär bekamen alle einmal pro Tag eine komprimierte Kalorienbombe, die dann im Verlauf von 24 Stunden langsam vom Körper absorbiert wurde, ohne dass der Mensch in plötzliche Hungergefühle verfiele. Eine langweilige, aber doch geniale Lösung.
Kurz darauf löschte Leandro das Licht auf der Brücke bis auf die punktartigen Lampen, die in drei Reihen den Raum durchzogen: Nachtdienstbeleuchtung. Als er schweigend im Sessel des Kommandanten saß und noch einmal die Ereignisse des Tages durchging, erinnerte er sich unwillkürlich an die letzten Worte Titus': 'Sie war nicht darauf programmiert.' Titus hatte sich damit endgültig verraten; er wusste um Lu's wahre Natur und musste folgerichtig wie sie Teil eines Planes sein. Doch welcher genau? Und wessen?
Wieder verfiel er in Erinnerungen der letzten zwei Wochen. Schon vom ersten Tag an war er von Titus und Lu nicht als gleichberechtigtes Mitglied der Besatzung behandelt worden. Als sie ihn aus dem Kryo-Schlaf holten, teilten sie ihm mit, dass bei der Landung sowohl die Triebwerke als auch das kryogenische System schwer beschädigt worden waren. Er war der einzige, bei dem wie durch ein Wunder die Temperatur noch nicht den kritischen Schwellwert überschritten hatte. Weniger als eine Minute später und er läge mit den anderen Kadavern im 'Kühlschrank', wie sie es nannten.
Die Mission befand sich deshalb in einer Art Ausnahmezustand. Die Aufgabe bestand nicht mehr vorrangig im Projekt der Basisstation, auch wenn Titus jeden Tag einen Teil der im Schiff verstauten Ladung, Kisten jeder Abmessung und Gewichtes, mit dem 'Schlitten', wie er sein Fahrzeug gern nannte, dorthin brachte. Nein, sie bestand nach Titus' täglichen Erläuterungen jetzt hauptsächlich im Überleben bis zum Eintreffen des bereits gestarteten Schwesterschiffs, mit der zweiten Gruppe der Mission, innerhalb von drei Monaten. Titus hatte das Generalkommando inne, Lu war zweiter Offizier und Titus' Vertretung in seiner Abwesenheit, während Leandro in seiner Hauptfunktion als Arzt den anderen beiden unterstellt war. Immerhin bedurfte es bei solch einer kleinen Besatzung auch seiner Hilfe bei allen möglichen Tätigkeiten an Bord.

Vor allem sein Verhältnis zu Lu basierte von Anfang an auf gegenseitigem Misstrauen. Das lag vor allem an ihr: Sie versuchte mit allen Mitteln vom ersten Tag an zu verhindern, dass Leandro Titus irgendwie zu nah kommen könnte, und wenn, dann nur in ihrem Beisein. Hatte sie irgendeine Aufgabe in ihrem Tagesplan zu erfüllen, erteilte sie Leandro sofort eine andere, die ihn zwangsläufig isolieren würde. Waren sie alle drei zusammen, beobachtete sie Leandro bei jedem Atemzug aus ihren Augenwinkeln, unterbrach ihn bei jedem Wort und setzte immer wieder darauf, an der pflichtgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben zu zweifeln. „Leandro, hatten wir Dich nicht darum gebeten, die Solarenergiespeicher zu warten? Die sind schon wieder auf 35 Prozent runter! Hast Du gemacht? Ach was, das scheint mir gar nicht so, ich muss Dir die Sache wohl noch einmal vorführen“ usw. usf.
Der Konflikt eskalierte vor zwei Tagen, als Leandro's Bosonzähler auf unerklärliche Weise verschwand. Dieses auf Quantenmechanik basierende Werkzeug wurde bei fast allen Wartungsarbeiten als universelles Prüfgerät verwendet und gerade an jenem Tag könnte Leando ohne dieses nicht die Aufgabe erfüllen, die ihm Titus aufgetragen hatte: die Durchsicht des gravitativen Ausgleichsgenerators.
Leandro hatte nicht den geringsten Zweifel, dass er sein Werkzeug nicht unachtsam irgendwo liegen gelassen hatte; jemand hatte es sich absichtlich angeeignet und verborgen! Es bedurfte keiner schwierigen Überlegung, um herauszufinden, dass Lu dahinter steckte. Titus war wie jeden Morgen um 09:00 Uhr Bordzeit aufgebrochen, um weitere Ladung zur Basisstation zu schaffen. Erst wenige Minuten später hatte sich Leandro seine Arbeitsutensilien geholt und sich dabei peinlich genau vergewissert, dass diese auch vollständig waren. Leandro rekonstruierte für sich jeden seiner Schritte der letzten Stunden und deduzierte mit absoluter Sicherheit, dass sich Lu nur in jenem Moment des Bosonzählers bemächtigen konnte, als er an einem der Akkus arbeitete, welche außerhalb des Schiffs direkt an den Solarflügeln montiert waren.
Was Lu im Detail bezweckte, war nicht ohne weiteres eindeutig. Dennoch begriff Leandro, dass Lu auf Dauer eine Bedrohung für ihn darstellte. Er würde ihr zuvorkommen müssen.
Wenige Minuten später hatte er einen der Akkus demontiert und auf den kontronischen Levitator geladen. „Lu, ich brauche Deine Hilfe“ forderte er über den Bordfunk. „Komm bitte in die Ladeluke; ich kann einen der Akkus nur dort reparieren.“
Sie erschien erst nach einer geraumen Zeit und beklagte sich, nicht unerwartet, dass Leandro wieder einmal nicht in der Lage war, seine Tätigkeiten ohne ihre Unterstützung selbstständig zu erledigen.
„Das geht schnell“ gab er zurück und schwenkte langsam den Akku in die Luke. „Zeig' mir nur genau, wo das Ding hin muss, damit ich ihn auch korrekt zur technischen Überprüfung an das Testsystem anschließen kann“ rief er, als ob er die Position nicht genau kannte.
„Weiter in die Mitte nach rechts, nach rechts, Du Idiot!“ hallte es aus der Luke zurück. Viel Platz gab es dort nicht; der innere Ausgang zum Schiff befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Ladeluke. Es fiel Leandro nicht schwer, Lu diesen Weg zu versperren und sie genau zwischen den Akku und die Wand zu locken. Mit einem plötzlichen Manöver schwenkte er den Arm des Levitators und drückte die völlig überraschte Lu mit dem Akku gegen einen der Träger in der Bordwand. „Zurück na reecch..“ kreischte sie noch einmal vergeblich, dann verstummte Lu für immer.

Nach dem Eintreffen Titus' unterrichtete Leandro ihn sofort über den Unfall. Der Kommandant stürzte unversehens in die Ladeluke und verharrte verwirrt vor dem Akku und dem hinter ihm leblos hervorhängenden Arm. Seine nächste Reaktion war erstaunlich beherrscht; er bediente selbst den Levitator, um Lu freizugeben, und zog ihren Leichnam hervor.
„Ich habe nur strikt ihren Anweisungen gefolgt“ entschuldigte sich Leandro. „Augenscheinlich hat sie rechts mit links verwechselt, ich konnte doch nicht ahnen ...“
Titus erwähnte kein Wort, blickte nur kurz vorwurfsvoll auf Leandro und dann wieder auf Lu, als wäre er irgendwie verlegen. Dann begriff Leandro: aus Lu's zerquetschtem Leib drängte sich ein Knäul von synthetischen Geweben und Bauteilen, die nichts mit einem menschlichen Körper zu tun hatten. Vor ihnen lagen die Reste eines HUMSYC, ein Android, ein biotronischer Schrotthaufen. Er war verblüfft, denn nach seiner Kenntnis waren HUMSYCs relativ primitive und vom Menschen leicht zu unterscheidene künstliche Geschöpfe, willenlose und vor allem wenig intelligente Sklaven.
„Du wusstest, dass Lu …?“ - Titus erwiderte noch immer nichts. Er schien nach Antworten zu suchen, genauso wie Leandro: warum hatte man in so eine kleine Besatzung einen HUMSYC eingeschleust? Darin bestand kein offenbarer Vorteil. Und warum hatte ihn Titus nicht eingeweiht? Hatte von Lu's Natur Kenntnis gehabt?
Allmählich stieg eine dunkle Ahnung auf: Wenn Titus nichts gewusst hatte, dann müsste der doch selbst ein HUMSYC sein! Oder andersherum: Wenn er es gewusst hatte und Leandro dennoch nicht von diesem Umstand unterrichtete, dann musste es Titus ebenfalls und mit Lu gewissermaßen verbündet sein. Ihre feindselige Haltung Leandro gegenüber erschien nun in einem anderen Licht, wahrscheinlich versuchten beide, Ihn unter Kontrolle zu halten. Doch zu welchem besonderen Zweck?

Als der Schlaf bei dieser immer wieder aus seinem Innern empordrängenden Frage langsam aber stetig in ihn zu kriechen schien, schreckte Leandro unversehens auf. Ein merkwürdiges Geräusch hatte für einen kurzen Augenblick das monotone Summen aus den Schaltschränken übertönt. Leandro horchte gespannt. Mehrere Sekunden. Stille. Da wieder! Ein metallenes Ächzen, wie ein im Sonnenwind kämpfender Raumfrachter, jedoch in kurzen Intervallen. Sicherlich war es Titus, der sich verzweifelt abmühte, auf irgendeine Weise doch noch an Bord zu gelangen; wahrscheinlich machte er sich gewaltsam an einer der Luken zu schaffen. Nach kurzer Reflexion beruhigte sich Leandro wieder: die Mayflower war für den Raumflug gebaut worden. Selbst mit einer Ladung herkömmlichen Sprengstoffs könnte man die Luken nicht ohne weiteres aufreißen; jeder Versuch, sie mit speziellen Werkzeugen aufzubohren oder zu schneiden war mehr oder weniger aussichtslos. Das Material war härter und widerstandsfähiger als Diamant.
Leandro horchte mit aller Anstrengung mehrere Minuten lang. Das Geräusch kehrte nicht wieder zurück. Er fragte sich irgendwann, was Titus mit ihm anstellen würde, wenn er doch ins Schiff gelänge. Seit jenem verhängnisvollen Tag waren sie sich gegenseitig wie zwei feindlich gesinnte Raubtiere ausgewichen, jeder auf den ersten Fehler des anderen bedacht. Titus hatte ihn noch gebeten, seinen Bosonzähler zu holen, als wolle er noch irgendetwas an Lu herummessen. Als Leandro zurückkehrte, hatte Titus Lu's Überreste bereits entsorgt und ihm ohne eine weitere Erklärung das Werkzeug aus der Hand genommen.
„Sieh' zu, dass der Akku wieder in Ordnung kommt. Über den Rest reden wir später.“ Dann verschwand der Kommandant für mehrere Stunden in seiner Kammer. Als er wieder auftauchte, machte er einen entschlossenen Eindruck, rief Leandro zu sich und erklärte ihm eindringlich die Tagesplanung zu zweit und dass er absolute Disziplin verlangte, um das endgültige Scheitern der Mission zu verhindern.

Natürlich schindete Titus nur Zeit und suchte nach einem Plan, Leandro zu beseitigen. Die offensichtlichste Variante war die, seinen Gegner im Schlaf zu töten. Leandro selbst konnte dafür nicht in Titus' Kabine, die war absolut gesichert, wobei Titus als Android ohnehin keinen Schlaf brauchte. Gegen diesen zu kämpfen war für Leando aussichtslos; als ihn die Müdigkeit an den letzten beiden Abenden zur gewohnten Zeit unwiderstehlich zu überfallen drohte, versteckte sich Leandro in einem der Belüftungsschächte. Glücklicherweise fand ihn Titus dort nicht. Nur als Leandro morgens wieder auf der Brücke erschien, fragte ihn Titus mit einem bedeutungslosen Lächeln, ob er auch gut geschlafen hätte.
In Wirklichkeit beobachte Titus ihn argwöhnisch auf Schritt und Schritt; wartete nur auf den geeigneten Augenblick, seinen Plan der Rache in die Tat umzusetzen. Leandro ließ sich nichts anmerken, grübelte aber unablässig, wie er Titus zuvorkommen könne.

Dann beging Titus einen entscheidenden Fehler: „Leandro, morgen werde ich wieder zur Basisstation fahren. Du bleibst vorläufig zur Sicherung des Schiffes auf der Brücke.“
Leandro stutzte: auch wenn Titus bis zu dem Vorfall mit Lu jeden Tag allein zur Basisstation gefahren war, müsste er unter den gegebenen Umständen Leandro mitnehmen, um ihn im Auge zu behalten. Immerhin war es nicht strikt notwendig, dass jemand auf dem Schiff verbliebe. Wenn Titus trotzdem darauf bestand, sich allein zur Station zu begeben, dann vielleicht um sich irgendetwas für ihn Wichtiges zu besorgen. Was dies auch immer war, es gehörte zu Titus' dunklen Plänen. In diesem Augenblick zündete Leandro der Gedanke: er bräuchte doch nur das Schiff zu verriegeln, so dass Titus ... Das war einfacher gesagt als getan: als Kommandant hatte Titus mehrere Geheimcodes, die für das Öffnen der Luken benutzt wurden. Darauf schien sich Titus zu verlassen. Doch man könnte vielleicht irgendwie ... ja natürlich! Man könnte das Sicherheitssystem soweit beschädigen, dass die Luken nur noch von innen von der Hand zu bedienen wären.

