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Dunkle Nächte können erkenntnisreicher sein als diese hellen schwülen Sommertage jetzt im Juli.
Und seit Jahren gab es ohnehin nur noch wenige Nächte, in denen Dietrich Folkertsen wirklich gut und tief schlafen konnte. Seit ein paar Monaten hatte er sich zudem angewöhnt, in manchen dieser schlaflosen Nächte leise und von seiner tief schlafenden Frau Hanna unbemerkt aufzustehen und ihr Haus auch noch weit nach Mitternacht zu verlassen. Er ging zunächst ruhelos und später ruhiger im Dorf umher. Manchmal kam er sogar erst zum gemeinsamen Frühstück zurück und erzählte Hanna, was ihm begegnet war und welche Gedanken ihn verfolgt hatten.

Die Dörfler legten sich früh in ihre Betten. Die meisten von ihnen arbeiteten in der 40 km entfernten Stadt und mussten deswegen zumeist sehr früh aufstehen, um rechtzeitig am Arbeitsplatz sein zu können. Und jene, die inzwischen Rentner und Pensionäre waren, blieben in der Regel diesem Schlaf-Rhythmus treu.
Zwischen Mitternacht und fünf Uhr in der Frühe traf er somit selten jemanden in Walheim.
Allerdings gestern Nacht begegnete ihm gegen ein Uhr ein grauer Lockenkopf mit einem zotteligen Vollbart, der ihm bis auf die eingefallene Brust reichte. Er hatte ihn noch nie gesehen und dennoch kam er ihm bekannt vor.

