Friedrichshainerin
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<<Von alldem, das wir den ganzen Tag lang in der Schule tun, – was davon hat eigentlich einen Zweck? Wovon hat man etwas? Ich meine etwas für sich haben – du verstehst? Man weiß am Abend, daß man wieder einen Tag gelebt hat, daß man so und so viel gelernt hat, man hat dem Stundenplan genügt, aber man ist dabei leer geblieben, – innerlich meine ich, man hat sozusagen einen ganz innerlichen Hunger>> Robert Musil „Die Verwirrungen des Zöglings Törless“
Ich find es so lustig, wenn sie von einem, der in die Schlagzeilen geraten ist, entweder weil er er einen umgebracht hat, oder weil er Rockstar geworden ist, schreiben, dass er gelernter Schuhmacher ist. Bloß weil er mit sechzehn mal dieses Handwerk erlernt hat.
Eine Frauenstimme leiert: „Der Tag als Cony Cramer starb, als alle Glocken...“ Bei Achtundachtzig-Acht-Berlin spielen sie wieder mal den Song. Gerade mit ihm verbinden sich für mich eigenartige Erinnerungen. Ich bin wieder 16 und Lehrling in der Landwirtschaft. Wenn wir Fahrschule in Stralsund hatten, gingen wir mit unserem Fahrlehrer immer zum Mittagessen in eine abgerockte Kneipe. Das Essen schmeckte genauso abgerockt. Es gab die fadesten Kohlrouladen von der Welt. Das Personal lief mit einem Gesicht rum, als hätte man ihnen gerade ihr Todesurteil verlesen.
Sie kriegten da absolut gar nichts hin, nicht mal eine Boulette konnten sie braten. Als wenn das nicht reicht, lief dazu noch jeden Mittag eine schreckliche Musik. Jedesmal die gleiche Kassette. Wenn sie zuende war, wurde sie zurückgespult, und das Elend fing von vorne an. Sie hatten wohl bloß die eine.
Die Melodie von „Cony Kramer“, das auch mit auf der Kassette war, dagegen gefiel mir. Ich fragte mich damals, wie der ätzend sentimentale Song wohl dazu gekommen ist. Wenn man sich den Text wegdachte, konnte man ihn direkt akzeptieren. Da wusste ich noch nicht, dass das amerikanische Original von der Folkgruppe „The Band“ ist. Eine Ahnung von Woodstock, von Jugendprotest überkam mich. In mir wurde die Hoffnung geweckt, dass es ein anderes Leben außerhalb der öden Tretmühle geben musste, als die mir meines erschien.
Warnung. Besser nicht über Schulzeit schreiben. Da steckt man plötzlich wieder knietief in dem miefigen Schlamassel drin, den man hoffte, hinter sich gelassen zu haben. Aber ich versuch´s trotzdem und wage den Ausflug in eine zum Glück vergangene Zeit.
Mir hat mal jemand den Tipp gegeben, ich soll den Schreibstil anderer imitieren, wenigstens am Anfang. Ich glaube, wenn man das macht, entwickelt man gar nicht erst einen eigenen.
Einen zweiten Aufguss vom „Fänger im Roggen“, in dem viele, die mit Schreiben anfangen, ihr Vorbild sehen, möchte ich hier aber nicht fabrizieren. Ich musste einsehen, dass ich mit dem Meister nicht mithalten kann. Ich habe schon viele Nachahmungen gelesen, aber das einzige, was mir gefallen hat war „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf.
Das Original, des „Fänger im Roggen“, borgte einer aus unserer Klasse meiner Zimmerkameradin aus dem Viermannzimmer, und sie gab ihn mir.
Mit sechzehn haute er mich völlig um. Zehn Jahre später las ich ihn noch ein zweites Mal. Das Buch erreichte mich irgendwie nicht mehr. Es wirkt wohl am meisten auf Leute, die in Howard Caulfields Alter sind. Aber wie gesagt, mit sechzehn „haute es mich um“. Eine Formulierung, die in dem Buch oft vorkommt.
Noch nie hatte ich etwas gelesen, was so auf mein Leben zutraf.
Es ist Sonntag, acht Uhr abends. Vor Jahren habe ich um die Zeit immer mit den Anderen im Zugabteil gesessen und mich langsam dem Dorf genähert, in dem unsere Berufsschule war, in der wir eine landwirtschaftliche Ausbildung mit Abitur machten.
Manchmal versteckte ich mich vor ihnen in einem anderen Waggon, denn normalerweise las ich die ganze Zugfahrt, aber wenn sie mich erwischten, riefen sie: „Komm, setz dich zu uns“. Aber wenn ich mit ihnen, übrigens alles supernette Mädels, zusammensaß, war an lesen nicht zu denken.
Sie waren die Fröhlichkeit selber und wurden ständig von Lachsalven nur so durchschüttelt. Worüber sie eigentlich lachten, wusste ich aber nicht. Aber sie nahmen mir Gottseihdank nicht übel, dass ich ihre Fröhlichkeit nicht teilen konnte. Ich mochte sie, und sie mochten mich, konnte aber partout nichts mit ihnen anfangen.
Das ewige Gekichere gehört wohl zu weiblichen Wesen in diesem Alter und hat was mit Sex zu tun, den wir nicht hatten, außer die eine, die schon mit fünfzehn verlobt war. Die dafür um so mehr. Einmal fragte ich sie: „Wie war das Wochenende?“ „Siebenmal“, sagte sie. „Mir tut jeder Knochen weh.“ So genau wollte ich es eigentlich gar nicht wissen. „Das kann also auch in Arbeit ausarten“, dachte ich. Alle redeten über so was völlig offen.
Das Wohnheim war ein Heiratsmarkt. Immer wenn am Wochenende im Speisesaal die jährlichen Feste stattfanden, wie das Frühlingsfest, der Beschnüfflungsball für die neuen Lehrling oder der Fasching, hatten sich danach neue Paare gebildet und alte entzweit. Auf der einen Seite sah man ein seliges Pärchen Hand in Hand durch die Gänge laufen, auf der anderen den Verlassenen wie Falschgeld umherwandeln. Natürlich hatten sich die Pärchen schon vorher ineinander verliebt, in der Schule oder bei der praktischen Arbeit im Stall oder auf dem Acker, und das Fest war nur der äußere Anlass, das auch offiziell zu machen.
Besonders die praktische Ausbildung war wohl sehr beziehungsstiftend, denn von den meisten Pärchen waren entweder beide Zootechniker oder beide Agrotechniker, die zwei Berufsrichtungen bei uns. Außerdem gab es noch andere Gemeinsamkeiten zwischen den Verliebten. Oft kamen sie aus derselben Stadt, wo sich am Sonntag die Lehrlinge aus der Berufsschule auf dem Bahnsteig über den Weg liefen und dann zusammen im Zugabteil fuhren. Dabei lernte man sich kennen.
Die beiden Berliner bei uns wurden natürlich auch ein Paar. Kein Wunder, bei der ellenlangen gemeinsamen Reise jede Woche.
Obskurerweise hatten sogar ihre Eltern oft ähnliche Berufe. Entweder gab es in beiden Familien Lehrer, oder die beiden Väter waren LPG-Vorsitzende, wie bei zweien aus der Parallelklasse. Bei dem Paar aus Berlin arbeiteten Vater, Mutter und Schwiegervater beim Fernsehen. Bei der Verlobten bei mir im Viermannzimmer waren ihr Vater und der von ihrem Freund Fahrer beim Erdöl.
Jeder sucht wohl nur in einem engen Umkreis nach seinem Partner. Als Teenager erscheint einem die Welt noch als ein unendlicher Ozean, der voller Möglichkeiten zur Liebe steckt. In jedes Gesicht auf der Straße interpretiert man etwas. In Wirklichkeit ist alles irgendwie vorgezeichnet und läuft nach festen Regeln ab.
Ich, die die Liebe anbetete, die ich gar nicht kannte, und die nur in meiner Vorstellung existierte, war immer am Boden zerstört, wenn in einem Film einer auf dem Bahnhof stand und einer in den Zug stieg, und man wusste, er und der, der blieb, würden sich nie wiedersehen, höchstens, wenn sie schon jeder mindestens fünf Kinder hatten, und in ihrem Leben alles gelaufen war und auch so weiterlaufen würde. Ich war ein erbitterter Feind der Vernunft, die in solchen Fällen immer als Argument für die Trennung auf Lebenszeit herhalten muss, die nicht mehr umkehrbar zu machen ist durch nichts auf der Welt, fast so als wenn der Sensenmann zugeschlagen hätte.
Und wie sah es bei mir aus diesbezüglich? Der in Coming of age-Streifen schon total überstrapazierten, tausende Mal durchgekauten, platonischen, heimlichen Liebe zu einem Mitschüler entging ich natürlich auch nicht.
Gleich in der Einführungswoche hatte ich mich in jemanden aus meiner Klasse verliebt. Für die ganzen drei Jahre, die die Lehre dauerte. Leider unerwidert. Ich sehe ihn jetzt manchmal im WeltWeiten, unser aller Informationsquell. Mich wundert bloß, dass er, der damals ein langhaariger Rebell war, jetzt ausgerechnet für die CDU im Gemeinderat seines Heimatortes kandidiert. Bei ihm hätte ich eher auf die Grünen getippt, auch weil er von Berufs wegen viel mit Artenschutz zu tun hat.
Ich habe ihn wohl falsch eingeschätzt. Er war ein Spaßrebell und in Wirklichkeit schon damals viel konservativer, als er sich gegeben hat. Aber die Musik liebte er wirklich. Das war nicht gestellt.
Damals und vielleicht heute auch noch wurde ich, die früher von ihrer Mutter jeden Morgen einen kerzengeraden Scheitel gezogen bekam und windelweich geprügelt wurde, wenn mein Röckchen ein Falte bekam, wie die Motte vom Licht von allem angezogen, was mir widerständig erschien.
Ich suchte in einem Jungen, der mir gefiel, nicht in erster Linie den Mann sondern den Revoluzer, wobei ich ihn meist vollkommen überschätzte. Wenn ich mir das heute überlege, denke ich: „Es geht gar nicht und ist ein Trugschluss, wenn man sich einbildet, dass man seine Ausbruchsfantasien von jemand anderem verwirklichen lassen kann.“
Er stieß das Tor auf für mich in die Welt der Musik. Auch wenn er das gar nicht wollte. Er traute mir nämlich gar nicht zu, dass ich damit was anfangen kann.