Die nächsten Sekunden drosselten Leandro's Gedanken bis zum Stillstand. Zunächst erfasste er nicht, was geschehen war. Er saß wie vorher im nur spärlich erleuchteten Brückenstand und doch ... nach einem kurzen Flackern und Klicken war das monotone Summen der Schaltschränke leiser geworden, die Lichter weniger. Endlich verstand er: das Energiesystem hatte sich auf Notversorgung umgeschaltet! Oder war von jemandem umgeschaltet worden. Er konzentrierte sich mit aller Anstrengung: Nein, er hatte den Zugang von außen für alle Luken unmöglich gemacht. Schwer war ihm das letztendlich nicht gefallen. Das Bedienungspad war mit demselben Material wie das gesamte Schiff geschützt, d.h. mit einer Platte bekleidet, welche man nur mit einer Art Laserschlüssel öffnen konnte. Einen hatte Leandro selbst und einen persönlichen Code für jede Luke. Einmal geöffnet, hatte er die Bedienungsfelder und deren Sensoreinheiten zertrümmert und sich danach vergewissert, dass jede Luke nur noch mechanisch zu betätigen war. So hatte er eine nach der anderen von innen verschlossen, wie in einer besetzten Festung.
Er grübelte, welche anderen Ursachen für den Zwischenfall verantwortlich sein könnten. Um die Solarbatterien zu überprüfen, müsste er das Schiff verlassen. Ihm dämmerte, dass sie Titus womöglich schon vor Stunden außer Betrieb gesetzt hatte. Waren die Batterien im Schiff unter einen kritischen Wert gesunken, würden sie sich den Strom von den Akkus draußen holen. An diese Einzelheit hatte er in der Tat nicht gedacht! Doch nach einigen Erwägungen beruhigte er sich erneut: weiteren Schaden konnte Titus eigentlich nicht anstellen. Leandro war noch immer in Sicherheit; er musste jetzt nur mit dem Notsystem auskommen, einige Tage würde es sicherlich funktionieren. Er war nach wie vor mit allen lebensnotwendigen Dingen ausgestattet.

„Meinst Du wirklich, ich hätte nicht vorgesorgt und mir einen Eingang offen gehalten?“
Leandro fuhr herum. Wenige Meter vor ihm nahm er im Halbdunkel einen Schatten wahr. Titus! Leandro starrte auf die Gestalt und das Werkzeug in seiner rechten Hand. Die Kontrolllämpchen ließen wenig Zweifel: Der Laserschneider war eins der wichtigsten Werkzeuge für den Aufbau der Basisstation, bis zu einer Entfernung von zwanzig Metern aber auch eine absolut tödliche Waffe.
„Wie bist Du ... ? Hör zu, Titus. Wie Du selbst sagst, wir brauchen uns gegenseitig. Ich hatte einfach nur Angst, es war ein Fehler. Das ist doch menschlich! Tut mir wirklich leid, kommt kein zweites Mal vor. Und wenn Du mich jetzt einfach so kaltmachst, musst Du Dir immer noch eine gute Ausrede einfallen lassen. Du weißt, in wenigen Wochen trifft das Schwesterschiff ein.“
Titus lachte kurz auf. „Weißt Du mein Freund, dass es überhaupt kein Schwesterschiff gibt? Und dass ich auch ganz ohne Dich wieder nach Hause komme? Schau' doch jetzt ganz einfach mal kurz auf Deinen Bauch!“
Leandro senkte den Kopf. In einer Zehntelsekunde spielte er alle möglichen Auswegvarianten durch, dann holte er einmal tief Atem, spannte seinen Körper wie eine Feder und setzte zum Sprung an.
Der kam zu spät: schon im nächsten Augenblick sah Leando sein letztes Bild, als ihn ein blauer Strahl jäh in zwei Teile trennte.
***​
Logeingabe 04-08-2053: Model 'Leandro' ebenfalls deaktiviert; Experimente somit abgeschlossen. Bestätigung der vorherigen Ergebnisse: alle Testmodelle weisen eher durchschnittliche Intelligenz auf, leider auch irrationales Vorgehen in Stresssituationen. Bei 'Leandro' zudem stark ausgeprägte Empathiestörung und paranoide Persönlichkeit, misstrauisch, leidet an Verschwörungswahn. Schon nach wenigen Tagen stellen sich extrem aggressive Verhaltungsmuster ein, für den Rest der Besatzung lebensbedrohlich.
Resultat: Negativ; für die geplanten Einsätze vollkommen untauglich.


Titus schaltete die Logeingabe wieder aus und seufzte erleichtert. Seine Aufgaben waren beendet. Hatte er auf der einen Seite alle Entladungsarbeiten erfolgreich ausgeführt und mehrere Tonnen Material in die neue Basisstation geschafft, war der zweite Teil der Mission ein ausgesprochener Reinfall. Zwar glaubten alle Modelle des neuen HUMSYC-Spitzenproduktes an ihre menschliche Natur, zumindest in ihrer isolierten Arbeitsumgebung, so wie man es für die zukünftigen Einsätze vorgesehen hatte. Dennoch waren die künstlichen Geschöpfe nicht einmal imstande, zu zweit problemlos wenige Tage allein miteinander auszukommen. An einen selbstständigen, permanenten Einsatz auf dem Mars war nicht im Traum zu denken.
Nach seiner Rückkehr würden nicht wenige versuchen, ihm die Schuld in die Schuhe zu schieben; vielleicht hätte er nicht die Fähigkeiten, um angemessen mit seinen biotronischen Untertanen umzugehen. Vor allem die wirklichen Auftraggeber der Mission, die Vetreter der Red & Yellow River Mining Corporation, würden viele unangenehme Fragen stellen, und nicht nur diese, und nicht nur ihm. Die Corporation benutzte schon seit 15 Jahren erfolgreich HUMSYCs und ähnliche technologische Vorgänger in ihren Minen, in denen zwischen allen möglichen Erfindungen modernster Robotertechnik immer weniger Menschen anzutreffen waren. Offensichtlich hatten sie zu viel Vertrauen in ihre japanische Partnerfirma und deren Hi-Tech-Labors gehabt. Auch die PAJOSpAg würde in Frage stellen, wohin die Millionen von Forschungsgeldern geflossen waren und zu welchem Nutzen, wenn die neuen HUMSYCs nicht nur wertlos waren, sondern für den Menschen sogar gefährlich werden konnten. Sollte man die Projektberichte und Testergebnisse der Japaner genauer lesen, würde jemand zugeben, dass diese zu einem gewissen Ausmaß fabriziert worden waren, um die Finanzierung der PAJOSpAg und der Corporation nicht zu verlieren? Gäbe es dann wieder irgendeine ofizielle Version, die die Verschwendung öffentlicher Gelder in den schönsten Sternenstaub malen würde?
Nur eins schien Titus sicher: die Corporation würde früher oder später ihre Ziele durchsetzen und sich ihre Vorrechte auf dem Mars sichern. Denn dazu waren sie ja in erster Hinsicht gekommen, Titus und die anderen fünf Besatzungsmitglieder, die seit Wochen die Basisstation mit den Materialien errichteten, die ihnen Titus Teil für Teil gebracht hatte. Noch zwei weitere Tage und sie wären alle wieder auf der Mayflower vereint, um die Heimreise vorzubereiten. Der letzte und schönste Abschnitt der Mission würde dann endlich beginnen: die Rückkehr zur Erde.

Titus war froh, nicht noch einen dieser merkwürdigen Kreaturen aus dem vorgetäuschten Kryo-Schlaf holen zu müssen. Auf menschliche Weise gesellig war keines der Testmodelle gewesen. War das letzte sogar gefährlich geworden, hatten sich die anderen in der Regel als neurotisch erwiesen; auch das eher mechanische Abspulen eingespeicherter Erinnerungen war für den Menschen kein unterhaltsamer Zeitvertreib. Noch verdrießlicher war es für Titus, seine Mahlzeiten heimlich und versteckt in seiner Kabine zu sich nehmen zu müssen, gewöhnlich eine gute Stunde nachdem die vermeintlichen Ernährungsersatzpillen seine künstlichen Gefährten für etwa acht Stunden in ihren 'Schlafzustand' versetzt hatten. Nein! - Auf der Rückreise würde er jeden Tag mit den anderen auf dem Brückenstand speisen.
Dann dachte er an die letzte Mahlzeit, mit der sich die Crew von Mars verabschieden würde. Ein paar Flaschen von seinem Lieblings-Château hatte er sich vor Monaten eigens für den Tag des Heimflugs bestellt. Wildbraten sollte doch recht gut dazu passen.
 

Tula

Mitglied
Hallo

ich habe soeben die neue Version eingestellt. Die Änderungen sollen vor allem die hauptsächlichen Punkte der Kritik angehen:

1) Glaubwürdigkeit der Handlung, d.h. in erster Hinsicht der Alleinreise Titus', um auf dem Mars die Androids unter realen Bedingungen zu testen.

Die Auflösung kommt am Ende; Titus ist nicht allein; die anderen Besatzungsmitglieder bauen die Station auf, während Titus jeden Tag das Material dazu bringt.
Es wird auch erklärt, dass man die Androids bewusst in ihrer Isolierung testen wollte, also nicht als Teil der Besatzung, die die Station aufbaut. Denn sie sollen später ohne menschliche Mithilfe auf dem Mars arbeiten.

2) Die zu menschliche Darstellung Leandro's.

Ich habe etwas mehr Dialoge, Leandro wird 'berechnend' und weitgehend emotionslos dargestellt. Ich habe auch einige ironische Gedankengänge herausgenommen; auch Ironie ist menschlich und bedarf menschlicher, emotionaler Intelligenz.

Die Geschichte bleibt in ihrem Erzählton; kann sicherlich auch als etwas langweilig empfunden werden, schon weil ich, wie gesagt, Leandro keine emotionsgeladenen Gedanken oder gar Gefühle andichten wollte.
Die Handlung springt nach wie vor zwischen seinen Erinnerungen und dem momentanen Geschehen an Bord. Daran wollte ich nicht rütteln.

Also wer nochmal reinschauen möchte, würde mich über feedback freuen.

LG
Tula
 

Tula

Mitglied
Leandro

Leandro stand an einer der Aussichtsluken des Brückenstands und beäugte die öde Marslandschaft, die sich im Halbdunkel bis an die nahegelegenen Hügel erstreckte. Wie erwartet von Titus keine Spur; alles lief wie geplant. Der würde wie gewöhnlich erst in etwa zwei Stunden zurückkommen und dann vergeblich versuchen, sich auf die übliche Weise Zugang in das Schiff zu verschaffen. Denn Leandro hatte dieses vor Minuten sicher verschlossen; es war jetzt unmöglich, von außen irgendeinen seiner Einstiege ohne direkte Mithilfe von innen zu öffnen.
Die Gefahr, die von seinem Gegner ausging, war also gebannt; Leandro war in Sicherheit. Er sann darüber nach, wie lange man es wohl als Android dort draußen in der eisigen Kälte der Marsnacht aushalten könnte. Eigentlich war das unwesentlich, fand er; selbst wenn Titus die ersten Nächte überstehen sollte, sein Ende war auf die Dauer unausweichlich; und auf dieses konnte Leandro jetzt in aller Ruhe warten. Die Mayflower-II gab ihm schließlich alles, was er brauchte, um sich für mehrere Monate am Leben zu erhalten, auch wenn das Schiff ohne Besatzung nicht raumflugfähig war. Diese Zeitspanne war ausreichend, denn das zweite Schiff der Expedition war ja bereits unterwegs, um den Aufbau der Basisstation weiterzuführen.

