Lehrer damals

Damals in der Oberschule gab es eine spezielle Art von Aufklärung, die man im Rückblick sich gern erspart hätte. So schweifte die Lateinlehrerin einmal ab und ereiferte sich fachfremd über gewisse Stellen bei Goethe, und zwar aus dem Erlkönig: Willst, feiner Knabe, du mit mir gehen? Sie verzog das Gesicht zu verächtlicher Grimasse und fuhr fort: Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt … Abscheulich sei das, nicht präsentabel der Jugend. Ob es uns allen so grauste wie ihr? Oder war erst jetzt unser Interesse geweckt, wenn auch weniger an Goethe als … ja, woran eigentlich? Die Dreizehnjährigen sahen stumm vor sich auf die Schulbänke.

Jahre später im Französischunterricht. Racine wurde durchgenommen, es fiel der Begriff L’amour impossible und darüber scherzte der Lehrer: L’amour impossible – nicht dass das einer falsch versteht, so ist es nicht gemeint … Jetzt schmunzelten schon alle - fast alle. Die es unterließen, fühlten sich beinahe schuldig.

Es ging aber in dieser Sache gar nicht um Schuld, konnten die Beunruhigten bald im Religionsunterrricht erfahren. Der evangelische Pfarrer der kleinen Stadt schweifte auch mal ab, und zwar in die Familiengeschichte, die auch Zeitgeschichte war. Eine Tante von ihm war mit einem Homosexuellen unglücklich verheiratet gewesen und auf etwas makabre Weise wieder frei geworden: Goebbels habe wunschgemäß dafür gesorgt, dass der Gatte an der Ostfront einem Himmelfahrtskommando zugeteilt wurde. Beziehungen dieser Art hatte also die Tante des Pfarrers gehabt, der jetzt rhetorisch fragte: Wie findet ihr das? Es ist kein Vergnügen, einen Homosexuellen als Gatten zu haben, aber das geht wohl doch zu weit. Schließlich ist es so etwas wie Krankheit, so ähnlich wie Krebs …

Die Kollegen witzeln hinter seinem Rücken und sagen grinsend: Er fürchtet sich vor Darmkrebs … Das erzählte mir in Berlin im Jahrzehnt darauf ein junger Sonderschullehrer, schwul wie ich. Er selbst sei daher auf der Hut und gebe nichts preis. Peinlich seien schon ihre Kommentare beim Sportunterricht des anderen. So tuschelten sie dann: Schau an, wie er ihm Hilfestellung gibt!

Gewiss, das sind sehr alte Geschichten, heute unvorstellbar, so versichert man uns. Lehrer? Sind auch nur Menschen.
 
Hallo Arno,
immer, wenn ich denke, dass Schwule es auch bei uns nicht einfach haben, fallen mir die Verhältnisse in den arabischen Ländern ein. Die betroffenen Männer beneiden Euch in Deutschland bestimmt um die Freiheit hier. Auch wenn nicht alle Vorurteile beseitigt sind.
Irgendwelche Religionen sind und waren schon immer total sexfeindlich, auch der Sexualität von Frauen gegenüber. Von gleichgeschlechtlicher Liebe gar nicht zu reden. Was haben die ganzen Priester und Hodschas und auch Rabiner (besonders die Chassidim) bloß gegen Sex.
Ich möchte ja nicht wissen, wie oft eine muslimische Frau feststellt, dass der Mann, mit dem sie verheiratet wurde, schwul ist. Das wird natürlich vertuscht.
Und bei Frauen dieses Jungfrauending.
Die armen türkischen Mädels, die keine Jungfrau mehr sind, müssen sich ja wieder zunähen lassen, hab ich gehört, damit das nicht rauskommt, dass sie schon einen Mann erkannt haben. Als wenn das so schlimm ist.
Gruß Friedrichshainerin
 
Ach, Friedrichshainerin, das klingt mir etwas zu eurozentristisch. Überblickt man historisch lange Zeiträume, schneiden asiatische und orientalische Kulturen im Vergleich mit uns gar nicht so schlecht ab. Ich will aber hier insofern nicht in eine Sachdiskussion eintreten.