Ständig führte er die klangvollen Namen mir unbekannter Bands im Munde, die meine Fantasie anregten und mir als die Boten einer Welt, in der es ein anderes Leben, als das, das ich führte, geben musste, erschienen.
Unbekannt waren sie mir auch deshalb, weil es ihre Platten bei uns nicht zu kaufen gab. Er dagegen hatte da eine heimliche Quelle aufgetan. Manch eine Westoma musste für ihren Enkel die verbotenen Tonträger über die Grenze schmuggeln. Auch seine Oma leistete da Bedeutendes. Die Plattenverkäufer in München, Hamburg oder Berchtesgarden fielen vom Glauben ab, wenn eine weißhaarige Dame vor ihnen stand und den letzten heißen Scheiß haben wollte. Dabei sprach sie die Namen der Bands völlig abenteuerlich aus.
Meine Mutter dagegen hasste die Musik. Sie hatte keine Ahnung von Musik, aber hörte aus der Musik etwas raus, was mich auf andere Bahnen führen würde und vom Wege abweichen lassen könnte.
Ich finde, viele große Musiker sind auch irgendwie schlecht geendet, auch wenn sie sehr alt wurden oder sind und sich nicht an ihren eigenen Flammen verbrannt hatten so wie Brian, Jimi oder auch Jim – ein Kumpel von mir, dessen Idol er ist, plagt sich wohl schon sein halbes Leben mit dem Gedanken rum, wie es gewesen wäre, wenn er ihm mal begegnet wäre - Wahrscheinlich ein Desaster, so groß wie ein Ozean, peinlich für beide Seiten, die Enttäuschung seines Lebens, und danach hätte er ihre Musik nicht mehr gehört, denn diese Leute verkehren eigentlich nur unter Ihresgleichen und sind eine feste Kaste von Leuten, die meist sehr elitär angehaucht sind.
Von mir als potentiellem Groupie gar nicht zu reden. „Was hätten sie damals über mich gelacht“, denke ich heute.
Und doch war das, was die vielen Frauen an ihnen wirklich anzog, die Hoffnung, dass sie nicht wie die anderen Männer sind. Wir hatten den Wunsch, auf einen unabhängigen Geist zu treffen, der alles in Frage stellt, was die bisherige Gesellschaft ausgemacht hat, besonders deren Frauenbild mit der Forderung nach Anpassung. Aber sie entpuppten sich als ganz genau so, auch wenn sie taten, als wenn das nicht so ist.
Aus früher mal hypersensiblen Typen verwandelten sie sich in selbstzufriedene Männer jenseits der vierzig, die sich selber feierten und Erfolge, Frauen, Kinder, Enkel, Häuser usw. anhäuften und darüber hinwegsahen, dass von ihnen künstlerisch schon lange nichts mehr kam. Aber vielleicht geht das ja auch nur eine kurze Zeit. Salinger hat nach dem „Fänger im Roggen“ ja auch nichts bedeutendes mehr geschrieben. Und immer diese blöden Ehrungen, wo sie dann alle im Kreis singen, möglichst etwas wo freedom drin vorkommt, mit gewollt seligem Gesichtsausdruck. Früher, als sie jünger gewesen waren, hätten sie selber abgekotzt bei dem Anblick.
Irgendwie hat man das Gefühl, dass sie das, was sie singen, schon lange selber nicht mehr glauben. Der enge Zirkel, in dem sie sich bewegen, huldigt ihnen. Wenn da einer aus der Reihe tanzt, wird er ausgetauscht.
Wir alle wollten schön sein, um den Jungs zu gefallen. Nur Heike nicht. Sie stieg am selben Bahnhof mit in den Zug wie ich und besaß narbige Haut und eine vierschrötige Statur, worüber sie sich aber nicht den Kopf zerbrach. Sie nahm sich so, wie sie war, Einmal sagte sie zu mir: „Du bist hübsch“. Als ich später in Berlin lesbische Freundinnen kennenlernte, hatten sie einmal eine korpulente Frau mit bei. Ich musste sofort an Heike denken. Lesbisch- oder Schwulsein war für uns damals kein Thema. Ich glaub sie war´s.
Ein Film der „Das malvenfarbene Taxi“ hieß, war Sonnabend im Fernsehen gelaufen. Ich war spontan begeistert. Am Sonntag danach unterhielt ich mich im Zug mit einem Mädchen aus dem zweiten Lehrjahr. „Wie fandest du den Film?“, fragte ich sie. „Na ja“, antwortete sie. Meine Begeisterung teilte sie ganz und gar nicht und sah mich belustigt an. Wahrscheinlich hatte ich ihr etwas zu enthusiastisch geklungen.
Die Mädels bei uns in der Berufsschule begeisterten sich eigentlich nur für Jungs. Es war nicht üblich, von etwas anderem begeistert zu sein.
Seitdem ist „Das malvenfarbene Taxi“ einer meiner Lieblingsfilme, und ich besitze ihn auch. Oft, wenn man nach längerer Zeit solche Filme wiedersieht, ist man ernüchtert. Aber in diesem Falle ist es genau umgekehrt. Ich war damals ein richtiger Filmfreak. Überhaupt hatte ich zu der Zeit einen komischen Geschmack was Filme angeht. Mein absoluter Favorit mit vierzehn war „Das späte Mädchen“ mit Anie Giradot.
Beide Filme waren mit Philipp Noiret, damals mein Lieblingsschauspieler.
Wenn ich mir das heute so durch den Kopf gegen lasse, habe ich ihm vielleicht meinen größten Liebeskummer zu verdanken. Der, der ihm ähnlich sah und seine charakteristischen hängenden Mundwinkel besaß, war aber erst einundzwanzig. Dagegen kenne ich den Schauspieler nur in Rollen, in denen er Männer in mittleren Jahren mimt. Noiret ist nie älter oder jünger als vierzig gewesen, na ja sagen wir sechsundvierzig. Selbst das allwissende Worldweite kannte keine Jugendbilder von ihm, jedenfalls fast keine. Das muss ja der Schock ihres Lebens gewesen sein, als man seiner Mutter das erste Mal ihr Kind zeigte. Statt eines Babys blickte sie ein Vierzigjähriger mit Koteletten an.
Warum liebt man eigentlich den einen und den anderen nicht?
Ob man durch Schauspieler und Musiker, die einem mit dreizehn gefallen haben, unbewusst auf einen Typ geprägt wird, gegen den später die natürlichen Abwehrkräfte und die gesunden Überlebensinstinkte versagen? Anders gesagt: man verfällt ihm.
Unbewusst bin ich wohl scharf auf Philipp Noiret gewesen, oder vielleicht habe ich auch eine Vaterfigur in ihm gesehen.
Ich nahm „Wallenstein“, den wir für die Schule lesen sollten, mit zur Rübenernte auf den Acker, wo ich keine andere Option hatte, wenn ich stundenlang in der festgefahrenen Zugmaschine saß und auf den Schlepper wartete, so dass ich ihn lesen musste. Ich stellte erstaunt fest, dass der Inhalt superspannend war.
Unterschätzt die Klassiker nicht.
Einmal saß allein im Fernsehraum, der hinter dem Speisesaal war. Es lief ein Theaterstück, von dem ich total fasziniert war. Es ging um Mord und Intrige. Da kam die Nachtpförtnerin: „Du musst gehen.“ „Bitte, bitte. Ich will das bloß noch zu Ende sehen.“ Aber unerbittlich kam es zurück: „Geh bitte auf euer Zimmer!“ Jahrelang habe ich gegrübelt, wie das Theaterstück hieß, das ich nicht zu Ende sehen konnte. Es war ausgerechnet „Don Carlos“ von Friedrich Schiller. Wer hätte gedacht, dass seine Stücke so fesselnd sind?
So ähnlich ging es Heinrich Mann mit der „Jungfrau von Orleans“. Sie wurden damit in der Schule fast ein Jahr lang so damit getriezt, dass er das Buch danach ewig nicht mehr anfassen konnte. Es fiel ihm zufällig später mal in die Hände, er las es und stellte fest, dass es genial war. Das habe ich in „Professor Unrat“ gelesen.
Im Saal vom Kulturhaus wurde immer Kino gemacht. Ich sah zusammen mit den anderen aus meinem Lehrjahr „Einer flog über das Kuckucksnest“, ein Film, der mich schwer beeindruckte. Irgendwie wusste ich, dass es in dem Film in Wirklichkeit um etwas anderes geht, als er vorgibt. Die meisten denken ja, dass es nur ein Film über Patienten in der Psychiatrie ist. Es geht um ganz was anderes. Der Gesellschaft wird ein Spiegelbild vorgehalten. Die einzelnen Typen, die dort rumlaufen, versinnbildlichen die unterschiedlichen Methoden der Daseinsbewältigung, die das wären: Anpassung, Rebellion, Rückzug. Besonders der, den sie im Rollstuhl schieben und der ständige vor sich her murmelt: „Ich bin müde“, war mir schon oft über den Weg gelaufen. Er steht für die, die resigniert haben und sich ausgeklinkt haben, wie viele. McMurphy wurde mein Vorbild.
Viele befällt die nackte Panik, wenn sie eine Einladung zum Klassentreffen bekommen, In zig Foren im Netz versuchen sie, sich und anderen glaubwürdig zu versichern, wie wenig Interesse sie angeblich am Wiedersehen mit Mitschülern haben. Natürlich machen sich die, die lang und breit darüber palavern, was vor. Das werden sie selber wissen.
Genau wie ich. Auf dem Foto, das auf einem Lehrlingstreffen zu einem runden Geburtstag der Schule gemacht worden war, suchte ich nach den vertrauten Gesichtern. Als ich was fand, versuchte ich zu vergrößern und das Foto zu verbessern. Und so jemand behauptet von sich, dass ihn das überhaupt nicht interessiert, und dass er damit abgeschlossen hat.
Die meisten von uns stammten von der Insel Rügen oder aus anderen Badeorten an der Ostsee. Sie wohnten dort, wo andere Urlaub machen und hatten den Traumstrand genau vor der Nase, und ihre Eltern und später sie, falls sie das Haus übernommen haben, verdienten sich ´ne goldene Nase mit Feriengästen. Die Einkünfte waren ein zweites Standbein für ihre Familie. Meine Klassenkameraden kamen immer ganz braungebrannt am Sonntag wieder und erzählten von Abenteuern am FKK-Strand, dem Achterwasser und Seebrücken.