Dietrich Folkertsen war vor genau einer Woche zweiundsiebzig geworden. Und alle, die ihn kannten, behaupteten, er sehe eigentlich sehr viel jünger aus. Und bis auf das Wort „eigentlich“ klangen diese Behauptungen auch äußerst schmeichelhaft.
Der bärtige Lockenkopf allerdings machte den Eindruck, als wäre er schon um einiges älter als 72. Sein Gang war ein aufrechter und doch wackeliger. Seinen Kopf streckte er gleich dem einer Schildkröte aus seinem weiten Pullover, als trüge er einen schweren Panzer mit sich herum.
„Sag Werner zu mir.“ Bot er mit leicht brüchiger Stimme sofort an. „Ich komme aus Essen und wohne zurzeit da drüben. Mit dem ausgestreckten rechten Arm zeigte er auf Karin Bachs Fachwerkhaus, in dem sie eine kleine Pension betrieb. Vor dem Haus beleuchtete eine gußeiserne Laterne den mit niedrigen Buchsbaumhecken symmetrisch aufgeteilten Garten und die beiden weißen Garagen.
Werner strich den überlangen Pullover glatt und kam ein paar Schritte auf Dietrich zu. „Ich konnte nicht schlafen, obwohl es hier im Dorf ja wirklich sehr, sehr ruhig ist. Und allein wegen der Ruhe ziehe ich immer einmal wieder für ein paar Tage aufs Land. Hier in Walheim war ich bisher noch nicht. Doch die hiesige Stille hat irgendwie etwas Besonderes. Ich brauche diese Stille einfach. Muss mich allerdings immer wieder daran gewöhnen, obwohl es in meinem Alter ohnehin täglich stiller um mich wird.“
Dietrich lächelte. „Ja, das kenne ich. Nicht schlafen zu können, weil man sich so entsetzlich leer fühlt. Das macht Stille unerträglich.“
Werner setzte sich zu ihm auf die Gartenmauer beim alten Himperich. Dort stand eine der wenigen Straßenlaternen, welche die ganze Nacht alles um sie herum in dottergelbes Lic ht tauchte.
Franz Himperich hatte bis vor zwei Jahren als Schuster in Walheim gearbeitet und manchen Schuh auch dann noch reparieren können, wenn dessen Besitzer ihn eigentlich schon längst wegwerfen wollte. Nach einem Schlaganfall konnte er den rechten Arm kaum noch bewegen. Zuerst hatte seine Frau versucht, die Werkstatt weiter zu führen. Schließlich war sie Franz viele Jahre zur Hand gegangen. Aber sie bekam die Schuhe der Dörfler einfach nicht so perfekt hin wie ihr Mann. Seitdem warf auch Dietrich seine alten Schuhe in den Altkleider-Container neben dem Dorfgemeinschaftshaus.
„Nein, dieses verdammte, dieses endlose Nichts ist das nicht.“ Werner seufzte. „Obwohl wir Alten immer schneller darauf zugehen. Und immer schneller kommt es uns auch entgegen.“
Folkertsen schwieg. Er wusste dazu nichts zu sagen, obwohl auch er immer öfter an sein Ende dachte, und es ärgerte ihn, im Licht der Straßenlaterne den Bärtigen bedächtig nicken zu sehen, als habe der bereits alles Notwendige vorbereitet und erfahren. Widerspruch wäre ihm viel lieber gewesen. Aber was soll auch danach noch sein? An einen Gott, der in der Ewigkeit auf die gutgläubigen Menschen wartet, kann er sowieso längst nicht mehr glauben.
„War in jungen Jahren ein eifriger Kirchgänger. Habe viel gebetet, bin aber selten vom lieben Gott erhört worden. Und heute, wenn alles bei mir mal wieder nicht so richtig klappen will, dann verfalle ich immer noch automatisch in diese nutzlose Beterei.“ Dietrich grinste ungewollt und ihn nervte wiederum Werners Nicken, ohne zu wissen, was ihn daran ärgerte.
Irgendwo begann ein kleiner Hund zu kläffen. Und ein größerer, der offenbar glaubte, sein Revier verteidigen zu müssen, antwortete ihm wütend.
„Das Leben funktioniert auch ohne so einen Gott. Aber, ob es wirklich besser ohne ihn klappt? Wer kann das schon wissen?“ knurrte Dietrich und stellte sich einmal mehr vor, was sein Gott, angenommen, es gäbe ihn wirklich, jetzt wohl über ihn denken würde, vorausgesetzt der würde sich überhaupt Gedanken über jedes seiner Geschöpfe machen. „Du Angeber“ würde er vermutlich denken und „Was ist denn mit Deiner Angst, mein Lieber? Vor allem mit deiner Angst vorm Leben? Traust Dich doch sowieso nichts, Du Feigling.“
„Eigentlich habe ich überhaupt keine Angst vorm Tod!“ Dietrich kratzte sich am Hals und Werner griff sich erst in die Locken und dann in den Bart. „Die Angst habe ich eigentlich auch nicht. Wenn es vorbei ist, ist es vorbei mit dieser ständigen Anstrengerei. Nichts ist ruhiger als die ewige Ruhe. Aber vorher musst Du erstmal sterben. Allerdings ist der Schlaf doch der so genannte kleine Tod… Und wenn wir uns noch nicht einmal auf den einlassen können…?“
In einem der Vorgärten an der Dorfstraße jaulten zwei Katzen auf wie kleine Kinder.
Dietrich konnte Werners Gesicht im Licht der Straßenlaterne kaum erkennen und gaubte dennoch, darin nicht gerade Erleichterung sehen zu können. Wenn Gott alles wusste, dann wusste er zumindestens von ihm selbst, dass ihm das Leben zurzeit viel zu mühsam war. Immer öfter wollte er eigentlich einfach nur noch seine Ruhe habe. Und zwar nur seine Ruhe.
„Was denkst Du, kann der Gott da oben Leute gebrauchen, die vorm Leben kapitulieren?“
Werner schüttelte den Kopf. „Soll das etwa heißen, dass Du uns beide für lebensmüde hältst?“
Dietrich Folkertsen atmete tief ein und leise stöhnend aus. „Naja, diese ständigen schlaflosen Nächte gehen mir immer mehr aufs Gemüt. Wer keinen Schlaf findet, der wünscht sich eine andere, eine wirkliche Ruhe.“
