Lebensherbst

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Kalwap

Mitglied
Lebensherbst

Mit gebeugtem Rücken saß sie am Tisch. Ihre von Altersflecken übersäte Hand führte zittrig den Löffel zum Mund. Geräuschvoll schlürfte sie die Suppe. Dass sie die Hälfte davon verschüttete, schien sie nicht weiter zu stören. Seine Hilfe hatte sie wie immer abgelehnt. Sie konnte richtig böse werden. Manchmal sogar ausfallend. Es schmerzte Ralf, ihren langsamen Verfall beobachten zu müssen.
Ihre Stärke hatte Ralf stets bewundert, denn leicht war ihr Leben nie gewesen. Sein Vater hatte die kleine Familie unmittelbar nach seiner Geburt verlassen und war auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Eine alleinerziehende Mutter war damals in den Augen der christlich geprägten Dorfgemeinschaft ein absolutes Tabu. Aber Mutter war eine Kämpferin und hatte mit eisernen Willen und harter Arbeit dafür gesorgt, dass es ihm an nichts fehlte.

Ralf erinnerte sich wehmütig an seine Kindheit. Sie war es gewesen, die sein Fahrrad reparierte. Sie hatte mit ihm gezeltet. Sie zeigte ihm, wie man flache Kieselsteine übers Wasser tanzen lässt …. Viele Kleinigkeiten, die in den Familien seiner Freunde Väter mit ihren Kindern unternahmen, hatte Ralf mit seiner Mutter gemacht. Einen Vater vermisste er aber trotzdem nie. Ebenso verdankte er ihr, dass er das Gymnasium besuchen konnte. Später finanzierte sie sein Studium. Dafür hatte sie oft bis spät in die Nacht gearbeitet …

Unvermittelt hob die alte Frau den Kopf und riss Ralf aus seinen Gedanken.
„Wann kommt Mama nach Hause?“, wollte sie wissen, „sie hat mir versprochen, eine neue Schleife mitzubringen. Die schöne Rote, die es bei Krügers im Laden gibt.“
"Bald!", erwiderte Ralf. "Sie kommt sicher bald." Sorgfältig wischte er ihr den Mund ab, zog den Rollstuhl vom Tisch zurück und schob ihn auf die Terrasse.
„Sie hat es mir versprochen“, sagte die Alte weinerlich. Dann brach ihre Stimme und sie murmelte nur noch etwas Unverständliches vor sich hin.

Es war ein lauer Frühlingstag. Ihr schlohweißes Haar leuchtete in der Sonne. Ralf zog einen Stuhl heran, setzte sich neben seine Mutter und hielt zärtlich ihre Hand. Aus den Sträuchern und Bäumen tönte lautes Vogelgezwitscher zu ihnen herüber. Ein Lächeln huschte über das von Falten zerfurchte Gesicht der alten Frau. Die ersten Frühlingsboten streckten ihre Köpfe keck den wärmenden Sonnenstrahlen entgegen. Frühling, dachte Ralf. Die Zeit, in der die Natur zu neuem Leben erwacht. Doch seine Mutter war längst am Ende des Herbstes angekommen, auf den schon bald ein ewig währender Winter folgen würde.
 
K

KaGeb

Gast
Hallo Kalwap,

gern gelesen. Paar Ideen dazu:

Mit gebeugtem Rücken [blue]Gebeugt[/blue] saß sie am Tisch. Ihre von Altersflecken übersäte Hand führte zittrig den Löffel zum Mund. Geräuschvoll schlürfte sie die Suppe. Dass sie die Hälfte davon verschüttete, schien sie nicht weiter zu stören. Seine Hilfe hatte sie wie immer abgelehnt. Sie konnte richtig böse werden. Manchmal sogar ausfallend. Es schmerzte Ralf, ihren langsamen Verfall beobachten zu müssen.
Ihre Stärke hatte Ralf stets bewundert, denn leicht war ihr Leben nie gewesen. Sein Vater hatte die kleine Familie unmittelbar nach seiner Geburt verlassen und war auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Eine alleinerziehende Mutter war damals in den Augen der christlich geprägten Dorfgemeinschaft ein absolutes Tabu. Aber Mutter war eine Kämpferin und hatte mit eisernen Willen und harter Arbeit dafür gesorgt, dass es ihm an nichts fehlte.

Ralf erinnerte sich wehmütig an seine Kindheit.