Als ich Lehrling war zierte noch ein Bild von Honecker die Wand hinter dem Tisch vom Schuldirektor, den ich übrigens auch in einem Video sehen konnte.
Ich selber habe keine schlechten Erfahrungen mit ihm gemacht, kann mich aber noch an einen Fahnenappel in meinem ersten Lehrjahr erinnern, wo er ein zornige Rede hielt. Was war geschehen?
Das große Hippierevival, was die DDR Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger erfasste, zu einer Zeit wo im Westen jeder Punk hörte, hatte auch unsere Berufsschule erreicht. Es gärte unter der Jugend. Ein paar Lehrlinge aus dem Dritten wollten provozieren. Sie hatten wohl zu viel „Feuerzangenbowle“ gesehen. Deshalb spielten sie die Betrunkenen und liefen in Schlängellinien durch den Speisesaal im Lehrlingswohnheim. Ein bühnenreifer Auftritt. Sturm im Wasserglas. Leider sahen das nicht alle so.
Beim Fahnenappel standen sie vor einem zornroten Direktor. Scheinbar vermutete er einen Angriff gegen Staat und Regierung, und ihnen wurde mit Rauswurf kurz vorm Abi gedroht. Irgendwie hatte er ja recht. Eine Art Ausbruch war das schon. Sie hatten das ewige Bravsein und die ewige Anpassung satt. Wir waren ja rund um die Uhr unter Kontrolle in unser Berufsausbildung.
Wir, als zukünftige Akademiker, mussten immer Vorbild sein. Aber sie hätten natürlich wirklich fliegen können. Scheinbar war der Direktor wild entschlossen, ihnen die Zukunft zu verbauen. Sie wollten auf Nummer sicher gehen und unangepasste Geister gar nicht erst studieren lassen. Dann wäre es nichts geworden mit Herr Pastor, Herr Museumsdirektor oder mit Dr. rer. nat. - alles Berufsbezeichnungen von Leuten aus meiner Klasse, nach denen ich im Worldweit gesucht hatte.
Aber noch Mal Glück gehabt. Sie durften an der Schule bleiben. Ich staunte, dass sie wegen so ein bisschen Quatsch so einen Aufriss machten.
Den einen davon traf ich später oft in Berlin, wo er studierte. Nach der Armeezeit, in der Freiheit der Großstadt, ließ er sich die Haare lang wachsen. Ich sah ihn mit seinem besten Kumpel, beide mit langen Parkas gewandet, durch die Stadt laufen. Er beachtete mich aber gar nicht und grüßte nicht zurück.
Jetzt, wo er so tat, als wenn er die Welt aus den Angeln reißen wollte, hielt er Leute wie mich wohl für völlig uncool. Seine Frau ist übrigens aus seiner Klasse, kommt aus der selben Stadt wie er und ist auch Agrotechniker geworden, so dass ich den Beiden, die zwei Jahre über mir waren, oft auf dem Acker begegnete.
Damals sah er mit seinen langen Locken ja so aus, als käme er nicht nur geradewegs vom Woodstockfestival, sondern hätte es außerdem mitorganisiert und, ich setze noch eins drauf, beim Auftritt von John Sebastian im Hintergrund Tamburin geschlagen, weil sich der Musiker, der im Stau steckte, verspätet hatte.
Ich nahm ihm den Rebellen nicht ab.
Aber was versteht man eigentlich darunter? Etwa sowas wie die Autonomen, die nach der Wende aus dem Westen rüberkamen und hier Häuser und ganze Straßenzüge besetzten. Von ihnen war ich nach anfänglicher Begeisterung enttäuscht, als mir klar wurde, dass sie sich gar nicht für die Einheimischen interessierten. Heute glaube ich, dass die besetzten Häuser für die meisten nur ein Abenteuerspielplatz waren für eine kurze Phase ihres Lebens, und dass ihnen das wohl jederzeit bewusst war und sie das alles, was sie über Anarchie redeten, selbst nie für voll nahmen.
Einen aus seiner Klasse, ein extrem gutaussehender Typ, der einen an Alain Delon erinnerte - als ich ihn das erste Mal sah, bekam ich ganz weiche Knie - traf es härter. Um seinen Lehrmeister zu provozieren, mit dem er im Dauerclinch stand, und der ihn hasste, fuhr er in Zick-Zack-Linien über den Acker, mimte den Betrunkenen – auch er wohl ein Fan von Heinz Rühmann - flog von der Schule, und erhielt noch nicht einmal das Facharbeiterzeugnis.
Eigentlich war sein Pech nur gewesen, dass er aus irgendeinem merkwürdigen Grunde dem Lehrmeister ein Dorn im Auge war, der die entscheidende Kraft dahinter war, dass er von der Schule geworfen wurde. Jetzt stand er ohne alles da.
Da spielten wahrscheinlich Rivalitäten eine Rolle, da die Beiden fast gleichaltrig waren. Der Ältere war auch früher bei uns Lehrling gewesen. Ich lehne mich jetzt mal weit vor, vielleicht spielten auch unausgelebte homosexuelle Neigungen eine Rolle, die in Hass mündeten wie bei „Billy Budd“ von Herman Melville. Da endete es nicht mit Rauswurf, sondern es gab die Todesstrafe.
Sie waren grundverschiedene Charaktere. Der eine neigte zur Anpassung – der Lehrmeister hatte sogar drei Jahre Armee gemacht - und der Andere zur Aufmüpfigkeit.
Oft ist es so, dass diejenigen, die früh mit rebellieren anfangen, auch schon bald wieder damit aufhören und nach ihrer wilden Zeit konservativer werden als andere, die nie vorher nie mit irgendwas aufgefallen sind.
Hoffentlich ist der Rausgeworfene nicht in irgendwas kriminelles reingerutscht! Seine Arbeitskollegen beim Gleisbau, raue Burschen, machten sich bestimmt über ihn lustig.
So einen Lehrmeister, der sich auf mich fixierte, hatte auch ich im zweiten Lehrjahr.
Er arbeitet heute in einer anderen Branche, die auch wegen Corona stagnierte und wurde dazu interviewt in einem Video. Ich bereute meine Neugier. Hätte ich es mal lieber nicht gemacht, denn bei dem Anblick kamen unliebsame Erinnerungen hoch. Ich war plötzlich wieder Lehrling und versuchte mich irgendwie zu arrangieren. Das nennt sich wohl Stockholmsyndrom. Er sah kam älter aus. Seltsam
Heute nennt sich unsere Schule Fachgymnasium. Ich fand Videos, die erst vor ein paar Jahre entstanden sind, wo alle zusammensaßen, Bier tranken, Zigaretten in der Hand hatten und lachten, Unter ihnen schien ein Faßbinder junior zu sein, das heißt, jemand der ein Faible für Videoproduktionen hat, und seine Kumpels aus seiner Klasse filmt, weil man immer wieder die selben Gesichter sieht. Sie sind wie wir waren, einige mit etwas wilderen Frisuren, die gaben wohl die Rebellen, wie damals der, in den ich verliebt war.
Die Video-Kamera schwenkt auch über den Giebel, in dem sich unser Viermannzimmer befand. Unser Fenster kommt ins Bild. Ich stoppe das Video, springe ein Stück nach vorn und lasse den Anblick auf mich wirken.
Unter uns wohnte ein Lehrer von unserer Schule, der sich immer über unser Getrampel beschwerte.
Anlässlich des runden Geburtstages der Schule hatte auch einer der vielen ehemaligen Lehrlinge einen Beitrag ins Internet gestellt. Ich meldete mich bei ihr und schickte meinerseits einen Link zu einem Text, den ich über meine Lehrzeit geschrieben hatte. Ich hatte von Anfang an geahnt, dass das ein Fehler sein würde. Ich kannte schließlich meine Mitschüler.
Und leider behielt ich recht. Aber ich musste es einfach tun. So was kennt bestimmt jeder, dass man etwas macht, obwohl man ahnt, dass das nicht gut ankommt.
Meine Sicht auf die Dinge muss sie völlig schockiert haben, denn gleich aus dem ersten Satz ihrer Antwort-Mail las ich ihren Vorwurf heraus, Erinnerungen entzaubert zu haben.
Ich galt ihr wohl für eine Brunnenvergifterin.
Solche Sätze – den habe ich übrigens von Alexander Osang geklaut, aus seiner Spiegel-Kolumne, er schrieb über seine Lehre als Gas-Wasser-Mann mit Abitur in Neubrandenburg - wie: „Wenn ich Sonntags abends tascheschleppend vom Bahnhof kam, hoffte ich immer, dass das Internat inzwischen abgebrannt war“, mussten ihr gestunken haben. Ihre Mail fing an mit: „Das war die schönste Zeit meines Lebens“.
Wenn ich zum Klassentreffen fahren würde, käme auch ich an dem schrecklichen Satz nicht vorbei. Das will dann einfach jeder von dir hören. Dazu müsste ich dann auch noch ein gerührtes Gesicht machen, damit ich sie davon ablenken kann zu fragen, was ich bisher so getan habe.
Ich dagegen hatte geschrieben: „Wenn ich jemals behaupten werde, dass das die beste Zeit meines Lebens war, dann sagt mir, dass es soweit ist, dass ich mich erschieße.“ Zwei Lehrlinge, zwei Meinungen.
Diesen Spruch hatte ich aus dem amerikanischen Film „Der Sommer der Ausgeflippten“ – der Unsentimentale sitzt dabei mit seinen Freunden am letzten Schultag auf der 50 Yard-Linie im Footballstadion - und fand ihn superzutreffend für meine Lehrlingszeit. Ich habe übrigens nie verstanden, warum sich die Amerikaner wegen Football so heiß machen. Oder noch mehr wegen Baseball.
Ich muss immer den Kopf schütteln, wenn ich bei Bukowski oder auch anderen wie Scott Fitzgerald seitenweise öde, jedenfalls für mich, Beschreibungen von diesen Wettkämpfen lese. Scheinbar hatten sie alle mal vor, große Spieler zu werden. Aber daraus ist zu ihrem Leidwesen nichts geworden. Sie sind wohl nie darüber weg gekommen. Jedenfalls macht es den Eindruck, wenn man ihre Geschichten liest.