Unweit über Ihnen flog ein blinkender Düsenjet Richtung Flughafen Köln/Bonn. Dietrich legte den Kopf in den Nacken. „Ja, es gibt noch immer kein Nachtflugverbot hier. Auch die lassen einen oft nicht schlafen.“ Gemeinsam warteten sie schweigend, bis der Fluglärm abebbte.
Werner wischte sich mit dem Pulloverärmel über das Gesicht. „Vermutlich wirst du aber diese ewige Ruhe gar nicht mehr genießen können. Soweit ich weiß, fühlen und hören doch sowieso Tote nichts.“
Folkertsen schwieg. Ein kluger Gott würde ihm vermutlich Mut machen und ihn zwecks Vorfreude vielleicht ein wenig ins Paradies blicken lassen. Aber sein Gott vermied Anreize. Werbung hatte der offenbar nicht nötig. Da wundert es einen auch nicht, wenn zurzeit so viele Leute aus den Kirchen austraten.
Werner ließ sich von der Gartenmauer gleiten, ging ein paar Schritte die dunkle Dorfstraße hinauf, kehrte langsam um und blieb schließlich nur einen Schritt entfernt vor Dietrich stehen.
„Weißt Du auch manchmal nicht mehr, wohin Du eigentlich noch willst?“ murmelte er und versuchte, ihn anzustarren. Ein kräftiger Wind ließ die beiden Bäume in Himperichs Vorgarten aufrauschen.
Dietrich legte den Kopf schief, als würde er lauschen. Werner lächelte. „Mein Gehör lässt mich immer mehr im Stich. Aber in der Nacht höre ich deutlich besser.“ Ein halber Mond tauchte neben einer grauen Wolke auf.
Dietrich ging ein paar Schritte in die Dunkelheit der Seitenstraße, die zum Kriegerdenkmal führt. Hier gab es keine Straßenlaternen. Und selbst das Mondlicht konnte die von Kiefern und hohen Lebensbäumen gesäumte schmale Straße nicht erhellen. Dietrich blieb eine Zeit lang vor dem Denkmal stehen. „Bewahret den Frieden“ stand dort in goldenen Buchstaben. Aber jetzt in der Dunkelheit konnte er weder den Spruch noch die Namen der Gefallenen des ersten und zweiten Weltkriegs lesen. Dennoch blieb er stehen und horchte in die Stille, die ihm hier noch lautloser zu sein schien. Schließlich ging er zögernd zurück.
Werner saß wieder auf Himperichs Mauer und zupfte sich den Bart glatt.
„Wo bist Du gewesen?“
Dietrich schwieg lange. Schließlich sagte er in seinem Predigerton, von dem er wusste, dass viele ihn nicht mochten: „Das Leben ist ganz und gar anders. Und Paradiese sind etwas für die Ewigkeit nach dem Tod.“
Werner schüttelte den Kopf. „Wie meinst Du das?“
„Naja, das Leben ist immer dann noch in Ordnung, wenn nicht allein die Ordnung zählt. Ist alles geordnet, ist es eher tot als lebendig. Wahrscheinlich wollen deswegen die meisten vor ihrem Tod noch alles irgendwie ordnen.“
Werner nickte. „Das Leben ist doch wohl eher chaotisch. Oder?“
Dietrich Folkertsen schwieg.
Von irgendwoher kam wüstes Geschrei. Wahrscheinlich aus dem Haus von Inge und Klaus Hülsenbusch. Ihr altes, verschiefertes Haus stand jedenfalls dort, woher das Gebrüll kam. Die beiden stritten sich öfter und lauter, als alle anderen im Dorf. Wahrscheinlich war Klaus wieder einmal besoffen nach Hause gekommen.
Ein Motorengeräusch näherte sich sehr schnell und übertönte die ehelichen Streiter. Ein junger Fahrer – die Fenster seines BMWs weit geöffnet – raste vorbei. Der Auspuff röhrte und die Bässe der Stereoanlage wummerten einen besonders harten Rhythmus. Ihm folgte ein tiefer gelegten Golf mit schwarz getönten Scheiben und noch lauter röhrenden Auspüffen.
„Jetzt fahren die auch schon hier ihre Rennen. Neulich sind gerade erst wieder zwei unbeteiligte Fußgänger in Köln bei so einem illegalen Rennen umgekommen.“ Dietrich blickte in die Richtung, in welche die Autos verschwunden waren, riss die Arme hoch und schüttelte den Kopf.
„Für viele ist das Leben nur als gefährliches Experiment zu ertragen.“ Werner, legte zunächst behutsam einen Arm auf Dietrichs Schulter und stützte sich schließlich schwer auf ihm ab.
„Diesen jungen Typen kann es offenbar nie schnell genug gehen. Nur wir, wir haben Zeit übrig und fühlen uns dabei noch schuldig.“
„Ich fühle mich nicht schuldig. Habe mir im Leben ausreichend Zeit verdient.“ Dietrich riss sich los und brachte Werner damit ins Wanken. „Oh, entschuldige.“ Er versuchte, den schweren Mann neben sich erneut zu stützen, setzte ihn und sich wieder auf Himperichs Mauer und lachte leise.
Die Motorengeräusche kamen zurück. Der BMW und der Golf rasten vor ihnen vorbei.
Werner sagte etwas. Dietrich verstand ihn nicht und murmelte: „Ich glaube, ich bin jetzt müde genug. Und wenn ich nicht spontan etwas tue, muss ich mir für alles eine vernünftige Erklärung suchen.“
Werner nickte. „Kannst einfach so nach Hause gehen. Wenn ich hier wohnen würde, täte ich das auch. In Essen kann ich das nicht. In Essen ist Lärm zu Hause, viel und unaufhaltsam Lärm. Hier wird der Lärm wenigstens immer wieder unterbrochen.“
Dietrich tätschelte Werner den Oberarm. „Ich werde meiner Hanna morgen beim Frühstück von Dir berichten. Sie wird mir vermutlich wieder einen ihrer Träume erzählen. Sie träumt eigentlich immer und erlebt dann nachts ihre Abenteuer. Ich träume so gut wie nie.“
„Ich hoffe, Du kannst ihr nur Gutes von mir erzählen.“
Werner öffnete die Arme und drückte Dietrich so fest an sich, dass er sich nur mühsam los machen konnte. Er stieß ihn zurück und ging, ohne sich noch einmal umzusehen.