Leandro überlegte, nach welchen Parametern er seine maximale Überlebenszeit berechnen könnte und beschloss, am nächsten Morgen eine präzise Inventur aller Vorräte als auch eine Bestandsaufnahme der Ersatzteile und Zufuhrstoffe aller lebenserhaltenden Systeme durchzuführen. Nach einer ersten Hochschätzung dürfte das Raumschiff mehrere Jahre lang in seinem gegenwärtigen Betriebszustand funktionstüchtig bleiben; was den Nahrungsvorrat anging, kalkulierte er, dass sie für einen einzigen Menschen jetzt ohne Mühe vier Jahre reichen müssten, extra Vorräte als Kontingenzmaßnahme nicht einmal mit einbezogen.
Offensichtlich hatte man bei der Strategie, mehrere kleinere Schiffe und Besatzungen einzusetzen, aus der ersten, tragischen Erfahrung Lehren gezogen. Damals, im Sommer 2047, war er gerade 12 Jahre alt gewesen und verfolge wie die gesamte Menschheit die erste Expedition mit einer Besatzung von acht Astronauten, die eine erste Basisstation auf dem roten Planeten errichten sollte. Leider wurde die Mission von einer technischen Panne nach der anderen heimgesucht. Nach einer Art Bruchlandung kämpfte die Besatzung um die Erhaltung der kritischen Systeme. Aufgrund der Beschädigung mehrerer Solarflügel stand weniger als ein Drittel der erwarteten Energie zur Verfügung. Trotz dieser Einschränkung liefen die Arbeiten an der Basisstation mit großen Schwierigkeiten an. Die technischen Ausfälle häuften sich: irgendwann fiel zeitweise die Lufterneuerung im Schiff aus, dann war es die Steuerung der Antennen, schließlich traf es das wichtigste aller Systeme: ein Kurzschluss in der Klimatisierung der Vorratsräume führte zu einem Brand mit erheblichen Schäden, der mit einem Schlag mehr als drei Viertel der Lebensmittel vernichtete.
Die Nachricht lief wie eine Schockwelle über die Erde: die Besatzung hatte plötzlich nur noch für drei Wochen Vorräte, viel zu wenig, um erfolgreich eine Rettungsmission zu starten. Alle Varianten wurden damals durchgespielt, die Mindestenergie pro Besatzungsmitglied neu ermittelt, ausgeklügelte Überlebensstrategien jedweder Art in Erwägung gezogen. Doch alles umsonst, es fehlten Monate, um der Mannschaft noch rechtzeitig zu Hilfe zu eilen. Die Katastrophe war unvermeidlich.
Das Schicksal der Mission faszinierte Leandro auf magische Weise für den Rest seines Lebens: er wollte Astronaut werden! Einen typischen Berufsweg gab es nicht dafür, schon gar nicht in seiner chilenischen Heimat. Leandro studierte mehrere Naturwissenschaften und spezialisierte sich danach auf den Gebieten der Raumfahrtmedizin und primitiver Biologie. Er bewarb sich hartnäckig mehrere Male bei bekannten, hauptsächlich chinesischen, Forschungslabors und Unternehmen, bis er eines Tages sein Ziel erreichte: seine persönliche Beteiligung an der Mayflower-II Mission, welche von der Pacific Joint Space Agency (PAJOSpAg) und seinen bedeutendsten Mitgliedsländern China, Japan und den USA mit größter Diskretion über mehr als ein Jahrzehnt vorbereitet wurde. Leandro war einer der allerersten Mitarbeiter; die Einladung für die direkte Teilnahme am Flug kam jedoch völlig unverhofft erst vor drei Jahren.

Leandro wurde unvermittelt von der Signalleuchte und der mit ihr verbundenen Sirene aus seinen Gedanken gerissen. Titus war eingetroffen und verlangte Kommunikation mit der Brücke! Das Flackern und schrille Heulen dauerte eine geraume Zeit, um nach einer Pause von mehreren Minuten erneut zu erwachen. Rrruungh, rruungh ... lärmte die Sirene. Anscheinend war Titus in der Zwischenzeit um das Schiff gelaufen, um alle möglichen Luken und Einstiege zu überprüfen.
Leandro zögerte eine Weile. Eine Auseinandersetzung mit Titus würde nichts an der gegenwärtigen Lage ändern und selbst die unablässig laufende Notsignalanlage störte ihn nicht unbedingt. Unter Umständen aber, dachte er sich, könnte er sich über Titus' Zustand ein klareres Bild machen und seine nächsten Schritte im voraus durchschauen. Wobei diese andererseits ohnehin wenig Einfluss auf das Schicksal Titus' haben dürften.
Am Ende siegte die Einsicht, dass der Besitz von mehr Information immer ein kleiner Vorteil wäre:
„Mayflower-II, Brückenkommandant Leandro. Kommen.“
„Brückenkommandant Titus! Leandro, lass die Spielchen und öffne bitte die Hauptluke.“
„Das ist mir aus Sicherheitsgründen leider nicht möglich.“
„Wie bitte? Welche Gründe sind das denn?“
„Du bist eine Bedrohung für die physische Integrität der noch lebenden Besatzung. Wie du jeden Tag selbst hervorhebst, die Sicherung des Überlebens steht momentan an erster Stelle.“
„Bist du jetzt total durchgeknallt?“ dröhnte es durch den Brückenstand. „Es geht doch wohl um unser Überleben, nicht nur deins! Und ich habe dir erst heute morgen nochmals klargemacht, dass wir uns beide gegenseitig brauchen, um durchzuhalten. Alles andere ist jetzt erstmal nebensächlich.“
Leandro schwieg; er wusste nur zu gut, dass sich sein Gegner verstellte; dieser kannte alle Systeme an Bord auswendig und wäre in der Lage, sich aus jeder technischen Notsituation selbst herauszuziehen. Titus würde ihn bei der erstbesten Gelegenheit beseitigen.
„Leandro! Wir haben jeder für sich allein kaum eine Chance. Das Schiff wurde für eine Besatzung von vier entworfen, um es auf Dauer zu bedienen und zu warten. Wir hatten schon zu dritt ein Problem, zu zweit wird es schwer genug, allein wirst du bei der nächsten Havarie irgendeines Versorgungssystems verrecken. Du bist kein Ingenieur, Mann, sondern unser Arzt! Und als solcher bin ich auch auf dich angewiesen. Begreif das endlich!“
Leandro konnte sich von diesen Rechtfertigungen, welche er seit seinem ersten Tag an Bord über sich ergehen lassen musste, nicht wirklich überzeugen. „Ich kenne die Wartungs- und Benutzungshandbücher aller Systeme mittlerweile auswendig. Ausserdem ist die Wahrscheinlichkeit eines lebensbedrohlichen Ausfalls geringer als die eines Anschlags auf mein Leben. Ich weiß genau, was du mit mir vorhast.“
Titus' Stimme verzerrte sich jetzt: „Was du dir da einredest, ist totaler Schwachsinn. Selbst Lu hätte dir kein Haar gekrümmt; sie war nicht darauf programmiert. Ich will mich auch nicht an dir rächen; was passiert ist, ist passiert, es war ein Unfall. Als solchen habe ich ihn auch berichtet. Also mach jetzt bitte auf, mein Sauerstoff reicht kaum fü..“

Leandro schaltete den Kanal unvermittelt wieder ab; er würde von Titus nicht mehr zu hören bekommen, als die sich stetig wiederholenden Argumente, welche im Grunde darauf abzielten, ihn zu täuschen. Was Titus in seine täglichen Berichte schrieb, war ihm unbekannt und als Aufzeichnungen auch nicht zugänglich. Zum einen müsste Leandro dazu irgendwie die Tür zu Titus' Kabine aufbrechen; zum anderen kannte nur Titus den Sicherheitscode für die Logapplikation der Mission.
Überraschenderweise verstummte das Signalsystem nach einer kurzen Weile. Titus hatte wohl eingesehen, dass er auf diese Weise seinen Kontrahenten nicht erweichen könne. Leandro indessen versuchte, sich abzulenken und bereitete sich für die Nacht vor. Er entschied sich, heute nicht in seiner Kabine zu schlafen, sondern für den Fall der Fälle auf dem Brückenstand zu verbleiben. Immerhin war es seine erste Nacht als neuer Kommandant. Sein Abendbrot nahm er zur gewohnten Stunde; eine tägliche Routine und im Handumdrehen erledigt, denn es bestand aus nicht mehr als einer einzigen Pille. Über diesen Umstand konnte man sich nicht beklagen. Man hatte die Pillen schließlich extra für die neue Mission erfunden, um das Risiko eines erneuten Hungerdramas entscheidend zu verringern. Ähnlich wie beim Militär bekamen alle einmal pro Tag eine komprimierte Kalorienbombe, die dann im Verlauf von 24 Stunden langsam vom Körper absorbiert wurde, ohne dass der Mensch in plötzliche Hungergefühle verfiele. Eine langweilige, aber doch geniale Lösung.
Kurz darauf löschte Leandro das Licht auf der Brücke bis auf die punktartigen Lampen, die in drei Reihen den Raum durchzogen: Nachtdienstbeleuchtung. Als er schweigend im Sessel des Kommandanten saß und noch einmal die Ereignisse des Tages durchging, erinnerte er sich unwillkürlich an die letzten Worte Titus': 'Sie war nicht darauf programmiert.' Titus hatte sich damit endgültig verraten; er wusste um Lu's wahre Natur und musste folgerichtig wie sie Teil eines Planes sein. Doch welcher genau? Und wessen?
Wieder verfiel er in Erinnerungen der letzten zwei Wochen. Schon vom ersten Tag an war er von Titus und Lu nicht als gleichberechtigtes Mitglied der Besatzung behandelt worden. Als sie ihn aus dem Kryo-Schlaf holten, teilten sie ihm mit, dass bei der Landung sowohl die Triebwerke als auch das kryogenische System schwer beschädigt worden waren. Er war der einzige, bei dem wie durch ein Wunder die Temperatur noch nicht den kritischen Schwellwert überschritten hatte. Weniger als eine Minute später und er läge mit den anderen Kadavern im 'Kühlschrank', wie sie es nannten.
Die Mission befand sich deshalb in einer Art Ausnahmezustand. Die Aufgabe bestand nicht mehr vorrangig im Projekt der Basisstation, auch wenn Titus jeden Tag einen Teil der im Schiff verstauten Ladung, Kisten jeder Abmessung und Gewichtes, mit dem 'Schlitten', wie er sein Fahrzeug gern nannte, dorthin brachte. Nein, sie bestand nach Titus' täglichen Erläuterungen jetzt hauptsächlich im Überleben bis zum Eintreffen des bereits gestarteten Schwesterschiffs, mit der zweiten Gruppe der Mission, innerhalb von drei Monaten. Titus hatte das Generalkommando inne, Lu war zweiter Offizier und Titus' Vertretung in seiner Abwesenheit, während Leandro in seiner Hauptfunktion als Arzt den anderen beiden unterstellt war. Immerhin bedurfte es bei solch einer kleinen Besatzung auch seiner Hilfe bei allen möglichen Tätigkeiten an Bord.

Vor allem sein Verhältnis zu Lu basierte von Anfang an auf gegenseitigem Misstrauen. Das lag vor allem an ihr: Sie versuchte mit allen Mitteln vom ersten Tag an zu verhindern, dass Leandro Titus irgendwie zu nah kommen könnte, und wenn, dann nur in ihrem Beisein. Hatte sie irgendeine Aufgabe in ihrem Tagesplan zu erfüllen, erteilte sie Leandro sofort eine andere, die ihn zwangsläufig isolieren würde. Waren sie alle drei zusammen, beobachtete sie Leandro bei jedem Atemzug aus ihren Augenwinkeln, unterbrach ihn bei jedem Wort und setzte immer wieder darauf, an der pflichtgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben zu zweifeln. „Leandro, hatten wir dich nicht darum gebeten, die Solarenergiespeicher zu warten? Die sind schon wieder auf 35 Prozent runter! Hast du gemacht? Ach was, das scheint mir gar nicht so, ich muss dir die Sache wohl noch einmal vorführen“ usw. usf.
Der Konflikt eskalierte vor zwei Tagen, als Leandro's Bosonzähler auf unerklärliche Weise verschwand. Dieses auf Quantenmechanik basierende Werkzeug wurde bei fast allen Wartungsarbeiten als universelles Prüfgerät verwendet und gerade an jenem Tag könnte Leando ohne dieses nicht die Aufgabe erfüllen, die ihm Titus aufgetragen hatte: die Durchsicht des gravitativen Ausgleichsgenerators.
Leandro hatte nicht den geringsten Zweifel, dass er sein Werkzeug nicht unachtsam irgendwo liegen gelassen hatte; jemand hatte es sich absichtlich angeeignet und verborgen! Es bedurfte keiner schwierigen Überlegung, um herauszufinden, dass Lu dahinter steckte. Titus war wie jeden Morgen um 09:00 Uhr Bordzeit aufgebrochen, um weitere Ladung zur Basisstation zu schaffen. Erst wenige Minuten später hatte sich Leandro seine Arbeitsutensilien geholt und sich dabei peinlich genau vergewissert, dass diese auch vollständig waren. Leandro rekonstruierte für sich jeden seiner Schritte der letzten Stunden und deduzierte mit absoluter Sicherheit, dass sich Lu nur in jenem Moment des Bosonzählers bemächtigen konnte, als er an einem der Akkus arbeitete, welche außerhalb des Schiffs direkt an den Solarflügeln montiert waren.
Was Lu im Detail bezweckte, war nicht ohne weiteres eindeutig. Dennoch begriff Leandro, dass Lu auf Dauer eine Bedrohung für ihn darstellte. Er würde ihr zuvorkommen müssen.
Wenige Minuten später hatte er einen der Akkus demontiert und auf den kontronischen Levitator geladen. „Lu, ich brauche deine Hilfe“ forderte er über den Bordfunk. „Komm bitte in die Ladeluke; ich kann einen der Akkus nur dort reparieren.“
Sie erschien erst nach einer geraumen Zeit und beklagte sich, nicht unerwartet, dass Leandro wieder einmal nicht in der Lage war, seine Tätigkeiten ohne ihre Unterstützung selbstständig zu erledigen.
„Das geht schnell“ gab er zurück und schwenkte langsam den Akku in die Luke. „Zeig' mir nur genau, wo das Ding hin muss, damit ich ihn auch korrekt zur technischen Überprüfung an das Testsystem anschließen kann“ rief er, als ob er die Position nicht genau kannte.
„Weiter in die Mitte nach rechts, nach rechts, du Idiot!“ hallte es aus der Luke zurück. Viel Platz gab es dort nicht; der innere Ausgang zum Schiff befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Ladeluke. Es fiel Leandro nicht schwer, Lu diesen Weg zu versperren und sie genau zwischen den Akku und die Wand zu locken. Mit einem plötzlichen Manöver schwenkte er den Arm des Levitators und drückte die völlig überraschte Lu mit dem Akku gegen einen der Träger in der Bordwand. „Zurück na reecch..“ kreischte sie noch einmal vergeblich, dann verstummte Lu für immer.