Vielleicht lag das auch daran, dass es ihr dort so gut gefallen hatte, weil sie zu dem letzten Jahrgang gehörte, der dort noch zwei Jahre nach der Wende den Facharbeiter mit Abitur in der Landwirtschaft ablegte.
In ihrem ersten Lehrjahr hieß der Staat noch DDR. Im zweiten und dritten dagegen Deutschland. In der Zeit des Umbruchs ging es dort bestimmt sehr locker zu, und die Lehrmeister, die sich langsam nach einem neuen Job umkucken mussten, da die Schule umstrukturiert wurde, waren nicht mehr so gefürchtet wie zu unserer Zeit. Eine Twilightzone.
Die neue Zeit hatte noch nicht angefangen, und die alte war noch nicht gegangen.
Ich denke aber, das ist nicht der Grund. Viele aus meinem Jahrgang sagen bestimmt das gleiche über ihre Lehrlingszeit wie sie.
„Was war denn daran eigentlich so schrecklich?“, wird viele interessieren.
Eigentlich gar nichts. Sogar ganz im Gegenteil. Meine neuen Klassenkameraden bei der landwirtschaftlichen Ausbildung mit Abi gefielen mir viel besser als die, mit denen ich auf der Oberschule bis zur zehnten Klasse die Schulbank drückte. Dort stand ich in der Rangordnung ganz unten. „Diejenigen, die in der Schule beliebt sind, kommen aus glücklichen Familien“, habe ich mal in den Erinnerungen von Janet Frame, der bekanntesten neuseeländischen Dichterin, gelesen.
Ich kam aus keiner glücklichen Familie. Meinen Vater kannte ich gar nicht. Das war aber nicht das Ärgste, sondern, dass meine Mutter auch noch Lehrerin an unserer Dorfschule war. Was ich das verflucht habe. Immer wenn die Väter meiner Mitschüler mit dem Traktor auf der Straße an mir vorbeituckerten und mir grüßend zuwinkten, wünschte ich mir einen Vater wie sie. Dann wäre unsere Familie nahtlos in die Dorfgemeinschaft integriert, ich wäre wie alle, und niemand würde mir auf dem Pausenhof etwas hinterherrufen. Aber wir wissen ja alle, was man sich am meisten wünscht, kriegt man sowieso nicht.
Als ich die Tür der zehnklassigen Oberschule hinter mir zufallen hörte, fühlte ich mich wie ein gerade aus dem Knast Entlassener. Und endlich entkam ich meiner Mutter. Ich musste da raus. Unser Verhältnis war unhaltbar geworden. Ihre Handgreiflichkeiten gegen mich hatten zwar aufgehört, als ich begann mich zu wehren, aber dafür ging es jetzt verbal weiter. Heute sehe ich die Schuld nicht mehr allein bei meiner Mutter, sondern in der Enge der gesellschaftlichen Verhältnisse in denen wir lebten. Sie hatte zwar studiert, aber dass Gewalt keine gut Idee ist, hatte ihr keiner gesagt.
Meine neuen Klassenkameraden waren sehr witzig. Viele waren bestimmt im Innersten sehr konservativ, aber ihre Intelligenz, die ein Eigenleben führte, machte sie offen und neugierig.
Besonders sechs von ihnen waren besonders begnadet auf diesem Gebiet, zogen alles durch den Kakao und hielten damit die ganze Klasse in Atem. In der polytechnischen Oberschule waren dagegen Drangsalierungen, Häme und Spott an der Tagesordung gewesen.
Ein paar aus von uns ließen den Intellektuellen durchhängen. Erst bildete ich mir ein, endlich habe ich Leute getroffen, mit denen ich reden kann. In der zehnklassigen Oberschule, war ich in meiner Klasse immer die einzige, die viel las. Da machten auch die, die schon ab der achten zur Erweiterten Oberschule gingen, um dort Abitur zu machen, keine Ausnahme.
Bald folgte die Ernüchterung. Denn sie ließen niemanden gelten und versuchten mich, die ihrer Wortgewandtheit nicht gewachsen war, mattzusetzen.
Meine Freundin, die auch aus einem kleinen Dorf stammt, aber nicht aus Mecklenburg-Vorpommern, sondern aus dem Oderbruch, beklagt sich andauernd über die Großstadt. Das vergangene Leben im Dorf erscheint ihr als Idylle.
Dabei ist von den jungen Leuten nach Schulabschluß bei uns so gut wie niemand in der Heimat geblieben, außer einige wenige, die in in der LPG-Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft arbeiteten. Abeit gab es in den größeren und kleineren Städten der Umgebung. Sehr viele gingen zur Lehre nach Rostock, wo Werft und Hafen waren. Aber auch nach Stralsund und nach Greifswald, wo das Atomkraftwerk vielen Leuten Arbeit gab. So war mit ab dem sechzehnten Lebensjahr kaum noch einer in der Nähe zu finden.
Nach Mauerfall zog es viele aus meiner Heimat nach Hamburg. Sogar die ganzen Szenetypen vom Norden: egal ob intellektuell angehaucht, punkig oder was es da sonst noch so gibt, die es früher zu dDR-Zeiten in die Hauptstadt lockte, treibt es jetzt nach Hamburg. Wahrscheinlich passen sie da auch mit ihrem norddeutschen Dialekt und ebendieser Mentalität besser rein. Wahrscheinlich, wenn ich jünger wäre, wäre ich da auch gelandet.
Leute aus Sachsen-Anhalt, wie meine Freundin, arbeiten dagegen schon seit Ewigkeiten in der Hauptstadt. Schon zu Kaisers Zeiten und davor, zog es die, die auf den Höfen nicht mehr gebraucht wurden, es erbte der älteste Sohn, in die Fabriken Berlins. So landeten sie, auch wie meine Freundin, aus einem verschlafenen Dorf – ich weiß natürlich, dass die Arbeit in der Landwirtschaft körperlich nicht ohne war - in einer finsteren Hinterhofwohnung.
In unserem Dorf erzählten sie, dass eine, die eine Ausbildung im Faserplattenwerk in Ribnitz-Damgarten machte – der Betrieb ist jetzt abgewickelt, dazu habe ich im Worldweiten Bilder unter Lost Places gefunden - mit den anderen aus ihrem Zimmer im Wohnheim vergiften gespielt hatten. Es waren die Siebziger, die Zeit des Jugendprotestes, der sogar bis zu uns in den hohen Norden gelangt war. Ihnen allen wurde der Magen ausgepumpt.
Ich glaube, der wahre Grund war, dass sie ihre Lehre so dermaßen gehasst hat. Ihr graute schon davor, am Wochenende wieder dorthin zu müssen. Wenn sich die Faserplatten irgendwo verklemmten, musste immer eine in die automatische Fertigungsstrecke und den Fehler beheben. Ein Mal wurde dabei einer Arbeiterin der Arm abgerissen.
Die letzten anderhalb Jahre meiner Lehrzeit nahm ich am Sonntag Abend eine andere Strecke, wenn ich ins Internat wollte. Von einem Städtchen, zwölf Kilometer von meinem Heimatort entfernt, fuhr eine Kleinbahn bis in den Ort, wo ich lernte.
Der Bus, derselbe, der unter der Woche auch Schulbus war und in dem wir immer zum Einkaufen fuhren, quetschte sich durch das schmale Stadttor durch, wobei ich jedesmal Angst hatte, dass wir drin steckenbleiben.
Es war noch zu früh. Der Zug fuhr erst in anderthalb Stunden. Bis dahin ging ich in die Milchbar des Ortes, eine winzig kleine Milchbar, wo das Eis aber sehr gut schmeckte. Der Mittelpunkt dort war sie. Ich weiß gar nicht, wie sie richtig hieß, aber alle nannten sie Gina. Sie war über eins achtzig groß und sehr attraktiv. Es wurde erzählt, dass ihr Mann zur See fuhr und ihr die vielen schicken Klamotten mitbrachte, die sie trug. Nie habe ich sie zweimal in den selben Sachen gesehen.
Sie machte sich für die Arbeit zurecht, als wenn sie in einer Nachtbar arbeiten würde und nicht in einer kleinen Milchbar, in der meist Omas und Kinder saßen und die Leute aus den Nachbardörfern, die eingekauft hatten und jetzt auf den Bus warteten. Obwohl sie sehr groß war, stiefelte sie auf turmhohen Absätzen durch die Gegend, trug Miniröcke, die eigentlich mehr einem Gürtel ähnelten und hatte ständig gewagte Haarfarben, sogar grau und lila waren dabei.
Manchmal trug sie dazu auch rote Lackstiefel, die ihr bis zu den Oberschenkeln gingen. Um sie herum, am Tresen der Milchbar, hielt sich immer ein Schwarm Männer auf, mit denen sie flirtete. Aber wahrscheinlich blieb es beim Flirten, und sie war ihrem Mann treu, oder? Ihre Kolleginnen in der Milchbar, Muttitypen mit Dauerwelle und Kittelschürze, waren nicht neidisch auf sie, wie man denken könnte, sondern im Gegenteil, sie beteten sie an.
Auch nach Feierabend blieb sie oft in der Milchbar, zu Hause wartete ja keiner auf sie, da ihr Mann auf See war. Sie saß dann, in einem scharfen geblümten Minirock, mit übereinandergeschlagenen Beinen, auf dem Barhocker vor dem Tresen und hielt lachend die Zigarette zwischen ihren langen Fingern mit den roten Nägeln.
Sie war auch zu Kindern immer sehr nett. „Kinder haben ein Gespür für gute Menschen.“ Diesen Satz habe von Dostojewski. Er stammt aus den „Dämonen“, einem Werk, an dem ich schon mehrmal gescheitert bin.
Ich bin einfach mit den Namen nicht mehr klargekommen. War Vera Wassiljewna jetzt die Frau, Tante oder uneheliche Tochter von Iwan Nikolajewitsch oder nichts dergleichen? Nach der ersten Hälfte verlor ich immer völlig den Faden. Beim „Idioten“ bin ich einmal bis zur Hälfte und im zweiten Anlauf bis zum letzten Drittel gekommen, ebenfalls, weil ich einfach nicht mehr wußte, wer wer war.