Sie war es gewesen, die sein Fahrrad reparierte. Sie hatte mit ihm gezeltet. Sie zeigte ihm, wie man flache Kieselsteine übers Wasser tanzen lässt ….
[red]Ab dem Satz mit den Kieselsteinen änderst du die Zeitform. Um diesen Fehler zu umgehen, folgender Vorschlag (oder was ähnliches):[/red]

[blue]Sie war es gewesen, die sein Fahrrad repariert hatte, mit ihm zelten war und ihn lehrte, flache Kieselsteine über das Wasser hüpfen zu lassen. [/blue]

Viele Kleinigkeiten, die in den Familien seiner Freunde Väter mit ihren Kindern unternahmen, hatte Ralf mit seiner Mutter gemacht.

Einen Vater vermisste er aber trotzdem nie.
[red]Diesen Satz würde ich erst nach ..."in die Nacht gearbeitet" einfügen und zwar auch in der korrekten Zeitform:[/red] [blue]Seinen Vater hatte er nie vermisst.[/blue]


Ebenso verdankte er ihr, dass er das Gymnasium besuchen konnte. Später finanzierte sie sein Studium. Dafür hatte sie oft bis spät in die Nacht gearbeitet …

Unvermittelt hob die alte Frau [red](nenn sie doch lieber Mutter. Das sie alt ist, weiß der Leser bereits)[/red] den Kopf [strike]und riss Ralf aus seinen Gedanken[/strike].
„Wann kommt Mama nach Hause?“, wollte sie wissen, „sie hat mir versprochen, eine neue Schleife mitzubringen. Die schöne Rote, die es bei Krügers im Laden gibt.“
"Bald!", erwiderte Ralf. "Sie kommt sicher bald." Sorgfältig wischte er ihr den Mund ab, zog den Rollstuhl vom Tisch zurück und schob ihn auf die Terrasse.
„Sie hat es mir versprochen“, sagte die Alte [blue]Mama[/blue] weinerlich. Dann brach ihre Stimme und sie murmelte nur noch etwas Unverständliches [blue]brabbelte[/blue] vor sich hin.

Es war ein lauer Frühlingstag. [strike]Ihr schlohweißes Haar leuchtete in der Sonne.[/strike] Ralf zog einen Stuhl heran, setzte sich neben seine Mutter und hielt zärtlich ihre Hand. Aus den Sträuchern und Bäumen tönte lautes Vogelgezwitscher zu ihnen herüber. Ein Lächeln huschte über das von Falten zerfurchte [blue]faltige[/blue] Gesicht [strike]der alten Frau[/strike]. [strike]Die ersten Frühlingsboten streckten ihre Köpfe keck den wärmenden Sonnenstrahlen entgegen.[/strike] [red]du hast den Absatz bereits begonnen mit: Es war ein lauer Frühlingstag.[/red] Frühling, dachte Ralf.[strike] Die Zeit, in der die Natur zu neuem Leben erwacht. Doch seine Mutter war längst am Ende des Herbstes angekommen, auf den schon bald ein ewig währender Winter folgen würde.[/strike], [blue]Frühling mitten in Mamas Winter.[/blue] [red](Radikale Idee :) )[/red]

Das Ende wäre sonst zu schnulzig.

LG und bin gespannt, was du draus machst.
 
C

Carola Zeissig

Gast
Hallo Kalwap,

eine schöne Kürzestgeschichte. Sehr flüssig erzählt. Nur sehr traurig. Aber vermutlich wahr. Die Natur des Menschen kennt eben für manche kein Erbarmen.

Ein kleiner Verbesserungsvorschlag: Gleich am Anfang hätte stehen sollen, dass die alte Frau Ralfs Mutter ist. So muss der Leser erst ein bisschen nachdenken, wer "sie" wohl ist.

Ansonsten bewundere ich die Schilderung, wie diese Mutter dem Ralf den Vater ersetzt hat. Es ist erzähltechnisch goldrichtig, die Einzeleiten so genau aufzuzählen. So entstehen beim Leser Bilder, welche Leistung diese Mutter erbracht hat.

Das Ralfs Mutter nun dieses Schicksal erleiden musste ... Warum bloß ...?

Sie war alleinerziehende Mutter in einem kleinen Dorf.