Nach dem Eintreffen Titus' unterrichtete Leandro ihn sofort über den Unfall. Der Kommandant stürzte unversehens in die Ladeluke und verharrte verwirrt vor dem Akku und dem hinter ihm leblos hervorhängenden Arm. Seine nächste Reaktion war erstaunlich beherrscht; er bediente selbst den Levitator, um Lu freizugeben, und zog ihren Leichnam hervor.
„Ich habe nur strikt ihren Anweisungen gefolgt“ entschuldigte sich Leandro. „Augenscheinlich hat sie rechts mit links verwechselt, ich konnte doch nicht ahnen ...“
Titus erwähnte kein Wort, blickte nur kurz vorwurfsvoll auf Leandro und dann wieder auf Lu, als wäre er irgendwie verlegen. Dann begriff Leandro: aus Lu's zerquetschtem Leib drängte sich ein Knäul von synthetischen Geweben und Bauteilen, die nichts mit einem menschlichen Körper zu tun hatten. Vor ihnen lagen die Reste eines HUMSYC, ein Android, ein biotronischer Schrotthaufen. Er war verblüfft, denn nach seiner Kenntnis waren HUMSYCs relativ primitive und vom Menschen leicht zu unterscheidene künstliche Geschöpfe, willenlose und vor allem wenig intelligente Sklaven.
„Du wusstest, dass Lu …?“ - Titus erwiderte noch immer nichts. Er schien nach Antworten zu suchen, genauso wie Leandro: warum hatte man in so eine kleine Besatzung einen HUMSYC eingeschleust? Darin bestand kein offenbarer Vorteil. Und warum hatte ihn Titus nicht eingeweiht? Hatte von Lu's Natur Kenntnis gehabt?
Allmählich stieg eine dunkle Ahnung auf: Wenn Titus nichts gewusst hatte, dann müsste der doch selbst ein HUMSYC sein! Oder andersherum: Wenn er es gewusst hatte und Leandro dennoch nicht von diesem Umstand unterrichtete, dann musste es Titus ebenfalls und mit Lu gewissermaßen verbündet sein. Ihre feindselige Haltung Leandro gegenüber erschien nun in einem anderen Licht, wahrscheinlich versuchten beide, Ihn unter Kontrolle zu halten. Doch zu welchem besonderen Zweck?

Als der Schlaf bei dieser immer wieder aus seinem Innern empordrängenden Frage langsam aber stetig in ihn zu kriechen schien, schreckte Leandro unversehens auf. Ein merkwürdiges Geräusch hatte für einen kurzen Augenblick das monotone Summen aus den Schaltschränken übertönt. Leandro horchte gespannt. Mehrere Sekunden. Stille. Da wieder! Ein metallenes Ächzen, wie ein im Sonnenwind kämpfender Raumfrachter, jedoch in kurzen Intervallen. Sicherlich war es Titus, der sich verzweifelt abmühte, auf irgendeine Weise doch noch an Bord zu gelangen; wahrscheinlich machte er sich gewaltsam an einer der Luken zu schaffen. Nach kurzer Reflexion beruhigte sich Leandro wieder: die Mayflower war für den Raumflug gebaut worden. Selbst mit einer Ladung herkömmlichen Sprengstoffs könnte man die Luken nicht ohne weiteres aufreißen; jeder Versuch, sie mit speziellen Werkzeugen aufzubohren oder zu schneiden war mehr oder weniger aussichtslos. Das Material war härter und widerstandsfähiger als Diamant.
Leandro horchte mit aller Anstrengung mehrere Minuten lang. Das Geräusch kehrte nicht wieder zurück. Er fragte sich irgendwann, was Titus mit ihm anstellen würde, wenn er doch ins Schiff gelänge. Seit jenem verhängnisvollen Tag waren sie sich gegenseitig wie zwei feindlich gesinnte Raubtiere ausgewichen, jeder auf den ersten Fehler des anderen bedacht. Titus hatte ihn noch gebeten, seinen Bosonzähler zu holen, als wolle er noch irgendetwas an Lu herummessen. Als Leandro zurückkehrte, hatte Titus Lu's Überreste bereits entsorgt und ihm ohne eine weitere Erklärung das Werkzeug aus der Hand genommen.
„Sieh' zu, dass der Akku wieder in Ordnung kommt. Über den Rest reden wir später.“ Dann verschwand der Kommandant für mehrere Stunden in seiner Kammer. Als er wieder auftauchte, machte er einen entschlossenen Eindruck, rief Leandro zu sich und erklärte ihm eindringlich die Tagesplanung zu zweit und dass er absolute Disziplin verlangte, um das endgültige Scheitern der Mission zu verhindern.

Natürlich schindete Titus nur Zeit und suchte nach einem Plan, Leandro zu beseitigen. Die offensichtlichste Variante war die, seinen Gegner im Schlaf zu töten. Leandro selbst konnte dafür nicht in Titus' Kabine, die war absolut gesichert, wobei Titus als Android ohnehin keinen Schlaf brauchte. Gegen diesen zu kämpfen war für Leando aussichtslos; als ihn die Müdigkeit an den letzten beiden Abenden zur gewohnten Zeit unwiderstehlich zu überfallen drohte, versteckte sich Leandro in einem der Belüftungsschächte. Glücklicherweise fand ihn Titus dort nicht. Nur als Leandro morgens wieder auf der Brücke erschien, fragte ihn Titus mit einem bedeutungslosen Lächeln, ob er auch gut geschlafen hätte.
In Wirklichkeit beobachte Titus ihn argwöhnisch auf Schritt und Schritt; wartete nur auf den geeigneten Augenblick, seinen Plan der Rache in die Tat umzusetzen. Leandro ließ sich nichts anmerken, grübelte aber unablässig, wie er Titus zuvorkommen könne.

Dann beging Titus einen entscheidenden Fehler: „Leandro, morgen werde ich wieder zur Basisstation fahren. Du bleibst vorläufig zur Sicherung des Schiffes auf der Brücke.“
Leandro stutzte: auch wenn Titus bis zu dem Vorfall mit Lu jeden Tag allein zur Basisstation gefahren war, müsste er unter den gegebenen Umständen Leandro mitnehmen, um ihn im Auge zu behalten. Immerhin war es nicht strikt notwendig, dass jemand auf dem Schiff verbliebe. Wenn Titus trotzdem darauf bestand, sich allein zur Station zu begeben, dann vielleicht um sich irgendetwas für ihn Wichtiges zu besorgen. Was dies auch immer war, es gehörte zu Titus' dunklen Plänen. In diesem Augenblick zündete Leandro der Gedanke: er bräuchte doch nur das Schiff zu verriegeln, so dass Titus ... Das war einfacher gesagt als getan: als Kommandant hatte Titus mehrere Geheimcodes, die für das Öffnen der Luken benutzt wurden. Darauf schien sich Titus zu verlassen. Doch man könnte vielleicht irgendwie ... ja natürlich! Man könnte das Sicherheitssystem soweit beschädigen, dass die Luken nur noch von innen von der Hand zu bedienen wären.

Die nächsten Sekunden drosselten Leandro's Gedanken bis zum Stillstand. Zunächst erfasste er nicht, was geschehen war. Er saß wie vorher im nur spärlich erleuchteten Brückenstand und doch ... nach einem kurzen Flackern und Klicken war das monotone Summen der Schaltschränke leiser geworden, die Lichter weniger. Endlich verstand er: das Energiesystem hatte sich auf Notversorgung umgeschaltet! Oder war von jemandem umgeschaltet worden. Er konzentrierte sich mit aller Anstrengung: Nein, er hatte den Zugang von außen für alle Luken unmöglich gemacht. Schwer war ihm das letztendlich nicht gefallen. Das Bedienungspad war mit demselben Material wie das gesamte Schiff geschützt, d.h. mit einer Platte bekleidet, welche man nur mit einer Art Laserschlüssel öffnen konnte. Einen hatte Leandro selbst und einen persönlichen Code für jede Luke. Einmal geöffnet, hatte er die Bedienungsfelder und deren Sensoreinheiten zertrümmert und sich danach vergewissert, dass jede Luke nur noch mechanisch zu betätigen war. So hatte er eine nach der anderen von innen verschlossen, wie in einer besetzten Festung.
Er grübelte, welche anderen Ursachen für den Zwischenfall verantwortlich sein könnten. Um die Solarbatterien zu überprüfen, müsste er das Schiff verlassen. Ihm dämmerte, dass sie Titus womöglich schon vor Stunden außer Betrieb gesetzt hatte. Waren die Batterien im Schiff unter einen kritischen Wert gesunken, würden sie sich den Strom von den Akkus draußen holen. An diese Einzelheit hatte er in der Tat nicht gedacht! Doch nach einigen Erwägungen beruhigte er sich erneut: weiteren Schaden konnte Titus eigentlich nicht anstellen. Leandro war noch immer in Sicherheit; er musste jetzt nur mit dem Notsystem auskommen, einige Tage würde es sicherlich funktionieren. Er war nach wie vor mit allen lebensnotwendigen Dingen ausgestattet.

„Meinst Du wirklich, ich hätte nicht vorgesorgt und mir einen Eingang offen gehalten?“
Leandro fuhr herum. Wenige Meter vor ihm nahm er im Halbdunkel einen Schatten wahr. Titus! Leandro starrte auf die Gestalt und das Werkzeug in seiner rechten Hand. Die Kontrolllämpchen ließen wenig Zweifel: Der Laserschneider war eins der wichtigsten Werkzeuge für den Aufbau der Basisstation, bis zu einer Entfernung von zwanzig Metern aber auch eine absolut tödliche Waffe.
„Wie bist du ... ? Hör zu, Titus. Wie du selbst sagst, wir brauchen uns gegenseitig. Ich hatte einfach nur Angst, es war ein Fehler. Das ist doch menschlich! Tut mir wirklich leid, kommt kein zweites Mal vor. Und wenn du mich jetzt einfach so kaltmachst, musst Du Dir immer noch eine gute Ausrede einfallen lassen. Du weißt, in wenigen Wochen trifft das Schwesterschiff ein.“
Titus lachte kurz auf. „Weißt Du mein Freund, dass es überhaupt kein Schwesterschiff gibt? Und dass ich auch ganz ohne dich wieder nach Hause komme? Schau' doch jetzt ganz einfach mal kurz auf Deinen Bauch!“
Leandro senkte den Kopf. In einer Zehntelsekunde spielte er alle möglichen Auswegvarianten durch, dann holte er einmal tief Atem, spannte seinen Körper wie eine Feder und setzte zum Sprung an.
Der kam zu spät: schon im nächsten Augenblick sah Leando sein letztes Bild, als ihn ein blauer Strahl jäh in zwei Teile trennte.
***​
Logeingabe 04-08-2053: Model 'Leandro' ebenfalls deaktiviert; Experimente somit abgeschlossen. Bestätigung der vorherigen Ergebnisse: alle Testmodelle weisen eher durchschnittliche Intelligenz auf, leider auch irrationales Vorgehen in Stresssituationen. Bei 'Leandro' zudem stark ausgeprägte Empathiestörung und paranoide Persönlichkeit, misstrauisch, leidet an Verschwörungswahn. Schon nach wenigen Tagen stellen sich extrem aggressive Verhaltungsmuster ein, für den Rest der Besatzung lebensbedrohlich.
Resultat: Negativ; für die geplanten Einsätze vollkommen untauglich.