Ich setzte mich an einen freien Tisch hinten in der Milchbar. Die einsame Seemannsbraut, deren Mann gerade das Kap der Guten Hoffnung umschiffte, kam auf hohen Absätzen angeschwebt und schaute mich aus großen, schwarz ummalten Augen mit angeklebten Wimpern und grauen Lidschatten fröhlich an. „Was willst du haben?“ fragte sie, die mich kannte. Die Bestellung war einfach. Es gab bloß drei Eisbecher und Bockwurst, die aber sehr gut schmeckte, da sie eine Extraanfertigung für die Milchbar war.
In den Wintermonaten, wenn es draußen schon dunkelte, war es in der Milchbar immer extrem gemütlich. Vorne, am Tresen, stand Gina und lachte und flirtete und erfüllte den kleinen, schummrigen Raum mit ihrem Charme, und ich saß da, löffelte Eis und fühlte mich pudelwohl. Außerdem saß dort an einem Tisch auch immer eine Runde sympathischer Old Ladys, die schon zum Inventar gehörten und die ich mochte.
Als sie wegging, weil ihr Mann versetzt wurde, verlor die Milchbar, in die sie Leben rein gebracht hatte, ihre Anziehungskraft, und es war dort oft recht leer. Der Schwung fehlte einfach. Es hatte sich schon vorher rumgesprochen, dass sie wegzieht, aber man konnte sich die Milchbar ohne sie einfach nicht vorstellen.
Ich habe Gina später noch einmal gesehen, als sie ihre Kolleginnen besucht hat. Sie sah ein bißchen traurig aus. Sie vermisste wohl die Milchbar. Wahrscheinlich war das für sie die beste Zeit ihres Lebens.
Mit ihr ging eine Ära vorbei. Immer wenn ich später in der Milchbar war, kam es mir so vor, als wenn sie dort noch immer unsichtbar umherging und auf ihren hohen Absätzen durch die Bar schwebte, mit ihrem fröhlichen Lachen, ihren angeklebten Wimpern und ihrer aufgetürmten Haarpracht, und ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass sie nicht mehr zurück kommt. Ich weiß eigentlich gar nichts über sie, wie alt sie war, wo sie herkam und wo sie hinging.
Jetzt, wo ich eine andere Strecke nahm, musste ich am Wochenende früher los, aber dafür ein Mal weniger umsteigen. Ich genoß den paradiesischen Ausblick aus dem Fenster des Triebwagens und war froh dem ewigen Gekicher meiner Mitschülerinnen entkommen zu sein. Ich staunte, wie schön meine Heimat ist, durch die sich der Triebwagen in gemäßigten Tempo zielstrebig arbeitete.
Der Blick fiel zwar nur auf Rüben-und Kartoffeläcker, die je nach Jahreszeit von wogenden oder stoppeligen Getreidefeldern unterbrochen wurden, mit vereinzelten Ortschaften dazwischen, aber auf diese Fahrt freute ich mich schon die ganze Woche. Hier fällt mir auf die Füße, dass ich keine Gedichte verfasse. Das erweist sich bei Naturbeschreibungen als hilfreich.
Ich merk doch heftig, wie mir die passenden Ausdrücke fehlen. Dichter können eben besser mit Worten als jene, die nur Prosa schreiben. Fast alle Schriftsteller haben zuerst mit Poesie angefangen. Sylvia Plath übrigens auch. Von Kafka dagegen habe ich nie vernommen, dass er auch gedichtet hat, was mir Hoffnung macht.
Das Bimmelbähnchen ist übrigens nach der Wende stillgelegt worden. Alle haben sich Autos gekauft. Man kann ein Video von seiner letzten Fahrt sehen. Ich konnte mir das nicht lange ankucken. Es brach mir das Herz. Die Gleise hat man alle rausgerissen. Dafür gibt es in der Nähe jetzt eine Autobahn, deren Fahrbahn einbrach, und die sechs Jahre gesperrt war und für hundertachtzig Millionen Euro saniert werden musste.
Was ist mit der kleinen Stadt?“, werden jetzt welche fragen. Ich befrage das Weltumspannende danach, was das kleine Städtchen heute so macht.
Viele Häuser sind verfallen. Das Haus, wo die Milchbar drin war, übrigens auch. Ich stoße auf ein Kunstprojekt, dass ein Jahr gedauert hat. Studenten haben aus verlassenen Häuser Lichtinstallationen gemacht. Das sieht gut aus, bringt aber niemanden weiter.
Einmal traf ich jemanden, den ich von der zehnklassigen Oberschule her kannte, als ich Freitag abends mit der kleinen Bahn in die umgekehrte Richtung fuhr, von meiner Lehre in das Städtchen. Leider hatte ich keinen Anschluß und wollte die zwölf Kilometer zu Fuß zurücklegen.
Mario, auch ein Lehrling, der in einem Dorf einen Kilometer von meinem entfernt wohnte, war mit dem Rostocker Bus gekommen und hatte den selben Fußmarsch vor sich. An Trampen dachten wir beide nicht. Eigentlich war ich zuerst gar nicht so begeistert über die Begleitung, denn er hatte irgendwas nervöses, beunruhigendes an sich, sprach mit affektierter Stimme und wirkte kindisch und albern. Ein Jugendlicher beim Coming Out? Irgendwie wurde man nicht schlau aus ihm. Ich weiß gar nicht, was für eine Lehre er eigentlich machte. Hoffentlich nicht beim Bau. Wir freuten uns, dass wir nicht alleine laufen müssen. Mario paßte auch nicht rein in unsere Gegend, genausowenig wie ich. Er, der ein Jahr jünger war, schien anders zu sein als die anderen Jungs bei uns an der zehnklassigen Oberschule.
Er war in seiner Klasse auch Außenseiter wie ich.
Ich glaube, er war schwul. Das vermutete auch meine Mutter, die seine Klassenlehrerin bis zur Zehnten war. Ich sah ihn in der großen Pause immer mit den Mädchen aus seiner Klasse zusammenstehen.
Er war ein zierlicher Bursche mit großen dunklen Augen, die immer etwas traurig schauten. Kein Wunder: seinen Vater kannte er nicht, hatte früh die Mutter verloren und wuchs bei einer kinderreichen Nachbarsfamilie auf. Er neigte übrigens genauso zum ständigen Kichern wie meine Klassenkameradinnen und redete albernes Zeug mit affektierter Stimme. So richtig schlau wurde ich aus ihm nicht.
Schwule waren unter den Jungs in meiner Klasse ein großes Thema. Das merkwürdige aber war, bei uns in der Gegend gab es so was nicht. Ständig bezichtigten sie sich gegenseitig, schwul zu sein. Das ist wohl nicht ungewöhnlich für die Zeit der Suche nach der sexuellen Identität. Mann darf sich nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn sich in unserer Gegend jemand geoutet hätte.
Mario und ich waren an dem Abend schon eine ganze Weile unterwegs, da bog er plötzlich in einen Feldweg ab. „Das ist eine Abkürzung.“ Ich schaute ihm verblüfft hinterher. Er verschwand in dem wogenden Getreidefeld.
Zwischen den gelben Ähren sah ich ihn das letzte Mal. „Stell dir vor, Mario ist verschwunden. Keiner weiß etwas“, erzählte mir meine Mutter lange danach. „Bei der Familie, bei der er gelebt hat und auch bei seinem älteren Bruder meldet er sich nicht mehr.“
„Warum ist der dann nicht nach Rostock gefahren und hat seinen kleinen Bruder gesucht?“, fragte ich mich. Ein echter Bruder hätte das gemacht. Das mit dem Verschwinden sehe ich entspannter. Er wird irgendwo ein neues Leben angefangen haben.
Marios Bindungen an sein Heimatdorf waren wohl irgendwie verloren gegangen. Meine ja auch.
Ich weiß auch nicht, warum ich es plötzlich so ein Faible für meine Heimat entdeckt habe. Nicht, dass es mir so geht wie Adrian Leverkühn aus „Dr. Faustus“ von Thomas Mann, der plötzlich von Heimweh ergriffen wird beim Anblick eines Bauernhauses bei München, weil es ihn an Kaisersaschern, wo er aufgewachsen ist, erinnert, und es zu seinem neuen Lebensmittelpunkt macht. Nicht lange danach wird er verrückt. Das muss nicht sein.
Ich find es so lustig, wenn sie von einem, der in die Schlagzeilen geraten ist, entweder weil er er einen umgebracht hat, oder weil er Rockstar geworden ist, schreiben, dass er gelernter Schuhmacher ist. Bloß weil er mit sechzehn mal dieses Handwerk erlernt hat.
Eine Frauenstimme leiert: „Der Tag als Cony Cramer starb, als alle Glocken...“ Bei Achtundachtzig-Acht-Berlin spielen sie wieder mal den Song. Gerade mit ihm verbinden sich für mich eigenartige Erinnerungen. Ich bin wieder 16 und Lehrling in der Landwirtschaft. Wenn wir Fahrschule in Stralsund hatten, gingen wir mit unserem Fahrlehrer immer zum Mittagessen in eine abgerockte Kneipe. Das Essen schmeckte genauso abgerockt. Es gab die fadesten Kohlrouladen von der Welt. Das Personal lief mit einem Gesicht rum, als hätte man ihnen gerade ihr Todesurteil verlesen.
Sie kriegten da absolut gar nichts hin, nicht mal eine Boulette konnten sie braten. Als wenn das nicht reicht, lief dazu noch jeden Mittag eine schreckliche Musik. Jedesmal die gleiche Kassette. Wenn sie zuende war, wurde sie zurückgespult, und das Elend fing von vorne an. Sie hatten wohl bloß die eine.
Die Melodie von „Cony Kramer“, das auch mit auf der Kassette war, dagegen gefiel mir. Ich fragte mich damals, wie der ätzend sentimentale Song wohl dazu gekommen ist. Wenn man sich den Text wegdachte, konnte man ihn direkt akzeptieren. Da wusste ich noch nicht, dass das amerikanische Original von der Folkgruppe „The Band“ ist. Eine Ahnung von Woodstock, von Jugendprotest überkam mich. In mir wurde die Hoffnung geweckt, dass es ein anderes Leben außerhalb der öden Tretmühle geben musste, als die mir meines erschien.
Warnung. Besser nicht über Schulzeit schreiben. Da steckt man plötzlich wieder knietief in dem miefigen Schlamassel drin, den man hoffte, hinter sich gelassen zu haben. Aber ich versuch´s trotzdem und wage den Ausflug in eine zum Glück vergangene Zeit.
