Leerstellen müssen gefüllt werden

werman

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Wie gewohnt setzte er sich nach dem Abendessen gleich an die Hausaufgaben. Ein kurzer Blick in die Agenda verriet ihm, was ob war. Ein Aufsatz, nichts leichter als das, dachte er sich und lächelte selbstgefällig in sich hinein. Er war gut in Aufsätzen, genauer gesagt war er allgemein ein überaus guter Schüler, seine Eltern nannten ihn ihr kleines Genie. Oftmals belächelte er andere Schüler, die Mühe in der Schule hatten. "Das kommt davon, wenn man sich abends draussen herumtreibt und sich nicht auf die Schule konzentriert", pflegte er sich zu sagen.
Das heutige Thema des Aufsatzes lautete: Der beste Tag meines Lebens. Er begann zu überlegen und hämmerte dazu rhythmisch auf die Leertaste seines Computers. Doch ebenso wie auf dem Bildschirm war in seinem Kopf nichts. Eine grosse Leerstelle. Er grübelte krampfhaft, doch je länger er versuchte sich an einen Tag zu erinnern, der nicht bloss aus Schule und Hausaufgaben bestand, desto erdrückender war die Leere in seinem Kopf. Frustration machte sich in ihm breit. Theatralisch warf er sein Schulbuch gegen die Wand und verspürte diesen unbändigen Drang nach draussen zu gehen. Er war nie um diese Zeit draussen, seine Eltern verboten es ihm, es sei viel zu gefährlich. Doch für einmal kümmerte er sich nicht um seine Eltern. Wie besessen stürmte er aus dem Haus. Er wollte in die Stadt und stieg in den menschenleeren Bus ein, der direkt vor seinem Haus anhielt. Er setzte sich ganz nach hinten in die Ecke und schaute wie in Trance auf die vernebelte Nacht. Ein leichtes Rütteln an der Schulter riss ihn aus diesem ihm völlig unbekannten Zustand der Unzufriedenheit. "Ich wollte nur sichergehen, dass du nicht eingeschlafen bist, die nächste Station ist Endstation", sagte sie lächelnd. Er brachte bloss ein knappes "Danke" über die Lippen. "Wo gehts denn hin zu so später Stunde?", hakte sie nach. Er erlebe gerade den besten Tag seines Lebens, antwortete er trotzig. Da wolle sie dabei sein, rief sie erfreut. Ehe er wusste, wie ihm geschah, nahm sie ihn bei der nächsten Haltestelle an die Hand und zerrte ihn aus dem Bus. "Der beste Tag deines Lebens, was willst du zuerst machen?", fragte sie ihn aufgeregt. "Wir werden so viel Spass haben!" "Vielleicht könnten wir zu McDonald's gehen und danach ins Kino oder so", schlug er unsicher vor. Sie konnte sich kaum halten vor lachen. "Wie alt bist du, 9? Ich werde dir echten Spass zeigen, komm mit."
Ohne genau zu wissen, weshalb, ging er ihr nach. Die Mädchen auf seiner Privatschule hatten noch nie so mit ihm gesprochen, sie war irgendwie anders. Die grossen Neonreklamen warfen ein surreal anmutendes Licht auf ihr Gesicht. Sie war hübsch, sehr hübsch sogar, fand er, als er ihr durch das Strassengewirr der Stadt folgte. Ihr strohblondes Haar funkelte in der dunklen Nacht, als ob es den Sternen am Himmel Konkurrenz machen wollte.
Sie hielten vor einem abgelegenen, verlassen scheinenden Gebäude. Es war das alte Hallenbad, welches seit Jahren nicht mehr in Betrieb war, jedoch nie abgerissen worden war. Durch die grosse Glasfront konnte man die gespenstisch leeren Becken sehen. Die Eingangstür war eingetreten, sie schienen nicht die ersten zu sein, die ins Hallenbad eindringen wollten. Sie huschten schnell hinein. "Und jetzt willst du ins leere Becken springen oder was?", fragte er perplex. "Ich mag keine leeren Sachen, leere Stellen müssen gefüllt werden", antwortete sie entschlossen. Sie kehrte mit einem massiven Wasserschlauch zurück und begann das winzig kleine Kinderbecken zu füllen. Bis auf die Unterwäsche ausgezogen, hüpfte sie schliesslich jauchzend ins Becken. "Leere Stellen müssen gefüllt werden!", schrie er aus vollem Halse, als er ihr mit einem wilden Überschlag folgte.
 



 
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