Titus schaltete die Logeingabe wieder aus und seufzte erleichtert. Seine Aufgaben waren beendet. Hatte er auf der einen Seite alle Entladungsarbeiten erfolgreich ausgeführt und mehrere Tonnen Material in die neue Basisstation geschafft, war der zweite Teil der Mission ein ausgesprochener Reinfall. Zwar glaubten alle Modelle des neuen HUMSYC-Spitzenproduktes an ihre menschliche Natur, zumindest in ihrer isolierten Arbeitsumgebung, so wie man es für die zukünftigen Einsätze vorgesehen hatte. Dennoch waren die künstlichen Geschöpfe nicht einmal imstande, zu zweit problemlos wenige Tage allein miteinander auszukommen. An einen selbstständigen, permanenten Einsatz auf dem Mars war nicht im Traum zu denken.
Nach seiner Rückkehr würden nicht wenige versuchen, ihm die Schuld in die Schuhe zu schieben; vielleicht hätte er nicht die Fähigkeiten, um angemessen mit seinen biotronischen Untertanen umzugehen. Vor allem die wirklichen Auftraggeber der Mission, die Vetreter der Red & Yellow River Mining Corporation, würden viele unangenehme Fragen stellen, und nicht nur diese, und nicht nur ihm. Die Corporation benutzte schon seit 15 Jahren erfolgreich HUMSYCs und ähnliche technologische Vorgänger in ihren Minen, in denen zwischen allen möglichen Erfindungen modernster Robotertechnik immer weniger Menschen anzutreffen waren. Offensichtlich hatten sie zu viel Vertrauen in ihre japanische Partnerfirma und deren Hi-Tech-Labors gehabt. Auch die PAJOSpAg würde in Frage stellen, wohin die Millionen von Forschungsgeldern geflossen waren und zu welchem Nutzen, wenn die neuen HUMSYCs nicht nur wertlos waren, sondern für den Menschen sogar gefährlich werden konnten. Sollte man die Projektberichte und Testergebnisse der Japaner genauer lesen, würde jemand zugeben, dass diese zu einem gewissen Ausmaß fabriziert worden waren, um die Finanzierung der PAJOSpAg und der Corporation nicht zu verlieren? Gäbe es dann wieder irgendeine ofizielle Version, die die Verschwendung öffentlicher Gelder in den schönsten Sternenstaub malen würde?
Nur eins schien Titus sicher: die Corporation würde früher oder später ihre Ziele durchsetzen und sich ihre Vorrechte auf dem Mars sichern. Denn dazu waren sie ja in erster Hinsicht gekommen, Titus und die anderen fünf Besatzungsmitglieder, die seit Wochen die Basisstation mit den Materialien errichteten, die ihnen Titus Teil für Teil gebracht hatte. Noch zwei weitere Tage und sie wären alle wieder auf der Mayflower vereint, um die Heimreise vorzubereiten. Der letzte und schönste Abschnitt der Mission würde dann endlich beginnen: die Rückkehr zur Erde.

Titus war froh, nicht noch einen dieser merkwürdigen Kreaturen aus dem vorgetäuschten Kryo-Schlaf holen zu müssen. Auf menschliche Weise gesellig war keines der Testmodelle gewesen. War das letzte sogar gefährlich geworden, hatten sich die anderen in der Regel als neurotisch erwiesen; auch das eher mechanische Abspulen eingespeicherter Erinnerungen war für den Menschen kein unterhaltsamer Zeitvertreib. Noch verdrießlicher war es für Titus, seine Mahlzeiten heimlich und versteckt in seiner Kabine zu sich nehmen zu müssen, gewöhnlich eine gute Stunde nachdem die vermeintlichen Ernährungsersatzpillen seine künstlichen Gefährten für etwa acht Stunden in ihren 'Schlafzustand' versetzt hatten. Nein! - Auf der Rückreise würde er jeden Tag mit den anderen auf dem Brückenstand speisen.
Dann dachte er an die letzte Mahlzeit, mit der sich die Crew von Mars verabschieden würde. Ein paar Flaschen von seinem Lieblings-Château hatte er sich vor Monaten eigens für den Tag des Heimflugs bestellt. Wildbraten sollte doch recht gut dazu passen.
 

FrankK

Mitglied
Uff-tata
In der Tat, die erstmalige Lesung macht mehr Spaß, weil nun der Überraschungseffekt völlig weg ist. Aber Nein, es tut der Aufmerksamkeit keinen Abbruch.

Nach erster Lesung erscheint die Geschichte für meinen Geschmack nun etwas glatter, etwas eingängiger. Die demonstrativen Rückerinnerungen fügen sich meines Erachtens nun deutlich harmonischer in die Erzählstruktur ein.

An einer Stelle bin ich aber gewaltig gestolpert:
Wenn Titus nichts gewusst hatte, dann müsste der doch selbst ein HUMSYC sein! Oder andersherum: Wenn er es gewusst hatte und Leandro dennoch nicht von diesem Umstand unterrichtete, [blue]dann musste es Titus ebenfalls[/blue] und mit Lu gewissermaßen verbündet sein.
Erst nach ein paar Mal lesen dieser Stelle kam ich dahinter, dass es auf "ebenfals ein Android" hinausläuft.
Vielleicht könntest Du diese etwas sperrige Stelle noch einmal überdenken und etwas deutlicher formulieren.
Oder hast Du interesse an etwas Erbsenzählerei? Dann könnte ich mich noch einmal komplett durch den Text hangeln und jede Szene abklopfen ... ;)

Nur, wenn Du willst.


Vorweihnachtliche Grüße
Frank
 

Tula

Mitglied
Hallo Frank

erstmal vielen Dank!

Oder hast Du interesse an etwas Erbsenzählerei?
Sicher doch, daran bin ich auf alle Fälle interessiert, d.h. ich möchte schon, dass die Geschichte so gut wie möglich wird.

Adventsgrüsse
Tula
 

FrankK

Mitglied
Hallo, Tula
Wie angedroht noch einmal der Erbsenzähler.
Ich bin mir sicher, wenn ich durch bin, fegt Jon noch einmal durch den Text und findet tausend weitere Dinge. Sie redigiert auf einem ganz anderen Niveau. :)

Basisplot:
Ein ganz klassischer „Kampf“, für beide Kontrahenten geht es ums Überleben.

Mögliche Prämisse:
„Kein künstliches Geschöpf ist einem Menschen geistig überlegen.“ – Wäre eine denkbare Möglichkeit, ist in Kurzgeschichten immer etwas schwierig zu definieren, weil es kaum durchgehende Beweisführungen gibt, in einzelnen Szenen ist eine Prämisse nur schwerlich abzugleichen, dazu benötigt es eher schon ganze Szenenfolgen, die sich zu einem Kapitel zusammenfügen. Das „Zweite Kapitel“ ist eigentlich nur noch der Abspann für den Leser.

Erzähl-Perspektive:
Zwei verschiedene, sauber voneinander getrennte Ich-Perspektiven.

Erbsenzählerei:

… und verfolge wie die gesamte Menschheit die [blue]erste[/blue] Expedition mit einer Besatzung von acht Astronauten, die eine [blue][strike]erste[/strike][/blue] Basisstation auf dem roten Planeten errichten sollte.
Dass es sich um eine erste Basisstation handelt ist schon mit „erste Expedition“ zum Ausdruck gebracht.

Nach einer [blue]Art[/blue] Bruchlandung kämpfte die Besatzung um die Erhaltung der kritischen Systeme.
Macht mich schmunzeln.
Was soll ich mir unter einer „Art“ Bruchlandung vorstellen? Eine „Art“ Autounfall mit einer „Art“ Blechschaden?

… und spezialisierte sich danach auf den Gebieten der Raumfahrtmedizin und [blue]primitiver[/blue] Biologie.
Was soll ich unter „primitiver“ Biologie verstehen. Als Mediziner sind da schon umfangreiche biologische Kenntnisse vorhanden.
Es könnte aber auch sein, dass Du hier schon versuchst, eine Andeutung auf eine fehlerhafte Programmierung in den „Erinnerungen“ eines HUMSYC darzustellen.

[blue]Leandro konnte sich von diesen Rechtfertigungen[/blue], welche er seit seinem ersten Tag an Bord über sich ergehen lassen musste, [blue]nicht wirklich überzeugen[/blue].
Ich glaube, Du meinst eher:
Leandro [blue]ließ[/blue] sich von diesen …

Selbst Lu hätte dir kein Haar gekrümmt; sie war nicht darauf programmiert.
Das ist soweit korrekt, bereitet mir an dieser Stelle trotzdem irgendwie Bauchschmerzen. Mit Sicherheit war auch Leandro nicht darauf programmiert, Lu „auszuschalten“, dennoch hat er es getan. Und gerade plant er die Tötung von Titus – andererseits könnte Titus zur „Basis“ zurückkehren und mit Verstärkung zurückkommen …

Sein Abendbrot nahm er zur gewohnten Stunde; eine tägliche Routine und im Handumdrehen erledigt, denn es bestand aus nicht mehr als einer einzigen Pille.
Am Ende erklärst Du, die Pillen würden die HUMSYCs innerhalb einer Stunde für etwa acht Stunden in ihren 'Schlafzustand' versetzen. Hier scheint es aber nicht zu funktionieren … Leandro bleibt höchst aktiv. So ganz wird die Funktionsweise der Pille nicht deutlich. (Streichen der Pille – wäre die einfachste Möglichkeit)

… wurde bei fast allen Wartungsarbeiten als universelles Prüfgerät verwendet und gerade an jenem Tag [red]könnte Leando[/red] ohne dieses nicht die Aufgabe erfüllen …
Korrektur: konnte (nicht könnte)
Korrektur: Leandro

„Zurück [red]na reecch..“[/red] kreischte sie noch …
Korrektur: „Zurück nach reeech…“, kreischte sie noch …

… Menschen leicht zu [red]unterscheidene[/red] künstliche Geschöpfe …
Korrektur: unterscheidende

Wenn Titus nichts gewusst hatte, dann müsste der doch selbst ein HUMSYC sein! Oder andersherum: Wenn er es gewusst hatte und Leandro dennoch nicht von diesem Umstand unterrichtete, [blue]dann musste es Titus ebenfalls[/blue] und mit Lu gewissermaßen verbündet sein.
Erst nach ein paar Mal lesen dieser Stelle kam ich dahinter, dass es auf "ebenfalls ein Android" hinausläuft.
Vielleicht könntest Du diese etwas sperrige Stelle noch einmal überdenken und etwas deutlicher formulieren.

Das Material war härter und widerstandsfähiger als Diamant.
Auch ohne eine längere Ausführung über Materialbeschaffenheiten – diese Aussage ist etwas übertrieben und überflüssig. Und im Grunde nur eine Wiederholung der Aussagen zuvor.

… als ihn die Müdigkeit an den letzten beiden Abenden zur gewohnten Zeit unwiderstehlich zu überfallen drohte, versteckte sich Leandro in einem der Belüftungsschächte.
Auch hier greift wieder mein Unverständnis für die „Funktionsweise“ der Pillen.

Die nächsten Sekunden drosselten Leandro's Gedanken bis zum Stillstand.
???
Ein einfacheres Konstrukt könnte deutlicher darstellen, was Du vielleicht meinst:
Etwas riss ihn aus seinen Gedanken.

Leandro war noch immer in Sicherheit; er musste jetzt nur mit dem Notsystem auskommen, einige Tage würde es sicherlich funktionieren.
Innerhalb weniger Stunden sinkt der Energievorrat unter eine kritische Marke – soll dann aber doch noch „einige Tage“ reichen?

Der kam zu spät: schon im nächsten Augenblick sah [red]Leando[/red] sein letztes Bild …
Korrektur: Leandro

Logeingabe 04-08-2053: Model 'Leandro' ebenfalls [blue]deaktiviert[/blue];
„Deaktiviert“ ist gut – er hat ihn zerstört. Haben die HUMSYCs eigentlich keine Schalter? So etwas wie einen „NOT-Aus“.

Der Abschluss muss, so glaube ich, nicht ganz so ausführlich sein. Vom Log-Eintrag bis zu den Gedanken an das Abendessen kommt (für meinen Geschmack) etwas zu viel Background über die möglichen wirtschaftlichen Zusammenhänge bei Forschungsmitteln, Produktionsberichten, territorialen Erschließungen und ähnlichem. Man könnte fast glauben, Titus würde auch eine gewisse Paranoia entwickeln.


Füllwörter-Test:
Zeichen gesamt: 27850
Wörter gesamt: 4090
Füllwörter: 362 (8.85%)

Die häufigsten:
auch - 19x
wieder - 18x
dann - 16x
doch - 16x
jetzt - 11x
selbst - 11x
wenn - 11x

Füllwörter sind Worte, die den Erzähl-Text nur aufblähen, aber keine wirklichen Informationen tragen. Im gesprochenen Dialog sorgen sie für Lebendigkeit, glätten die Sprache.
8,8% Füllwortbefall sind gerade noch erträglich, sie verteilen sich über den ganzen Text, an manchen Stellen gibt es aber Häufungen.

Beispiel:
Titus lachte kurz auf. „Weißt Du mein Freund, dass es [blue]überhaupt[/blue] kein Schwesterschiff gibt? Und dass ich [blue]auch[/blue] [blue]ganz[/blue] ohne dich [blue]wieder[/blue] nach Hause komme? Schau' [blue]doch[/blue] [blue]jetzt[/blue] [blue]ganz[/blue] [blue]einfach[/blue] [blue]mal[/blue] kurz auf Deinen Bauch!“
Leandro senkte den Kopf. In einer Zehntelsekunde spielte er alle [blue]möglichen[/blue] Auswegvarianten durch, [blue]dann[/blue] holte er [blue]einmal[/blue] tief Atem, spannte seinen Körper wie eine Feder und setzte zum Sprung an.
Der kam zu spät: [blue]schon[/blue] im nächsten Augenblick sah Leando sein letztes Bild, als ihn ein blauer Strahl jäh in zwei Teile trennte.
In dieser kurzen Passage finden sich 13 Füllwörter, ein Großteil innerhalb einer direkten Rede, aber auch einige außerhalb. Hier könnte ich mal exemplarisch ansetzen um „auszumisten“:

Titus lachte kurz auf. „Weißt Du mein Freund, dass es [blue]überhaupt[/blue] kein Schwesterschiff gibt? Und dass ich [blue]auch[/blue] ohne dich nach Hause komme? Schau' [blue]mal[/blue] kurz auf Deinen Bauch!“
Leandro senkte den Kopf. In einer Zehntelsekunde spielte er alle Auswegvarianten durch, holte tief Atem, spannte seinen Körper wie eine Feder und setzte zum Sprung an.
Der kam zu spät: im nächsten Augenblick sah Leandro, dass ihn ein blauer Strahl in zwei Teile trennte.