Mir hat mal jemand den Tipp gegeben, ich soll den Schreibstil anderer imitieren, wenigstens am Anfang. Ich glaube, wenn man das macht, entwickelt man gar nicht erst einen eigenen.
Einen zweiten Aufguss vom „Fänger im Roggen“, in dem viele, die mit Schreiben anfangen, ihr Vorbild sehen, möchte ich hier aber nicht fabrizieren. Ich musste einsehen, dass ich mit dem Meister nicht mithalten kann. Ich habe schon viele Nachahmungen gelesen, aber das einzige, was mir gefallen hat war „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf.
Das Original, des „Fänger im Roggen“, borgte einer aus unserer Klasse meiner Zimmerkameradin aus dem Viermannzimmer, und sie gab ihn mir.
Mit sechzehn haute er mich völlig um. Zehn Jahre später las ich ihn noch ein zweites Mal. Das Buch erreichte mich irgendwie nicht mehr. Es wirkt wohl am meisten auf Leute, die in Howard Caulfields Alter sind. Aber wie gesagt, mit sechzehn „haute es mich um“. Eine Formulierung, die in dem Buch oft vorkommt.
Noch nie hatte ich etwas gelesen, was so auf mein Leben zutraf.
Es ist Sonntag, acht Uhr abends. Vor Jahren habe ich um die Zeit immer mit den Anderen im Zugabteil gesessen und mich langsam dem Dorf genähert, in dem unsere Berufsschule war, in der wir eine landwirtschaftliche Ausbildung mit Abitur machten.
Manchmal versteckte ich mich vor ihnen in einem anderen Waggon, denn normalerweise las ich die ganze Zugfahrt, aber wenn sie mich erwischten, riefen sie: „Komm, setz dich zu uns“. Aber wenn ich mit ihnen, übrigens alles supernette Mädels, zusammensaß, war an lesen nicht zu denken.
Sie waren die Fröhlichkeit selber und wurden ständig von Lachsalven nur so durchschüttelt. Worüber sie eigentlich lachten, wusste ich aber nicht. Aber sie nahmen mir Gottseihdank nicht übel, dass ich ihre Fröhlichkeit nicht teilen konnte. Ich mochte sie, und sie mochten mich, konnte aber partout nichts mit ihnen anfangen.
Das ewige Gekichere gehört wohl zu weiblichen Wesen in diesem Alter und hat was mit Sex zu tun, den wir nicht hatten, außer die eine, die schon mit fünfzehn verlobt war. Die dafür um so mehr. Einmal fragte ich sie: „Wie war das Wochenende?“ „Siebenmal“, sagte sie. „Mir tut jeder Knochen weh.“ So genau wollte ich es eigentlich gar nicht wissen. „Das kann also auch in Arbeit ausarten“, dachte ich. Alle redeten über so was völlig offen.
Das Wohnheim war ein Heiratsmarkt. Immer wenn am Wochenende im Speisesaal die jährlichen Feste stattfanden, wie das Frühlingsfest, der Beschnüfflungsball für die neuen Lehrling oder der Fasching, hatten sich danach neue Paare gebildet und alte entzweit. Auf der einen Seite sah man ein seliges Pärchen Hand in Hand durch die Gänge laufen, auf der anderen den Verlassenen wie Falschgeld umherwandeln. Natürlich hatten sich die Pärchen schon vorher ineinander verliebt, in der Schule oder bei der praktischen Arbeit im Stall oder auf dem Acker, und das Fest war nur der äußere Anlass, das auch offiziell zu machen.
Besonders die praktische Ausbildung war wohl sehr beziehungsstiftend, denn von den meisten Pärchen waren entweder beide Zootechniker oder beide Agrotechniker, die zwei Berufsrichtungen bei uns. Außerdem gab es noch andere Gemeinsamkeiten zwischen den Verliebten. Oft kamen sie aus derselben Stadt, wo sich am Sonntag die Lehrlinge aus der Berufsschule auf dem Bahnsteig über den Weg liefen und dann zusammen im Zugabteil fuhren. Dabei lernte man sich kennen.
Die beiden Berliner bei uns wurden natürlich auch ein Paar. Kein Wunder, bei der ellenlangen gemeinsamen Reise jede Woche.
Obskurerweise hatten sogar ihre Eltern oft ähnliche Berufe. Entweder gab es in beiden Familien Lehrer, oder die beiden Väter waren LPG-Vorsitzende, wie bei zweien aus der Parallelklasse. Bei dem Paar aus Berlin arbeiteten Vater, Mutter und Schwiegervater beim Fernsehen. Bei der Verlobten bei mir im Viermannzimmer waren ihr Vater und der von ihrem Freund Fahrer beim Erdöl.
Jeder sucht wohl nur in einem engen Umkreis nach seinem Partner. Als Teenager erscheint einem die Welt noch als ein unendlicher Ozean, der voller Möglichkeiten zur Liebe steckt. In jedes Gesicht auf der Straße interpretiert man etwas. In Wirklichkeit ist alles irgendwie vorgezeichnet und läuft nach festen Regeln ab.
Ich, die die Liebe anbetete, die ich gar nicht kannte, und die nur in meiner Vorstellung existierte, war immer am Boden zerstört, wenn in einem Film einer auf dem Bahnhof stand und einer in den Zug stieg, und man wusste, er und der, der blieb, würden sich nie wiedersehen, höchstens, wenn sie schon jeder mindestens fünf Kinder hatten, und in ihrem Leben alles gelaufen war und auch so weiterlaufen würde. Ich war ein erbitterter Feind der Vernunft, die in solchen Fällen immer als Argument für die Trennung auf Lebenszeit herhalten muss, die nicht mehr umkehrbar zu machen ist durch nichts auf der Welt, fast so als wenn der Sensenmann zugeschlagen hätte.
Und wie sah es bei mir aus diesbezüglich? Der in Coming of age-Streifen schon total überstrapazierten, tausende Mal durchgekauten, platonischen, heimlichen Liebe zu einem Mitschüler entging ich natürlich auch nicht.
Gleich in der Einführungswoche hatte ich mich in jemanden aus meiner Klasse verliebt. Für die ganzen drei Jahre, die die Lehre dauerte. Leider unerwidert. Ich sehe ihn jetzt manchmal im WeltWeiten, unser aller Informationsquell. Mich wundert bloß, dass er, der damals ein langhaariger Rebell war, jetzt ausgerechnet für die CDU im Gemeinderat seines Heimatortes kandidiert. Bei ihm hätte ich eher auf die Grünen getippt, auch weil er von Berufs wegen viel mit Artenschutz zu tun hat.
Ich habe ihn wohl falsch eingeschätzt. Er war ein Spaßrebell und in Wirklichkeit schon damals viel konservativer, als er sich gegeben hat. Aber die Musik liebte er wirklich. Das war nicht gestellt.
Damals und vielleicht heute auch noch wurde ich, die früher von ihrer Mutter jeden Morgen einen kerzengeraden Scheitel gezogen bekam und windelweich geprügelt wurde, wenn mein Röckchen ein Falte bekam, wie die Motte vom Licht von allem angezogen, was mir widerständig erschien.
Ich suchte in einem Jungen, der mir gefiel, nicht in erster Linie den Mann sondern den Revoluzer, wobei ich ihn meist vollkommen überschätzte. Wenn ich mir das heute überlege, denke ich: „Es geht gar nicht und ist ein Trugschluss, wenn man sich einbildet, dass man seine Ausbruchsfantasien von jemand anderem verwirklichen lassen kann.“
Er stieß das Tor auf für mich in die Welt der Musik. Auch wenn er das gar nicht wollte. Er traute mir nämlich gar nicht zu, dass ich damit was anfangen kann.
Ständig führte er die klangvollen Namen mir unbekannter Bands im Munde, die meine Fantasie anregten und mir als die Boten einer Welt, in der es ein anderes Leben, als das, das ich führte, geben musste, erschienen.
Unbekannt waren sie mir auch deshalb, weil es ihre Platten bei uns nicht zu kaufen gab. Er dagegen hatte da eine heimliche Quelle aufgetan. Manch eine Westoma musste für ihren Enkel die verbotenen Tonträger über die Grenze schmuggeln. Auch seine Oma leistete da Bedeutendes. Die Plattenverkäufer in München, Hamburg oder Berchtesgarden fielen vom Glauben ab, wenn eine weißhaarige Dame vor ihnen stand und den letzten heißen Scheiß haben wollte. Dabei sprach sie die Namen der Bands völlig abenteuerlich aus.
Meine Mutter dagegen hasste die Musik. Sie hatte keine Ahnung von Musik, aber hörte aus der Musik etwas raus, was mich auf andere Bahnen führen würde und vom Wege abweichen lassen könnte.
Ich finde, viele große Musiker sind auch irgendwie schlecht geendet, auch wenn sie sehr alt wurden oder sind und sich nicht an ihren eigenen Flammen verbrannt hatten so wie Brian, Jimi oder auch Jim – ein Kumpel von mir, dessen Idol er ist, plagt sich wohl schon sein halbes Leben mit dem Gedanken rum, wie es gewesen wäre, wenn er ihm mal begegnet wäre - Wahrscheinlich ein Desaster, so groß wie ein Ozean, peinlich für beide Seiten, die Enttäuschung seines Lebens, und danach hätte er ihre Musik nicht mehr gehört, denn diese Leute verkehren eigentlich nur unter Ihresgleichen und sind eine feste Kaste von Leuten, die meist sehr elitär angehaucht sind.
Von mir als potentiellem Groupie gar nicht zu reden. „Was hätten sie damals über mich gelacht“, denke ich heute.
Und doch war das, was die vielen Frauen an ihnen wirklich anzog, die Hoffnung, dass sie nicht wie die anderen Männer sind. Wir hatten den Wunsch, auf einen unabhängigen Geist zu treffen, der alles in Frage stellt, was die bisherige Gesellschaft ausgemacht hat, besonders deren Frauenbild mit der Forderung nach Anpassung. Aber sie entpuppten sich als ganz genau so, auch wenn sie taten, als wenn das nicht so ist.
Aus früher mal hypersensiblen Typen verwandelten sie sich in selbstzufriedene Männer jenseits der vierzig, die sich selber feierten und Erfolge, Frauen, Kinder, Enkel, Häuser usw. anhäuften und darüber hinwegsahen, dass von ihnen künstlerisch schon lange nichts mehr kam. Aber vielleicht geht das ja auch nur eine kurze Zeit. Salinger hat nach dem „Fänger im Roggen“ ja auch nichts bedeutendes mehr geschrieben. Und immer diese blöden Ehrungen, wo sie dann alle im Kreis singen, möglichst etwas wo freedom drin vorkommt, mit gewollt seligem Gesichtsausdruck. Früher, als sie jünger gewesen waren, hätten sie selber abgekotzt bei dem Anblick.