Vielleicht waren es die jahrzehntelangen Diskriminierungen der Dorfbewohner, die schließlich die Schaltverbindungen im Gehirn der Frau zerstört haben.

Vielleicht wollte sie sich aus der ungeliebten Gegenwart ausblenden. Wer weiß schon was?

Das sie nun bei ihrem Sohn Ralf leben darf, vermutlich in seinem eigenen Haus, hat die Frau sich wahrlich verdient. Sohn Ralf ist ihre Alters- und Lebensversicherung.

Gute Arbeit!

LG

Carola
 
E

eisblume

Gast
Hallo Kalwap,,

du hast ja jetzt schon so einige Anmerkungen bekommen, ich bin nur grad noch hierüber gestolpert.

Ihre von Altersflecken übersäte Hand führte zittrig den Löffel zum Mund. Geräuschvoll schlürfte sie die Suppe.
Ich finde das unglücklich formuliert, da hier die Hand praktisch so agiert, als hätte sie ein Eigenleben. Damit ist der zweite Satz auch nicht ganz eindeutig, was den Bezug betrifft. Man könnte es durchaus auch so lesen, als würde die Hand die Suppe schlürfen.
Du kannst das aber leicht umstellen, z. B.:
[blue]Mit altersfleckiger Hand führte sie zittrig den Löffel zum Mund, schlürfte geräuschvoll die Suppe. [/blue]

Lieben Gruß
eisblume
 

Kalwap

Mitglied
Herzlichen Dank für die Anmerkungen und Vorschläge.

@ KaGeb
Der Zeitenwechsel gehört (leider) zu meinen Schwachstellen. Schlimm in diesem Fall ist nur, dass es in meiner ursprünglichen Fassung ausnahmsweise richtig gewesen ist und sich erst durch meine ständigen Änderungen die Fehler eingeschlichen haben.
Ralfs Mutter habe ich bewusst einige Male als 'Alte' oder 'alte Frau' bezeichnet. Ich wollte eine Distanz vom Leser zu ihrer Person herstellen. Sie sollte für den Leser nur eine von vielen alten Menschen bleiben und nur für Ralf, der sie liebt, bewundert und einen innigen Bezug zu ihr hat, etwas Einzigartiges und Besonderes sein. Deswegen weiß ich noch nicht, ob ich in dem Punkt Änderungen vornehme.
Dein Vorschlag zum Ende ... nun, ich finde den gar nicht mal so krass und denke auf jeden Fall über einen anderen Schluss nach. Mal schauen, was dabei herauskommt :).

@ Eisblume

Du hast natürlich völlig recht mit der unglücklichen Formulierung. Man könnte nicht nur denken, die Hand schlürft die Suppe, ich habe jetzt selbst den Eindruck, sie tut es auch ;-). Wird auf jeden Fall geändert.

@ Carola Zeissig

Ich stimme dir zu, die Geschichte ist traurig. Nur leider auch Alltag in vielen Familien. In der Regel sind es die Töchter oder Schwiegertöchter, die sich kümmern. Hier ist es der Sohn, vielleicht eher die Ausnahme, erklärt sich aber aus der Beziehung, die er zur Mutter hatte bzw. hat.

Liebe Grüße
Martina
 

Kalwap

Mitglied
Lebensherbst

Gebeugt saß sie am Tisch. Mit ihrer von Altersflecken übersäten Hand führte sie zittrig den Löffel zum Mund und schlürfte geräuschvoll die Suppe. Dass sie die Hälfte davon verschüttete, schien sie nicht weiter zu stören. Seine Hilfe hatte sie wie immer abgelehnt. Sie konnte richtig böse werden. Manchmal sogar ausfallend. Es schmerzte Ralf, ihren langsamen Verfall beobachten zu müssen.

Ihre Stärke hatte Ralf stets bewundert, denn leicht war ihr Leben nie gewesen. Sein Vater hatte die kleine Familie unmittelbar nach seiner Geburt verlassen und war auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Eine alleinerziehende Mutter war damals in den Augen der christlich geprägten Dorfgemeinschaft ein absolutes Tabu. Aber Mutter war eine Kämpferin und hatte mit eisernen Willen und harter Arbeit dafür gesorgt, dass es ihm an nichts fehlte.
Ralf erinnerte sich wehmütig an seine Kindheit.