Von 13 reduziert auf 3. Hat die Passage irgendetwas verloren?


Szenen und Konflikte:
Auch nach dritter Lesung dieses Stückes habe ich den Eindruck, dass sich der Konflikt kontinuierlich steigert bis zum Abschluss.
Die Szenen-Übergänge sind manchmal nicht ganz deutlich, besonders an den Stellen, wo er aus Rückerinnerungen wieder in die Real-Zeit übergeht.


Freue mich schon auf Deine nächste Überarbeitung. ;)


Vorweihnachtliche Grüße
Frank
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Tula,

die Plot-Idee ist okay.

Die Umsetzung aber gefiel mir nicht. Innensicht in einer actiongetriebenen Story ist immer problematisch. Es reißt ständig aus der Handlung, zudem erhöht sich durch Planungsgedanken, Analysen und Überlegungen die Redundanz. Gänzlich unvorteilhaft finde ich Infodumps innerhalb von Gedanken.

Bei Leandro ist es meiner Meinung nach noch problematischer, da ja eigentlich Maschinen-Gedanken dargestellt werden müssten.

Von daher funktionierte für mich die Auflösung nicht mehr.

Stilistisch sehe ich auch einige Mängel. Viele komplizierte Sätze, deren Sinn sich nicht gleich ergibt. Dazu Wiederholungen, die die bereits erwähnte Redundanz unterstreichen.

Beispiel:

[blue]Vor allem[/blue] sein Verhältnis zu Lu basierte [blue]von Anfang an[/blue] auf gegenseitigem Misstrauen. Das lag [blue]vor allem[/blue] an ihr: Sie versuchte [blue]mit allen[/blue] Mitteln [blue]vom ersten Tag an[/blue] zu verhindern, dass Leandro Titus irgendwie zu nah kommen könnte, und wenn, dann nur in ihrem Beisein.
Insgesamt wird der Text dadurch zäh und langatmig.

cu
lap
 

FrankK

Mitglied
Hallo, Lapismont
Prinzipiell gebe ich Dir recht, was die stilistische Umsetzung angeht.
Speziell in diesem Fall wage ich es, Dir zu wiedersprechen. ;)
Durch die gewählte Form kommt die, sich steigernde, Paranoia zu tragen. Die "Verfolgungs-Wahn" - Gedanken drehen sich im Kreis, werden immer verworrener und komplizierter.
Alleine der Umfang im letzten Kapitel ist, wie ich bereits ausführte, zu umfangreich und gehört eingedampft. Der "Info-Dump", wie Du es so schön bezeichnest, ist dort nicht mehr nötig, bringt keinen Vorteil mehr für die Story.

Oder betrachte es mal von einer anderen Seite:
Die dargestellte Form zeigt deutlich, wie erbärmlich diese "Mensch-Simulationen" programmiert sind. Ein echter Arzt hätte sich sofort um Lu bemüht, hätte sich über die ihm übertragenen Aufgaben beschwert, hätte wie 'Pille' antworten können:
"Ich bin Arzt und kein Akku-Schrauber!"


Frohe vorweihnachtszeit
Frank
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
So etwas ist sicherlich auch eine Geschmacksfrage.

Auch stelle ich es mir schwer vor, eine Paranoia die aus Programmunzulänglichkeiten herührt, so darzustellen, dass man beim Lesen nicht zu früh darauf kommt, was für eine Art des Denkens hier kollabiert.

Oft wird das Problem gelöst, indem man die Person Aufzeichnungen fertigen lässt.

Letztlich würde der Zynismus der Schlusspointe auch funktionieren, wäre Leandro kein Android, sondern ein menschlicher Kandidat, der an der Aufgabe scheitert.
 

Tula

Mitglied
Hallo

habt beide Dank für die "Erbsen", also wertvollen Kommentare. Ich werde den aufgedeckten Mängeln also besondere Aufmerksamkeit schenken müssen. Gut, dass ihr auch darauf hingewiesen habt. Ist mir beim Selbstlesen so gar nicht aufgefallen (Häufigkeit der Füllwörter und, sicher besonders schlecht, Wiederholungen derselben in kurzen Abständen).

Nur kurze Erläuterungen:

"primitive Biologie" - ich dachte dabei an das Studium primitiver Lebensformen, so wie man sie sich auf Mars erträumt (einige Forscher). Ich gebe aber zu, dass dieser Begriff gedanklich noch zu einer ersten Version gehört und hier wenig dazu bringt. Fliegt also raus.

Die Sache mit den Pillen: irgendwann dachte ich mir: der Android wird doch merken, dass er kein Mensch ist, wenn er sich nicht wie ein solcher ernährt und auch schläft?
Als Argument für die ansonsten gut ausgetüfftelte Mission, fand ich die Idee ganz gut. Nun stimmt aber auch, dass sie nicht entscheidend zum plot beiträgt. Muss ich nochmal überschlafen.

Die Struktur der Erzählung werde ich nicht mehr ändern. Ich verstehe aber auch, dass diese die von lapismont beschriebenen Probleme bringt, d.h. die Sprünge können auf den Leser störend wirken.

Zur Prämisse: es ging mir nicht um "schlechte Programmierung". Das Experiment MUSSTE scheitern, oder besser: der alte Wahn des Menschen, sich selbst als Maschine neu zu kreieren.
Die Beziehung zwischen Mensch und Maschine / Roboter wird in der science fiction Literatur seit ihren Anfängen immer wieder beschrieben. Gerade die Vermenschlichung in modernen Filmen finde ich sehr nachdenklich. Mein durchaus vorhandenes technisches Verständnis lässt mich vermuten, dass der vollkommen menschlich erscheinende und denkende Android noch in sehr weiter Ferne liegt. Nicht seine auf Logik bauenden Denkfähigkeiten, aber eben die soziale Intelligenz, Empathiefähigkeit und auch das "emotionales Denken", welche alle für eine Zusammenarbeit mit anderen notwendig sind, die wird er (hoffentlich) nie besitzen. Zumindest ist bis heute jede Art von künstlicher Intelligenz auf ein eingespeistes Regelwerk aufgebaut, und jede Art von 'Lernen' (siehe neuronale Netzwerke usw.) sind immer ein "Maschine-Lernprozess" ohne jede emotionale Bewertung.
Wie gut das durchkommt, sei dahingestellt; war aber mein "Leitmotif" und Anschub für diese Erzählung.

Bis bald (neue Version)

LG
Tula
 

Tula

Mitglied
Leandro

Leandro stand an einer der Aussichtsluken des Brückenstands und beäugte die öde Marslandschaft, die sich im Halbdunkel bis an die nahegelegenen Hügel erstreckte. Wie erwartet von Titus keine Spur; alles lief wie geplant. Der würde wie gewöhnlich erst in etwa zwei Stunden zurückkommen und vergeblich versuchen, sich auf die übliche Weise Zugang in das Schiff zu verschaffen. Denn Leandro hatte dieses vor Minuten sicher verschlossen, so dass von außen keiner seiner Einstiege ohne direkte Mithilfe von innen zu öffnen war.
Die Gefahr, die von seinem Gegner ausging, war gebannt; Leandro in Sicherheit. Er sann darüber nach, wie lange man es wohl als Android dort draußen in der eisigen Kälte der Marsnacht aushalten könnte. Eigentlich war das unwesentlich, fand er. Selbst wenn Titus die ersten Nächte überstehen sollte, war sein Ende auf die Dauer unausweichlich; und auf dieses konnte Leandro jetzt in aller Ruhe warten. Die Mayflower-II gab ihm schließlich alles, was er brauchte, um sich für mehrere Monate am Leben zu erhalten. Diese Zeitspanne war ausreichend, denn das zweite Schiff der Expedition war ja bereits unterwegs, um den Aufbau der Basisstation weiterzuführen.

Leandro überlegte, nach welchen Parametern er seine maximale Überlebenszeit berechnen könnte und beschloss, am nächsten Morgen eine präzise Bestandsaufnahme aller Vorräte und Zufuhrstoffe der lebenserhaltenden Systeme durchzuführen. Nach einer ersten Hochschätzung dürfte das Raumschiff mehrere Jahre lang in seinem gegenwärtigen Betriebszustand funktionstüchtig bleiben. Der Nahrungsvorrat, kalkulierte er, müsste für einen einzigen Menschen jetzt ohne Mühe vier Jahre reichen, extra Vorräte als Kontingenzmaßnahme nicht einmal mit einbezogen.
Offensichtlich hatte man bei der Strategie, mehrere kleinere Schiffe und Besatzungen einzusetzen, aus der ersten, tragischen Erfahrung Lehren gezogen. Damals, im Sommer 2047, war er gerade 12 Jahre alt gewesen und verfolge wie die gesamte Menschheit die erste Expedition mit einer Besatzung von acht Astronauten, die eine Basisstation auf dem roten Planeten errichten sollte. Leider endete die Mission in einer Tragödie, als nach einem Kurzschluss in der Klimatisierung der Vorratsräume ein Brand mit einem Schlag mehr als drei Viertel der Lebensmittel vernichtete. Die Nachricht lief damals wie eine Schockwelle über die Erde: die Besatzung hatte plötzlich nur noch für drei Wochen Vorräte; viel zu wenig, um erfolgreich eine Rettungsmission zu starten. Alle Varianten wurden damals durchgespielt, die Mindestenergie pro Besatzungsmitglied neu ermittelt, ausgeklügelte Überlebensstrategien jedweder Art in Erwägung gezogen. Aber alles umsonst; es fehlten Monate, um der Mannschaft noch rechtzeitig zu Hilfe zu eilen. Die Katastrophe war unvermeidlich.
Das Schicksal der Mission faszinierte Leandro auf magische Weise für den Rest seines Lebens: er wollte Astronaut werden! Einen typischen Ausbildungsweg gab es nicht dafür, schon gar nicht in seiner chilenischen Heimat. Nach seinem Studium und einer Spezialisierung auf dem Gebiet der Raumfahrtmedizin, bewarb er sich hartnäckig mehrere Male bei bekannten, hauptsächlich chinesischen, Forschungslabors und Unternehmen, bis er eines Tages sein Ziel erreichte: seine persönliche Beteiligung an der Mayflower-II Mission. Diese wurde von der Pacific Joint Space Agency (PAJOSpAg) und seinen bedeutendsten Mitgliedsländern China, Japan und den USA mit größter Diskretion über mehr als ein Jahrzehnt vorbereitet. Leandro war einer der allerersten Mitarbeiter; die Einladung für die direkte Teilnahme am Flug kam jedoch völlig unverhofft erst vor drei Jahren.

Leandro wurde unvermittelt von der Signalleuchte und der mit ihr verbundenen Sirene aus seinen Erinnerungen gerissen. Titus war eingetroffen und verlangte Kommunikation mit der Brücke! Das Flackern und schrille Heulen dauerte eine geraume Zeit, um nach einer Pause von mehreren Minuten erneut zu erwachen. Rrruungh, rruungh ... lärmte die Sirene. Anscheinend war der Kommandant in der Zwischenzeit um das Schiff gelaufen, um alle möglichen Luken und Einstiege zu überprüfen.
Leandro zögerte eine Weile. Eine Auseinandersetzung mit Titus würde nichts an der gegenwärtigen Lage ändern. Unter Umständen könnte er sich über den Zustand des anderen ein klareres Bild machen und seine nächsten Schritte im voraus durchschauen. Wobei diese ohnehin wenig Einfluss auf das Schicksal seines Kontrahenten haben dürften.
Am Ende siegte die Einsicht, dass der Besitz von mehr Information immer ein Vorteil wäre:
„Mayflower-II, Brückenkommandant Leandro. Kommen.“
„Brückenkommandant Titus! Leandro, lass die Spielchen und öffne bitte die Hauptluke.“
„Das ist mir aus Sicherheitsgründen leider nicht möglich.“
„Wie bitte? Welche Gründe sind das denn?“
„Du bist eine Bedrohung für die physische Integrität der noch lebenden Besatzung. Wie Du jeden Tag persönlich hervorhebst, steht die Sicherung des Überlebens momentan an erster Stelle.“
„Bist du jetzt total durchgeknallt?“ dröhnte es durch den Brückenstand. „Es geht doch wohl um unser Überleben, nicht nur deins! Und ich habe dir heute morgen nochmals klargemacht, dass wir uns beide gegenseitig brauchen, um durchzuhalten. Alles Weitere ist vorerst nebensächlich.“
Leandro schwieg; er wusste nur zu gut, dass sich der andere verstellte. Titus kannte alle Systeme an Bord auswendig und wäre in der Lage, sich aus jeder technischen Notsituation allein herauszuziehen.
„Leandro! Wir haben jeder für sich allein kaum eine Chance. Das Schiff wurde für eine Besatzung von vier entworfen, um es auf Dauer zu bedienen und zu warten. Wir hatten schon zu dritt ein Problem, zu zweit wird es schwer genug, allein wirst du bei der nächsten Havarie irgendeines Versorgungssystems verrecken. Du bist kein Ingenieur, Mann, sondern unser Arzt! Und als solcher bin ich auch auf dich angewiesen. Begreif das endlich!“
Leandro ließ sich von den üblichen Rechtfertigungen nicht mehr überzeugen. „Ich kenne die Wartungs- und Benutzungshandbücher aller Systeme mittlerweile auswendig. Ausserdem ist die Wahrscheinlichkeit eines lebensbedrohlichen Ausfalls geringer als die eines Anschlags auf mein Leben. Ich weiß genau, was du mit mir vorhast.“
Titus erwiderte mit einer nun merklich verzerrten Stimme: „Was du dir da einredest, ist totaler Schwachsinn. Lu hätte dir kein Haar gekrümmt; sie war darauf programmiert, mit dir zusammenzuarbeiten. Ich will mich auch nicht an dir rächen; was passiert ist, ist passiert, es war ein Unfall. Als solchen habe ich ihn berichtet. Also mach jetzt bitte auf, mein Sauerstoff reicht kaum fü..“