Irgendwie hat man das Gefühl, dass sie das, was sie singen, schon lange selber nicht mehr glauben. Der enge Zirkel, in dem sie sich bewegen, huldigt ihnen. Wenn da einer aus der Reihe tanzt, wird er ausgetauscht.
Wir alle wollten schön sein, um den Jungs zu gefallen. Nur Heike nicht. Sie stieg am selben Bahnhof mit in den Zug wie ich und besaß narbige Haut und eine vierschrötige Statur, worüber sie sich aber nicht den Kopf zerbrach. Sie nahm sich so, wie sie war, Einmal sagte sie zu mir: „Du bist hübsch“. Als ich später in Berlin lesbische Freundinnen kennenlernte, hatten sie einmal eine korpulente Frau mit bei. Ich musste sofort an Heike denken. Lesbisch- oder Schwulsein war für uns damals kein Thema. Ich glaub sie war´s.
Ein Film der „Das malvenfarbene Taxi“ hieß, war Sonnabend im Fernsehen gelaufen. Ich war spontan begeistert. Am Sonntag danach unterhielt ich mich im Zug mit einem Mädchen aus dem zweiten Lehrjahr. „Wie fandest du den Film?“, fragte ich sie. „Na ja“, antwortete sie. Meine Begeisterung teilte sie ganz und gar nicht und sah mich belustigt an. Wahrscheinlich hatte ich ihr etwas zu enthusiastisch geklungen.
Die Mädels bei uns in der Berufsschule begeisterten sich eigentlich nur für Jungs. Es war nicht üblich, von etwas anderem begeistert zu sein.
Seitdem ist „Das malvenfarbene Taxi“ einer meiner Lieblingsfilme, und ich besitze ihn auch. Oft, wenn man nach längerer Zeit solche Filme wiedersieht, ist man ernüchtert. Aber in diesem Falle ist es genau umgekehrt. Ich war damals ein richtiger Filmfreak. Überhaupt hatte ich zu der Zeit einen komischen Geschmack was Filme angeht. Mein absoluter Favorit mit vierzehn war „Das späte Mädchen“ mit Anie Giradot.
Beide Filme waren mit Philipp Noiret, damals mein Lieblingsschauspieler.
Wenn ich mir das heute so durch den Kopf gegen lasse, habe ich ihm vielleicht meinen größten Liebeskummer zu verdanken. Der, der ihm ähnlich sah und seine charakteristischen hängenden Mundwinkel besaß, war aber erst einundzwanzig. Dagegen kenne ich den Schauspieler nur in Rollen, in denen er Männer in mittleren Jahren mimt. Noiret ist nie älter oder jünger als vierzig gewesen, na ja sagen wir sechsundvierzig. Selbst das allwissende Worldweite kannte keine Jugendbilder von ihm, jedenfalls fast keine. Das muss ja der Schock ihres Lebens gewesen sein, als man seiner Mutter das erste Mal ihr Kind zeigte. Statt eines Babys blickte sie ein Vierzigjähriger mit Koteletten an.
Warum liebt man eigentlich den einen und den anderen nicht?
Ob man durch Schauspieler und Musiker, die einem mit dreizehn gefallen haben, unbewusst auf einen Typ geprägt wird, gegen den später die natürlichen Abwehrkräfte und die gesunden Überlebensinstinkte versagen? Anders gesagt: man verfällt ihm.
Unbewusst bin ich wohl scharf auf Philipp Noiret gewesen, oder vielleicht habe ich auch eine Vaterfigur in ihm gesehen.
Ich nahm „Wallenstein“, den wir für die Schule lesen sollten, mit zur Rübenernte auf den Acker, wo ich keine andere Option hatte, wenn ich stundenlang in der festgefahrenen Zugmaschine saß und auf den Schlepper wartete, so dass ich ihn lesen musste. Ich stellte erstaunt fest, dass der Inhalt superspannend war.
Unterschätzt die Klassiker nicht.
Einmal saß allein im Fernsehraum, der hinter dem Speisesaal war. Es lief ein Theaterstück, von dem ich total fasziniert war. Es ging um Mord und Intrige. Da kam die Nachtpförtnerin: „Du musst gehen.“ „Bitte, bitte. Ich will das bloß noch zu Ende sehen.“ Aber unerbittlich kam es zurück: „Geh bitte auf euer Zimmer!“ Jahrelang habe ich gegrübelt, wie das Theaterstück hieß, das ich nicht zu Ende sehen konnte. Es war ausgerechnet „Don Carlos“ von Friedrich Schiller. Wer hätte gedacht, dass seine Stücke so fesselnd sind?
So ähnlich ging es Heinrich Mann mit der „Jungfrau von Orleans“. Sie wurden damit in der Schule fast ein Jahr lang so damit getriezt, dass er das Buch danach ewig nicht mehr anfassen konnte. Es fiel ihm zufällig später mal in die Hände, er las es und stellte fest, dass es genial war. Das habe ich in „Professor Unrat“ gelesen.
Im Saal vom Kulturhaus wurde immer Kino gemacht. Ich sah zusammen mit den anderen aus meinem Lehrjahr „Einer flog über das Kuckucksnest“, ein Film, der mich schwer beeindruckte. Irgendwie wusste ich, dass es in dem Film in Wirklichkeit um etwas anderes geht, als er vorgibt. Die meisten denken ja, dass es nur ein Film über Patienten in der Psychiatrie ist. Es geht um ganz was anderes. Der Gesellschaft wird ein Spiegelbild vorgehalten. Die einzelnen Typen, die dort rumlaufen, versinnbildlichen die unterschiedlichen Methoden der Daseinsbewältigung, die das wären: Anpassung, Rebellion, Rückzug. Besonders der, den sie im Rollstuhl schieben und der ständige vor sich her murmelt: „Ich bin müde“, war mir schon oft über den Weg gelaufen. Er steht für die, die resigniert haben und sich ausgeklinkt haben, wie viele. McMurphy wurde mein Vorbild.
Viele befällt die nackte Panik, wenn sie eine Einladung zum Klassentreffen bekommen, In zig Foren im Netz versuchen sie, sich und anderen glaubwürdig zu versichern, wie wenig Interesse sie angeblich am Wiedersehen mit Mitschülern haben. Natürlich machen sich die, die lang und breit darüber palavern, was vor. Das werden sie selber wissen.
Genau wie ich. Auf dem Foto, das auf einem Lehrlingstreffen zu einem runden Geburtstag der Schule gemacht worden war, suchte ich nach den vertrauten Gesichtern. Als ich was fand, versuchte ich zu vergrößern und das Foto zu verbessern. Und so jemand behauptet von sich, dass ihn das überhaupt nicht interessiert, und dass er damit abgeschlossen hat.
Die meisten von uns stammten von der Insel Rügen oder aus anderen Badeorten an der Ostsee. Sie wohnten dort, wo andere Urlaub machen und hatten den Traumstrand genau vor der Nase, und ihre Eltern und später sie, falls sie das Haus übernommen haben, verdienten sich ´ne goldene Nase mit Feriengästen. Die Einkünfte waren ein zweites Standbein für ihre Familie. Meine Klassenkameraden kamen immer ganz braungebrannt am Sonntag wieder und erzählten von Abenteuern am FKK-Strand, dem Achterwasser und Seebrücken.
Als ich Lehrling war zierte noch ein Bild von Honecker die Wand hinter dem Tisch vom Schuldirektor, den ich übrigens auch in einem Video sehen konnte.
Ich selber habe keine schlechten Erfahrungen mit ihm gemacht, kann mich aber noch an einen Fahnenappel in meinem ersten Lehrjahr erinnern, wo er ein zornige Rede hielt. Was war geschehen?
Das große Hippierevival, was die DDR Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger erfasste, zu einer Zeit wo im Westen jeder Punk hörte, hatte auch unsere Berufsschule erreicht. Es gärte unter der Jugend. Ein paar Lehrlinge aus dem Dritten wollten provozieren. Sie hatten wohl zu viel „Feuerzangenbowle“ gesehen. Deshalb spielten sie die Betrunkenen und liefen in Schlängellinien durch den Speisesaal im Lehrlingswohnheim. Ein bühnenreifer Auftritt. Sturm im Wasserglas. Leider sahen das nicht alle so.
Beim Fahnenappel standen sie vor einem zornroten Direktor. Scheinbar vermutete er einen Angriff gegen Staat und Regierung, und ihnen wurde mit Rauswurf kurz vorm Abi gedroht. Irgendwie hatte er ja recht. Eine Art Ausbruch war das schon. Sie hatten das ewige Bravsein und die ewige Anpassung satt. Wir waren ja rund um die Uhr unter Kontrolle in unser Berufsausbildung.
Wir, als zukünftige Akademiker, mussten immer Vorbild sein. Aber sie hätten natürlich wirklich fliegen können. Scheinbar war der Direktor wild entschlossen, ihnen die Zukunft zu verbauen. Sie wollten auf Nummer sicher gehen und unangepasste Geister gar nicht erst studieren lassen. Dann wäre es nichts geworden mit Herr Pastor, Herr Museumsdirektor oder mit Dr. rer. nat. - alles Berufsbezeichnungen von Leuten aus meiner Klasse, nach denen ich im Worldweit gesucht hatte.
Aber noch Mal Glück gehabt. Sie durften an der Schule bleiben. Ich staunte, dass sie wegen so ein bisschen Quatsch so einen Aufriss machten.
Den einen davon traf ich später oft in Berlin, wo er studierte. Nach der Armeezeit, in der Freiheit der Großstadt, ließ er sich die Haare lang wachsen. Ich sah ihn mit seinem besten Kumpel, beide mit langen Parkas gewandet, durch die Stadt laufen. Er beachtete mich aber gar nicht und grüßte nicht zurück.
Jetzt, wo er so tat, als wenn er die Welt aus den Angeln reißen wollte, hielt er Leute wie mich wohl für völlig uncool. Seine Frau ist übrigens aus seiner Klasse, kommt aus der selben Stadt wie er und ist auch Agrotechniker geworden, so dass ich den Beiden, die zwei Jahre über mir waren, oft auf dem Acker begegnete.