Sie war es gewesen, die sein Fahrrad repariert hatte. Mit ihr war er zelten und gemeinsam hatten sie flache Kieselsteine übers Wasser tanzen lassen ... Viele Kleinigkeiten, die in den Familien seiner Freunde Väter mit ihren Kindern unternahmen, hatte Ralf mit seiner Mutter gemacht. Ebenso verdankte er ihr, dass er das Gymnasium besuchen konnte. Später finanzierte sie sein Studium. Dafür hatte sie oft bis spät in die Nacht gearbeitet …

Unvermittelt hob die alte Frau den Kopf. „Wann kommt Mama nach Hause?“, wollte sie wissen, „sie hat mir versprochen, eine neue Schleife mitzubringen. Die schöne Rote, die es bei Krügers im Laden gibt.“
"Bald!", erwiderte Ralf. "Sie kommt sicher bald." Sorgfältig wischte er ihr den Mund ab, zog den Rollstuhl vom Tisch zurück und schob ihn auf die Terrasse.
„Sie hat es mir versprochen“, sagte die Alte weinerlich. Dann brach ihre Stimme und sie brabbelte vor sich hin.

Es war ein lauer Frühlingstag. Ralf zog einen Stuhl heran, setzte sich neben seine Mutter und hielt zärtlich ihre Hand. Aus den Sträuchern und Bäumen tönte lautes Vogelgezwitscher zu ihnen herüber. Ein Lächeln huschte über das faltige Gesicht.
Frühling …, dachte Ralf und spürte die wärmende Sonne auf seiner Haut, während die Hand seiner Mutter immer kälter wurde.
 

anbas

Mitglied
Hallo Kalwap,

insgesamt kommt die Geschichte, wie ich finde, gut rüber. Sie berührt mich. Die Distanz, die Du laut der Antwort an KaGeb erreichen möchtest, empfinde ich als passend und gut dosiert.

Stilistisch hätte ich am ersten Absatz zu "nörgeln". Die vielen "sie" stören zumindest meinen Lesegenuß. Auch einen Satzanfang mit "Dass" ist nicht so nach meinem Geschmack.

Liebe Grüße

Andreas
 
Was mir hier gefiel: 1. der Stoff, 2. seine Aufbereitung / Gliederung, 3. einige spezielle Details wie z.B. die Fahrradreparatur und die Kieselsteine - das macht den Text insgesamt glaubwürdig.

Was ich bemängeln möchte: Mir enthält der Text zu viele Einzelheiten, die zwar alle realistisch sind, doch infolge vieltausendmaliger Erwähnung in vergleichbaren Texten inzwischen etwas matt und abgegriffen wirken. Das beginnt für mich schon mit den ersten zwei Sätzen. Ich sehe eine idealtypische Greisin vor mir, an der keines der gewohnten Details fehlt ... Damit zusammenhängend: Vorsicht vor allzu leicht sich anbietenden Adjektiven und Adverbien wie z.B. "eiserner Wille", "harte Arbeit", "sich wehmütig erinnern". Dadurch bekommt die an sich kraftvolle Geschichte unnötigerweise etwas Unoriginelles.

Ich habe mit "6" bewertet.

Arno Abendschön
 

Kalwap

Mitglied
Vielen Dank für die letzten beiden Kommentare.
@ Andreas
Eine Alternative zu dem "sie" wäre nur ein erneutes "alt" in irgendeiner Form gewesen, das mir ein dem kurzen Text aber zuviel geworden wäre. Und das Vermeiden des Wortes "Mutter" hatte ich ja erklärt. Ich behalte die Anmerkung das aber trotzdem im Hinterkopf, denn ich finde es doch sehr interessant, was der einzelne Leser als störend empfindet.

@ Arno Abendschön:
Ich bin von einer hochbetagten Frau ausgegangen, die damit automatisch zur Kriegs- bzw. Nachkriegsgeneration gehört. Als "Vorbild" dienten einige ältere Leute in meiner Umgebung und rein optisch gesehen, sind es die klassischen alten, runzeligen Müttchern (oder auch Väterchen), deren Lebensgeschichte oft ähnlich ist. Inwieweit die Geschichte deswegen klischeehaft ist, darüber habe ich eine ganze Weile nachgedacht und bin immer noch zu keinem konkreten Ergebnis gekommen. Wäre die Geschichte weniger mit Klischees behaftet, hätte ich eine ca. 60-jährige zugrunde gelegt?
 



 
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