Leandro schaltete den Kanal unvermittelt wieder ab. Er würde von Titus nicht mehr zu hören bekommen, als die sich stetig wiederholenden Argumente, welche im Grunde darauf abzielten, ihn zu täuschen. Was der Kommandant in seine täglichen Berichte schrieb, war ihm unbekannt und als Aufzeichnungen nicht zugänglich. Zum einen müsste Leandro dazu irgendwie die Tür zu dessen Kabine aufbrechen; zum anderen kannte nur Titus den Sicherheitscode für die Logapplikation der Mission.
Überraschenderweise verstummte das Signalsystem nach einer kurzen Weile. Titus hatte wohl eingesehen, dass er auf diese Weise seinen Kontrahenten nicht erweichen könne. Leandro indessen versuchte, sich abzulenken und bereitete sich für die Nacht vor. Er entschied sich, heute nicht in seiner Kabine zu schlafen, sondern für den Fall der Fälle auf dem Brückenstand zu verbleiben. Immerhin war es seine erste Nacht als neuer Kommandant. Sein Abendbrot nahm er zur gewohnten Stunde zu sich; eine tägliche Routine und im Handumdrehen erledigt, denn es bestand aus nicht mehr als einer einzigen Pille. Über diesen Umstand konnte man sich nicht beklagen. Man hatte die Pillen schließlich extra für die neue Mission erfunden, um das Risiko eines erneuten Hungerdramas entscheidend zu verringern. Ähnlich wie beim Militär bekamen alle einmal pro Tag eine komprimierte Kalorienbombe, die im Verlauf von 24 Stunden langsam vom Körper absorbiert wurde, ohne dass der Mensch in plötzliche Hungergefühle verfiele. Eine langweilige, aber geniale Lösung.
Kurz darauf löschte Leandro das Licht auf der Brücke bis auf die punktartigen Lampen, die in drei Reihen den Raum durchzogen: Nachtdienstbeleuchtung. Als er schweigend im Sessel des Kommandanten saß und noch einmal die Ereignisse des Tages durchging, erinnerte er sich unwillkürlich an die letzten Worte Titus': 'Sie war darauf programmiert, mit dir zusammenzuarbeiten.' Sein Rivale hatte sich damit endgültig verraten; er wusste um Lu's wahre Natur und musste folgerichtig wie sie Teil eines Planes sein. Doch welcher genau? Und wessen?

Wieder verfiel er in Erinnerungen der letzten zwei Wochen. Vom ersten Tag an war er von Titus und Lu nicht als gleichberechtigtes Mitglied der Besatzung behandelt worden. Als sie ihn aus dem Kryo-Schlaf holten, teilten sie ihm mit, dass bei der Landung sowohl die Triebwerke als auch das kryogenische System schwer beschädigt worden waren. Er war der einzige, bei dem wie durch ein Wunder die Temperatur noch nicht den kritischen Schwellwert überschritten hatte. Weniger als eine Minute später und er läge mit den anderen Kadavern im 'Kühlschrank', wie sie es nannten.
Die Mission befand sich deshalb in einer Art Ausnahmezustand. Die Aufgabe bestand nicht mehr vorrangig im Projekt der Basisstation, obwohl Titus jeden Tag einen Teil der im Schiff verstauten Ladung mit dem 'Schlitten', wie der Kommandant sein Fahrzeug gern nannte, dorthin brachte. Nein, sie bestand nach dessen täglichen Erläuterungen jetzt hauptsächlich im Überleben bis zum Eintreffen des bereits gestarteten Schwesterschiffs, mit der zweiten Gruppe der Mission, innerhalb von drei Monaten. Titus hatte das Generalkommando inne, Lu war zweiter Offizier und Titus' Vertretung in seiner Abwesenheit, während Leandro in seiner Hauptfunktion als Arzt den anderen beiden unterstellt war. Immerhin bedurfte es bei solch einer kleinen Besatzung auch seiner Hilfe bei allen möglichen Tätigkeiten an Bord.

Sein Verhältnis zu Lu basierte von Anfang an auf gegenseitigem Misstrauen. Das lag vor allem an ihr: Sie versuchte mit allen Mitteln zu verhindern, dass Leandro dem Kommandanten irgendwie zu nahe kommen könnte. Hatte sie irgendeine Aufgabe in ihrem Tagesplan zu erfüllen, erteilte sie Leandro sofort eine andere, die ihn zwangsläufig isolieren würde. Waren sie alle drei zusammen, beobachtete sie Leandro bei jedem Atemzug aus ihren Augenwinkeln, unterbrach ihn bei jedem Wort und setzte darauf, an der pflichtgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben zu zweifeln. „Leandro, hatten wir dich nicht darum gebeten, die Solarenergiespeicher zu warten? Die sind schon wieder auf 35 Prozent runter! Hast du gemacht? Ach was, das scheint mir gar nicht so, ich muss dir die Sache wohl noch einmal vorführen“ usw. usf.
Der Konflikt eskalierte vor zwei Tagen, als Leandro's Bosonzähler auf unerklärliche Weise verschwand. Dieses auf Quantenmechanik basierende Werkzeug wurde bei fast allen Wartungsarbeiten als universelles Prüfgerät verwendet. Gerade an jenem Tag konnte er ohne dieses nicht die Aufgabe erfüllen, die ihm aufgetragen worden war: die Durchsicht des gravitativen Ausgleichsgenerators.
Leandro hatte nicht den geringsten Zweifel, dass er sein Werkzeug nicht unachtsam irgendwo liegen gelassen hatte; jemand hatte es sich absichtlich angeeignet und verborgen. Nur Lu konnte dahinter stecken! Titus war wie jeden Morgen um 09:00 Uhr Bordzeit aufgebrochen, um weitere Ladung zur Basisstation zu schaffen. Erst wenige Minuten später hatte sich Leandro seine Arbeitsutensilien geholt und sich dabei peinlich genau vergewissert, dass diese vollständig waren. Leandro rekonstruierte für sich jeden seiner Schritte der letzten Stunden und deduzierte mit absoluter Sicherheit, dass sich Lu nur in jenem Moment des Bosonzählers bemächtigen konnte, als er an einem der Akkus arbeitete, welche außerhalb des Schiffs direkt an den Solarflügeln montiert waren.
Was Lu im Detail bezweckte, war nicht ohne weiteres eindeutig. Dennoch begriff Leandro, dass Lu auf Dauer eine Bedrohung für ihn darstellte. Er würde ihr zuvorkommen müssen.
Wenige Minuten später hatte er einen der Akkus demontiert und auf den kontronischen Levitator geladen. „Lu, ich brauche Deine Hilfe“ forderte er über den Bordfunk. „Komm bitte in die Ladeluke; ich kann einen der Akkus nur dort reparieren.“
Sie erschien erst nach einer geraumen Zeit und beklagte sich, nicht unerwartet, dass Leandro wieder einmal nicht in der Lage war, seine Tätigkeiten ohne ihre Unterstützung selbstständig zu erledigen.
„Das geht schnell“ gab er zurück und schwenkte langsam den Akku in die Luke. „Zeig' mir nur, wo das Ding genau hin muss, damit ich es korrekt zur technischen Überprüfung an das Testsystem anschließen kann“ rief er, als ob er die Position nicht genau kannte.
„Weiter in die Mitte nach rechts, nach rechts!“ hallte es aus der Luke zurück. Viel Platz gab es dort nicht; der innere Ausgang zum Schiff befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Ladeluke. Es fiel Leandro nicht schwer, Lu diesen Weg zu versperren und sie genau zwischen den Akku und die Wand zu locken. Mit einem plötzlichen Manöver schwenkte er den Arm des Levitators und drückte die völlig überraschte Lu mit dem Akku gegen einen der Träger in der Bordwand. „Zurück nach reecch...“ kreischte sie vergeblich, bevor sie für immer verstummte.

Nach dem Eintreffen Titus' unterrichtete Leandro diesen sofort über den angeblichen Unfall. Der Kommandant stürzte unversehens in die Ladeluke und verharrte verwirrt vor dem Akku und dem dahinter leblos hervorhängenden Arm. Seine nächste Reaktion war erstaunlich beherrscht; er bediente selbst den Levitator, um Lu freizugeben, und zog ihren Leichnam hervor.
„Ich habe nur strikt ihren Anweisungen gefolgt“ entschuldigte sich Leandro. „Augenscheinlich hat sie rechts mit links verwechselt, ich konnte doch nicht ahnen ...“
Titus erwähnte kein Wort und warf nur einen vorwurfsvollen Blick auf Leandro, als wäre er irgendwie verlegen. In diesem Moment begriff Leandro: aus Lu's zerquetschtem Leib drängte sich ein Knäul von synthetischen Geweben und Bauteilen, die nichts mit einem menschlichen Körper zu tun hatten. Vor ihnen lagen die Reste eines sogenannten HUMSYC - Humanoid Synthetic Form of Life, ein Android, ein biotronischer Schrotthaufen. Er war verblüfft, denn nach seiner Kenntnis waren HUMSYCs relativ primitive und vom Menschen leicht zu unterscheidende künstliche Geschöpfe, willenlose und wenig intelligente Sklaven.
„Du wusstest, dass Lu …?“ - Titus erwiderte noch immer nichts. Er schien nach Antworten zu suchen, genauso wie Leandro: warum hatte man in so eine kleine Besatzung einen Android eingeschleust? Darin bestand kein offenbarer Vorteil. Und warum hatte ihn Titus nicht eingeweiht? Hatte er von Lu's Natur Kenntnis gehabt?
Allmählich stieg eine dunkle Ahnung auf: Wenn der Kommandant nichts gewusst hatte, müsste der eigentlich genauso ein HUMSYC sein! Oder andersherum: Wenn er es gewusst hatte und Leandro dennoch nicht von diesem Umstand unterrichtete, dann musste Titus ebenfalls ein Android und mit Lu gewissermaßen verbündet sein. Ihre feindselige Haltung Leandro gegenüber erschien nun in einem anderen Licht, wahrscheinlich versuchten beide, Ihn unter Kontrolle zu halten. Doch zu welchem besonderen Zweck?

Eine halbe Stunde lang hatte Leandro in seinem Gedächtnis gewühlt, als er unversehens aufschreckte. Ein merkwürdiges Geräusch hatte für einen kurzen Augenblick das monotone Summen aus den Schaltschränken übertönt. Er horchte mehrere Sekunden gespannt. Stille. Da wieder! Ein metallenes Ächzen, welches an einen im Sonnenwind kämpfenden Raumfrachter erinnerte. Sicherlich war es Titus, der sich verzweifelt abmühte, auf irgendeine Weise an Bord zu gelangen. Wahrscheinlich machte er sich gewaltsam an einer der Luken zu schaffen. Nach kurzer Reflexion beruhigte sich Leandro: die Mayflower war für den Raumflug gebaut worden. Sogar mit einer Ladung herkömmlichen Sprengstoffs könnte man die Luken nicht ohne weiteres aufreißen. Jeder Versuch, sie mit speziellen Werkzeugen aufzubohren oder zu schneiden, war mehr oder weniger aussichtslos.
Leandro lauschte mit aller Anstrengung mehrere Minuten lang. Das Geräusch kehrte nicht wieder zurück. Er fragte sich irgendwann, was Titus mit ihm anstellen würde, wenn er doch ins Schiff gelänge. Seit jenem verhängnisvollen Tag waren sie sich gegenseitig wie zwei feindlich gesinnte Raubtiere ausgewichen, jeder auf den ersten Fehler des anderen bedacht. Titus hatte ihn noch gebeten, seinen Bosonzähler zu holen, als wolle er noch irgendetwas an Lu herummessen. Als Leandro zurückkehrte, hatte Titus Lu's Überreste bereits entsorgt und ihm ohne eine weitere Erklärung das Werkzeug aus der Hand genommen.
„Sieh' zu, dass der Akku wieder in Ordnung kommt. Über den Rest reden wir später.“ Danach verschwand der Kommandant für mehrere Stunden in seiner Kammer. Als er wieder auftauchte, machte er einen entschlossenen Eindruck, rief Leandro zu sich und erklärte ihm eindringlich die Tagesplanung zu zweit und dass er absolute Disziplin verlangte, um das endgültige Scheitern der Mission zu verhindern.