„Was hattest Du gegen ihn?“ Hanna schlürfte ihren Kaffee, wischte mit der rechten Hand über den Frühstückstisch und sah ihm in die Augen.
„Weiß ich eigentlich nicht. Ich hatte das Gefühl, er wollte mich nicht mehr hergeben. Vielleicht sollte ich gleich noch mal zu Karin in die Pension gehen.“
Hannas Hand blieb vor der seinen liegen. „Vielleicht!“

„Er ist ganz früh und ohne Frühstück mit dem Taxi abgereist. Eigentlich hatte er sogar vorgehabt, noch zwei Tage zu bleiben.“ Karin zuckte mit den Schultern. „Und als ich „Auf Wiedersehen“ gesagt hab, meinte er leise, er käme auf keinen Fall wieder. Ob es hier bei mir nicht zu seiner Zufriedenheit gewesen sei, hab ich ihn gefragt. Da hat er mich in den Arm genommen. Aber er müsse unbedingt rechtzeitig in Essen sein. Im Abfalleimer im Bad habe ich jede Menge unterschiedlicher Tabletten gefunden. Muss wohl ziemlich krank gewesen sein.“
 

Maribu

Mitglied
Hallo Karl,

eine zutreffende Überschrift und eine gute Idee, die beiden Alten mitten in der Nacht über Gott und die Welt philosophieren zu lassen.

Mich hätte schon interessiert, wie Werner in Essen wohnt und mit wem. Offenbar ist er sehr krank. Wollte er in der abgelegenen Pension sterben? Er fährt ohne ersichtlichen Grund zurück ins Ruhrgebiet und hat sich vorher von Dietrich und auch der Wirtin - für die beiden unangenehm - theatralisch verabschiedet.

Dietrich hat ja immerhin noch seine Frau. Weshalb auch bei ihm diese resignative Stimmung?
Ich würde es begründen! Stattdessen ist die Erwähnung des Schusters Himperich und seiner Frau für die Geschichte nicht relevant.
Lieben Gruß
Maribu
 
Hallo Maribu,
Danke für Deinen Kommentar.
Werner kommt aus der Anonymität der Stadt und bleibt letztlich im Dorf auch relativ anonym. Und Himperich soll für ein Alter im Dorf stehen, das Anonymität nahezu ausschließt, da im Dorf jeder von jedem sehr viel weiß ...
Von Werner würde ich nur ungern mehr erzählen, deutet er doch vieles an, mit dem er wieder in die Anonymität zurückkehrt - einen anonymen Tod eingeschlossen.
Aber ich denke dennoch gern weiter über Deine Einwände nach.
Herzliche Grüße
Karl
 



 
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