Jedenfalls bezieht sich mein Text auf einen bestimmten historischen Zeitabschnitt und einen kleinen Ausschnitt daraus: Schule in Deutschland vor ca. 60 Jahren. Es ging mir darin primär um Lehrer, weniger um Schüler. ich wollte keine Narben vorweisen, die gibt es bei mir nicht. Geklopfte Sprüche dieser Art scheinen eher immunisierend gewirkt zu haben. Was mich bei der Niederschrift beschäftigte, war das Erstaunen, dass seinerzeit kultivierte, gebildete und oft auch sonst liberal eingestellte Lehrer sich so äußern konnten. Der Pfarrer und Religionslehrer z.B. verstand sich als ausgesprochen progressiv (theologisch wie politisch). Diese Verwunderung führt dann bei mir zu zwei Fragen: 1. Welche Bedeutung kommt Lehrern bei der Weitergabe von Ressentiments zu? - 2. Wie wird in 50 Jahren über die Lehrer von heute gedacht und geschrieben werden, vor allem über ihre Standardüberzeugungen?

Schöne Abendgrüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

da schickst Du einen aber schön auf eine Zeitreise - ich war prompt in meinem jungen Petra-Kopf und überlegte, was ich von meinen Lehrern eigentlich wahrgenommen habe - ob mir so etwas aufgefallen wäre. Ab wann habe ich eigentlich gewusst, dass es Homosexualität gab? Keine Ahnung!
Kurz nachgedacht - ich glaube, Kinder sehen sehr gut, mit wem sie es zu tun haben - aus einer schon individuellen Sicht - ob sie Vorurteile prägen können? Nicht mehr als andere Erwachsene, die Macht über uns haben. Ich sehe diesen Religionslehrer vor mir, imaginiere die Situation - ich hätte ihm nicht getraut, nicht wegen der latenten Homophobie, sondern der Nonchalance, mit der das Grauen als Erfüllungsgehilfe genannt wurde.

Liebe Grüße
Petra
 
Ich sehe diesen Religionslehrer vor mir, imaginiere die Situation - ich hätte ihm nicht getraut, nicht wegen der latenten Homophobie, sondern der Nonchalance, mit der das Grauen als Erfüllungsgehilfe genannt wurde.
Dieser Lehrer, der hauptberuflich Pfarrer war, ist mir als freundlich und zugänglich in Erinnerung geblieben. (Er lebt nicht mehr und ich werde seinen Namen nicht nennen.) Zugleich hatte er eine Eigenart im Auftreten, die dich, liebe Petra, vielleicht auch misstrauisch gemacht hätte. Wenn er über den Schulhof oder die Flure ging, von einer Unterrichtsstunde zur anderen, stemmte er das Buch, aus dem er gerade vortrug, mit einer Hand ostentativ in die Höhe, als wäre er ein Gewichtheber. Das Buch überragte dabei sogar die Schulter. Das fand ich damals schon arg geschauspielert: Seht her, ich bringe euch Weisheit und Wahrheit. Das Buch war fast immer eines von Rudolf Bultmann über Entmythologisierung. Es war sozusagen die Bibel des Pfarrers und damit langweilte er uns hartnäckig, ohne uns den Inhalt verständlich machen zu können. Ob er Letzteres wahrnahm und ob es ihn dann interessierte, ich weiß es nicht.

Danke für deinen Kommentar.

Liebe Grüße
Arno
 

Agnete

Mitglied
Ich lese hier nicht nur Schwule, Arno, sondern auch Pädophilie. Die heutige Gleichstellung der Homosexuellen und Anderen ist gut, aber die Pädophilie muss nach wie vor verpönt sein. Im Übrigen mochte ich die alten Lateiner. Sie haben kluge sachen gesagt... Lächeln von Agnete
 
aber die Pädophilie muss nach wie vor verpönt sein.
Bin auch ganz dieser Meinung, Agnete. Die sachlich falsche Gleichsetzung von Knabenliebe und Homosexualität ist allerdings nicht meine Erfindung. Sie wurde lange Zeit und wird zum Teil noch immer zum Zweck der Diffamierung betrieben. Insofern konnte ich schon eine Reihe bilden von den Sprüchen der Lateinlehrerin zu den weiteren Zitaten. Gerade das letzte Beispiel aus dem Sonderschulmilieu zeigt, wie so etwas abläuft. Die Kollegen erfahren, dass einer unter ihnen homosexuell ist, und dann verdächtigen sie ihn sogleich der Päderastie. Er kann nicht mal den Sportunterricht auf die allgemein übliche Weise gestalten, ohne argwöhnisch beobachtet zu werden.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
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