Natürlich schindete sein Gegner nur Zeit und suchte nach einem Plan, Leandro zu beseitigen. Die offensichtlichste Variante war die, den anderen im Schlaf zu töten. Leandro selbst konnte dafür nicht in Titus' Kabine, die war absolut gesichert, wobei jener als Android ohnehin keinen Schlaf brauchte. Gegen den letzteren zu kämpfen war für Leandro aussichtslos; die Müdigkeit übermannte ihn jeden Abend etwa um dieselbe Uhrzeit. Die letzten zwei Nächte versteckte er sich deshalb vorsichtshalber in einem der Belüftungsschächte. Glücklicherweise fand ihn Titus dort nicht. Nur als Leandro am nächsten Morgen wieder auf der Brücke erschien, fragte ihn der Kommandant mit einem bedeutungslosen Lächeln, ob er gut geschlafen hätte.
In Wirklichkeit beobachte ihn jener argwöhnisch auf Schritt und Schritt und wartete nur auf den geeigneten Augenblick, seinen Plan der Rache in die Tat umzusetzen. Leandro ließ sich nichts anmerken, grübelte aber unablässig, wie er seinem Rivalen zuvorkommen könne.

Unerwartet beging Titus einen entscheidenden Fehler: „Leandro, morgen werde ich noch einmal zur Basisstation fahren. Du bleibst zur Sicherung des Schiffes auf der Brücke.“
Leandro stutzte: Titus war zwar bis zu dem Vorfall mit Lu jeden Tag allein zur Station gefahren. Er müsste Leandro aber unter den gegebenen Umständen mitnehmen, um ihn im Auge zu behalten. Immerhin war es nicht strikt notwendig, dass jemand auf dem Schiff verbliebe. Wenn Titus trotzdem darauf bestand, sich allein zur Station zu begeben, dann vielleicht um sich irgendetwas für ihn Wichtiges zu besorgen. Was dies auch immer war, es gehörte zu seinen dunklen Plänen. In diesem Augenblick zündete Leandro der Gedanke: er bräuchte doch nur das Schiff zu verriegeln, so dass Titus ... Das war einfacher gesagt als getan: als Kommandant hatte Titus mehrere Geheimcodes, die für das Öffnen der Luken benutzt wurden. Darauf schien er sich zu verlassen. Man könnte aber irgendwie ... ja natürlich! Man könnte das Sicherheitssystem soweit beschädigen, dass die Luken nur noch von innen von der Hand zu bedienen wären.

Urplötzlich zuckte Leandro zusammen. Zunächst erfasste er nicht, was geschehen war. Er saß wie vorher im nur spärlich erleuchteten Brückenstand und dennoch ... nach einem kurzen Flackern und Klicken war das monotone Summen der Schaltschränke leiser geworden, die Lichter weniger. Endlich verstand er: das Energiesystem hatte sich auf Notversorgung umgeschaltet! Oder war von jemandem umgeschaltet worden. Er konzentrierte sich: Nein, er hatte den Zugang von außen für alle Luken unmöglich gemacht. Schwer war ihm das letztendlich nicht gefallen. Das Bedienungspad war mit demselben Material wie das gesamte Schiff geschützt, d.h. mit einer Platte bekleidet, welche man nur mit einer Art Laserschlüssel öffnen konnte. Einen hatte Leandro selbst und einen persönlichen Code für jede Luke. Einmal geöffnet, hatte er die Bedienungsfelder und deren Sensoreinheiten zertrümmert und sich dann vergewissert, dass jede Luke nur noch mechanisch zu betätigen war. So hatte er eine nach der anderen von innen verschlossen, wie in einer besetzten Festung.
Er grübelte, welche anderen Ursachen für den Zwischenfall verantwortlich sein könnten. Um die Solarbatterien zu überprüfen, müsste er das Schiff verlassen. Ihm dämmerte, dass sie Titus womöglich schon vor Stunden außer Betrieb gesetzt hatte. Die Batterien im Schiff waren unter einen kritischen Wert gesunken, so dass sich das Notenergiesystem automatisch eingeschaltet hatte. An diese Strategie seines Gegners hatte er in der Tat nicht gedacht! Nach einigen Erwägungen beruhigte Leandro sich erneut: weiteren Schaden konnte Titus im Moment nicht anrichten. Das Schiff hatte Hilfsgeneratoren und einen geeigneten Treibstoff auch für diesen Notfall. Das Betriebshandbuch lag sicher dort im ...

„Meinst du wirklich, ich hätte nicht vorgesorgt und mir einen Eingang offen gehalten?“
Leandro fuhr herum. Wenige Meter vor ihm nahm er im Halbdunkel einen Schatten wahr. Titus! Leandro starrte auf die Gestalt und das Werkzeug in seiner rechten Hand. Die Kontrolllämpchen ließen wenig Zweifel: Der Laserschneider war ein wichtiges Werkzeug an Bord, bis zu einer Entfernung von zwanzig Metern aber auch eine absolut tödliche Waffe.
„Wie bist du ... ? Hör zu, Titus. Wie du selbst sagst, wir brauchen uns gegenseitig. Ich hatte einfach nur Angst, es war ein Fehler. Das ist menschlich! Tut mir wirklich leid, kommt kein zweites Mal vor. Und solltest du mich jetzt einfach so kaltmachen, musst du dir immer noch eine gute Ausrede einfallen lassen. du weißt, in wenigen Wochen trifft das Schwesterschiff ein.“
Titus lachte kurz auf. „Weißt Du mein Freund, dass es überhaupt kein Schwesterschiff gibt? Und dass ich auch ohne dich nach Hause komme? Schau' mal kurz auf deinen Bauch!“
Leandro senkte den Kopf. In einer Zehntelsekunde spielte er alle Auswegvarianten durch, holte tief Atem, spannte seinen Körper wie eine Feder und setzte zum Sprung an.
Zu spät: im nächsten Augenblick sah Leandro sein letztes Bild, als ihn ein blauer Strahl jäh in zwei Teile trennte.

***

Logeingabe 04-08-2053: Model 'Leandro' ebenfalls deaktiviert; Experimente somit abgeschlossen. Bestätigung der vorherigen Ergebnisse: alle Testmodelle weisen eher durchschnittliche Intelligenz auf, leider auch irrationales Vorgehen in Stresssituationen. Bei 'Leandro' zudem stark ausgeprägte Empathiestörung und paranoide Persönlichkeit, misstrauisch, leidet an Verschwörungswahn. Bereits nach wenigen Tagen stellen sich extrem aggressive Verhaltungsmuster ein, für den Rest der Besatzung lebensbedrohlich.
Resultat: Negativ; für die geplanten Einsätze vollkommen untauglich.

Titus schaltete die Logeingabe wieder aus und seufzte erleichtert. Seine persönlichen Aufgaben waren erledigt. Hatte er auf der einen Seite alle Entladungsarbeiten erfolgreich ausgeführt und mehrere Tonnen Material in die neue Basisstation geschafft, war der zweite Teil der Mission ein ausgesprochener Reinfall. Zwar glaubten alle Modelle des neuen HUMSYC-Spitzenproduktes an ihre menschliche Natur; zumindest in ihrer isolierten Arbeitsumgebung, so wie man es für die zukünftigen Einsätze vorgesehen hatte. Dennoch waren die künstlichen Geschöpfe nicht einmal imstande, zu zweit problemlos wenige Tage allein miteinander auszukommen. An einen selbstständigen, permanenten Einsatz auf dem Mars war nicht im Traum zu denken.
Sicherlich würden die wirklichen Auftraggeber der Mission, die Vetreter der Red & Yellow River Mining Corporation, nach der Rückkehr unangenehme Fragen stellen. Offensichtlich hatten sie zu viel Vertrauen in ihre japanische Partnerfirma und deren Hi-Tech-Labors gehabt. Auch die PAJOSpAg würde wissen wollen, wohin die Millionen von Forschungsgeldern geflossen waren und zu welchem Nutzen, wenn die neuen HUMSYCs nicht nur wertlos, sondern für den Menschen sogar gefährlich waren. Nur eines schien sicher: die Corporation würde sich ihre Vorrechte auf dem Mars mit Erfolg sichern. Denn dazu waren sie ja in erster Hinsicht gekommen, Titus und die anderen fünf Besatzungsmitglieder, die seit Wochen die Basisstation mit den Materialien errichteten, die ihnen Titus Teil für Teil gebracht hatte. Noch zwei weitere Tage und sie wären alle wieder auf der Mayflower vereint, um die Heimreise vorzubereiten. Der letzte und schönste Abschnitt der Mission würde dann endlich beginnen: die Rückkehr zur Erde.

Titus war froh, nicht noch eine dieser merkwürdigen Kreaturen aus dem vorgetäuschten Kryo-Schlaf holen zu müssen. Auf irgendeine Weise gesellig war keines der Testmodelle gewesen; sich dem mechanischen Abspulen eingespeicherter Erinnerungen auszusetzen, war für den Menschen alles andere als ein unterhaltsamer Zeitvertreib. Noch verdrießlicher war es für Titus, seine Mahlzeiten heimlich und versteckt in seiner Kabine zu sich nehmen zu müssen, denn die vermeintlichen Ernährungsersatzpillen hatten natürlich keinerlei Wirkung. Nein! - Auf der Rückreise würde er jeden Tag mit den anderen auf dem Brückenstand speisen.
Er dachte nun an die letzte Mahlzeit, mit der sich die Crew von Mars verabschieden würde. Ein paar Flaschen von seinem Lieblings-Château hatte er sich vor Monaten eigens für den Tag des Heimflugs bestellt. Wildbraten sollte recht gut dazu passen.
 

Tula

Mitglied
Hallo

neue Version eingestellt. Hauptschwerpunkt der Überarbeitung waren die aufgezeigten sprachlichen Mängel: Redundanz im Text, einige zu lange Sätze, Wiederholungen, vor allem von Füllwörtern.

Der Text wurde bei diesem Versuch um etwa 9% gekürzt! Ich war selbst überrascht.
Die neue Statistik:
Zeichen gesamt: 27850 – jetzt 25387 (91,1%)
Wörter gesamt: 4090 – jetzt 3742 (91,5%)
Füllwörter: 362 (8.85%) – kann ich so nicht ohne Weiteres ermitteln

Die häufigsten:
auch – 19x – auf 10
wieder – 18x – auf 11
dann – 16x – auf 4
doch – 16x – auf 6
jetzt – 11x – auf 6
selbst – 11x – auf 5
wenn – 11x – 7

Ich habe in der letzten Version dann noch an den Wiederholungen von 'Titus' gearbeitet und etwa 11 oder 12 davon anderweitig ersetzt.

Die anderen Punkte kurz zusammengefasst:

die Pillen:
waren mir zu wichtig. Allerdings habe ich ihre Schlafwirkung herausgenommen. So überlasse ich es der Phantasie des Lesers, herauszufinden, wie der Android in den Schlaf fällt oder ob er sich irgendwann fragt: Warum muss ich eigentlich nie aufs Klo? ;)

der Notknopf:
na sicher gäbe es einen. Aber die Geschichte braucht am Ende auch ein Element der Dramatik, also gewaltsam!
Ich gehe auch davon aus, dass Titus die komischen Geschöpfe bis zum Stehkragen über hatte; er wollte diese nutzlosen und verrückten Experimente endlich beenden. Immerhin war er gerade von seiner letzten Fahrt zur Basisstation zurückgekehrt.

der Abspann:
ich habe ihn nochmal gekürzt. Er ist aber durchaus wichtig, um die sogenannte Prämisse einigermaßen herüberzubringen: ein weiterer Versuch, die Maschine dem Menschen ähnlich zu machen, ist nicht nur kläglich gescheitert, sondern hat auch einige damit verbundene Gefahren aufgedeckt.
Die im letzten Kommentar erwähnten Eigenschaften (Empathie, emotionale / soziale Intelligenz usw.) wurden von den Erfindern grob vernachlässigt. Man baute unter anderem auf sensorische Intelligenz (Leando bemerkt z.B. die Verzerrung in Titus' Stimme), doch auch diese kann die entscheidenden Fähigkeiten (die hier fehlen) nicht wettmachen. Im Gegenteil: das Plus an Intelligenz (im Vergleich zu den im Text genannten Vorgängermodellen, die als willenlose Sklaven bezeichnet werden), aber das Fehlen anderer menschlicher Eigenschaften, führen zu vollkommen bizarren Verhaltensmustern, die in keinem Verhältnis zum Situationskontext stehen.
Übrigens sind die Androids sogar dumm genug, sich ihrer Unterschiede im Vergleich zum Menschen (Titus) nicht bewusst zu werden (auch dazu, wäre eine emotionale Bewertung der Ereignisse notwendig).

Weitere 'Erbsen' sind gern willkommen!

LG
Tula
 



 
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