Damals sah er mit seinen langen Locken ja so aus, als käme er nicht nur geradewegs vom Woodstockfestival, sondern hätte es außerdem mitorganisiert und, ich setze noch eins drauf, beim Auftritt von John Sebastian im Hintergrund Tamburin geschlagen, weil sich der Musiker, der im Stau steckte, verspätet hatte.
Ich nahm ihm den Rebellen nicht ab.
Aber was versteht man eigentlich darunter? Etwa sowas wie die Autonomen, die nach der Wende aus dem Westen rüberkamen und hier Häuser und ganze Straßenzüge besetzten. Von ihnen war ich nach anfänglicher Begeisterung enttäuscht, als mir klar wurde, dass sie sich gar nicht für die Einheimischen interessierten. Heute glaube ich, dass die besetzten Häuser für die meisten nur ein Abenteuerspielplatz waren für eine kurze Phase ihres Lebens, und dass ihnen das wohl jederzeit bewusst war und sie das alles, was sie über Anarchie redeten, selbst nie für voll nahmen.
Einen aus seiner Klasse, ein extrem gutaussehender Typ, der einen an Alain Delon erinnerte - als ich ihn das erste Mal sah, bekam ich ganz weiche Knie - traf es härter. Um seinen Lehrmeister zu provozieren, mit dem er im Dauerclinch stand, und der ihn hasste, fuhr er in Zick-Zack-Linien über den Acker, mimte den Betrunkenen – auch er wohl ein Fan von Heinz Rühmann - flog von der Schule, und erhielt noch nicht einmal das Facharbeiterzeugnis.
Eigentlich war sein Pech nur gewesen, dass er aus irgendeinem merkwürdigen Grunde dem Lehrmeister ein Dorn im Auge war, der die entscheidende Kraft dahinter war, dass er von der Schule geworfen wurde. Jetzt stand er ohne alles da.
Da spielten wahrscheinlich Rivalitäten eine Rolle, da die Beiden fast gleichaltrig waren. Der Ältere war auch früher bei uns Lehrling gewesen. Ich lehne mich jetzt mal weit vor, vielleicht spielten auch unausgelebte homosexuelle Neigungen eine Rolle, die in Hass mündeten wie bei „Billy Budd“ von Herman Melville. Da endete es nicht mit Rauswurf, sondern es gab die Todesstrafe.
Sie waren grundverschiedene Charaktere. Der eine neigte zur Anpassung – der Lehrmeister hatte sogar drei Jahre Armee gemacht - und der Andere zur Aufmüpfigkeit.
Oft ist es so, dass diejenigen, die früh mit rebellieren anfangen, auch schon bald wieder damit aufhören und nach ihrer wilden Zeit konservativer werden als andere, die nie vorher nie mit irgendwas aufgefallen sind.
Hoffentlich ist der Rausgeworfene nicht in irgendwas kriminelles reingerutscht! Seine Arbeitskollegen beim Gleisbau, raue Burschen, machten sich bestimmt über ihn lustig.
So einen Lehrmeister, der sich auf mich fixierte, hatte auch ich im zweiten Lehrjahr.
Er arbeitet heute in einer anderen Branche, die auch wegen Corona stagnierte und wurde dazu interviewt in einem Video. Ich bereute meine Neugier. Hätte ich es mal lieber nicht gemacht, denn bei dem Anblick kamen unliebsame Erinnerungen hoch. Ich war plötzlich wieder Lehrling und versuchte mich irgendwie zu arrangieren. Das nennt sich wohl Stockholmsyndrom. Er sah kam älter aus. Seltsam
Heute nennt sich unsere Schule Fachgymnasium. Ich fand Videos, die erst vor ein paar Jahre entstanden sind, wo alle zusammensaßen, Bier tranken, Zigaretten in der Hand hatten und lachten, Unter ihnen schien ein Faßbinder junior zu sein, das heißt, jemand der ein Faible für Videoproduktionen hat, und seine Kumpels aus seiner Klasse filmt, weil man immer wieder die selben Gesichter sieht. Sie sind wie wir waren, einige mit etwas wilderen Frisuren, die gaben wohl die Rebellen, wie damals der, in den ich verliebt war.
Die Video-Kamera schwenkt auch über den Giebel, in dem sich unser Viermannzimmer befand. Unser Fenster kommt ins Bild. Ich stoppe das Video, springe ein Stück nach vorn und lasse den Anblick auf mich wirken.
Unter uns wohnte ein Lehrer von unserer Schule, der sich immer über unser Getrampel beschwerte.
Anlässlich des runden Geburtstages der Schule hatte auch einer der vielen ehemaligen Lehrlinge einen Beitrag ins Internet gestellt. Ich meldete mich bei ihr und schickte meinerseits einen Link zu einem Text, den ich über meine Lehrzeit geschrieben hatte. Ich hatte von Anfang an geahnt, dass das ein Fehler sein würde. Ich kannte schließlich meine Mitschüler.
Und leider behielt ich recht. Aber ich musste es einfach tun. So was kennt bestimmt jeder, dass man etwas macht, obwohl man ahnt, dass das nicht gut ankommt.
Meine Sicht auf die Dinge muss sie völlig schockiert haben, denn gleich aus dem ersten Satz ihrer Antwort-Mail las ich ihren Vorwurf heraus, Erinnerungen entzaubert zu haben.
Ich galt ihr wohl für eine Brunnenvergifterin.
Solche Sätze – den habe ich übrigens von Alexander Osang geklaut, aus seiner Spiegel-Kolumne, er schrieb über seine Lehre als Gas-Wasser-Mann mit Abitur in Neubrandenburg - wie: „Wenn ich Sonntags abends tascheschleppend vom Bahnhof kam, hoffte ich immer, dass das Internat inzwischen abgebrannt war“, mussten ihr gestunken haben. Ihre Mail fing an mit: „Das war die schönste Zeit meines Lebens“.
Wenn ich zum Klassentreffen fahren würde, käme auch ich an dem schrecklichen Satz nicht vorbei. Das will dann einfach jeder von dir hören. Dazu müsste ich dann auch noch ein gerührtes Gesicht machen, damit ich sie davon ablenken kann zu fragen, was ich bisher so getan habe.
Ich dagegen hatte geschrieben: „Wenn ich jemals behaupten werde, dass das die beste Zeit meines Lebens war, dann sagt mir, dass es soweit ist, dass ich mich erschieße.“ Zwei Lehrlinge, zwei Meinungen.
Diesen Spruch hatte ich aus dem amerikanischen Film „Der Sommer der Ausgeflippten“ – der Unsentimentale sitzt dabei mit seinen Freunden am letzten Schultag auf der 50 Yard-Linie im Footballstadion - und fand ihn superzutreffend für meine Lehrlingszeit. Ich habe übrigens nie verstanden, warum sich die Amerikaner wegen Football so heiß machen. Oder noch mehr wegen Baseball.
Ich muss immer den Kopf schütteln, wenn ich bei Bukowski oder auch anderen wie Scott Fitzgerald seitenweise öde, jedenfalls für mich, Beschreibungen von diesen Wettkämpfen lese. Scheinbar hatten sie alle mal vor, große Spieler zu werden. Aber daraus ist zu ihrem Leidwesen nichts geworden. Sie sind wohl nie darüber weg gekommen. Jedenfalls macht es den Eindruck, wenn man ihre Geschichten liest.
Vielleicht lag das auch daran, dass es ihr dort so gut gefallen hatte, weil sie zu dem letzten Jahrgang gehörte, der dort noch zwei Jahre nach der Wende den Facharbeiter mit Abitur in der Landwirtschaft ablegte.
In ihrem ersten Lehrjahr hieß der Staat noch DDR. Im zweiten und dritten dagegen Deutschland. In der Zeit des Umbruchs ging es dort bestimmt sehr locker zu, und die Lehrmeister, die sich langsam nach einem neuen Job umkucken mussten, da die Schule umstrukturiert wurde, waren nicht mehr so gefürchtet wie zu unserer Zeit. Eine Twilightzone.
Die neue Zeit hatte noch nicht angefangen, und die alte war noch nicht gegangen.
Ich denke aber, das ist nicht der Grund. Viele aus meinem Jahrgang sagen bestimmt das gleiche über ihre Lehrlingszeit wie sie.
„Was war denn daran eigentlich so schrecklich?“, wird viele interessieren.
Eigentlich gar nichts. Sogar ganz im Gegenteil. Meine neuen Klassenkameraden bei der landwirtschaftlichen Ausbildung mit Abi gefielen mir viel besser als die, mit denen ich auf der Oberschule bis zur zehnten Klasse die Schulbank drückte. Dort stand ich in der Rangordnung ganz unten. „Diejenigen, die in der Schule beliebt sind, kommen aus glücklichen Familien“, habe ich mal in den Erinnerungen von Janet Frame, der bekanntesten neuseeländischen Dichterin, gelesen.
Ich kam aus keiner glücklichen Familie. Meinen Vater kannte ich gar nicht. Das war aber nicht das Ärgste, sondern, dass meine Mutter auch noch Lehrerin an unserer Dorfschule war. Was ich das verflucht habe. Immer wenn die Väter meiner Mitschüler mit dem Traktor auf der Straße an mir vorbeituckerten und mir grüßend zuwinkten, wünschte ich mir einen Vater wie sie. Dann wäre unsere Familie nahtlos in die Dorfgemeinschaft integriert, ich wäre wie alle, und niemand würde mir auf dem Pausenhof etwas hinterherrufen. Aber wir wissen ja alle, was man sich am meisten wünscht, kriegt man sowieso nicht.
Als ich die Tür der zehnklassigen Oberschule hinter mir zufallen hörte, fühlte ich mich wie ein gerade aus dem Knast Entlassener. Und endlich entkam ich meiner Mutter. Ich musste da raus. Unser Verhältnis war unhaltbar geworden. Ihre Handgreiflichkeiten gegen mich hatten zwar aufgehört, als ich begann mich zu wehren, aber dafür ging es jetzt verbal weiter. Heute sehe ich die Schuld nicht mehr allein bei meiner Mutter, sondern in der Enge der gesellschaftlichen Verhältnisse in denen wir lebten. Sie hatte zwar studiert, aber dass Gewalt keine gut Idee ist, hatte ihr keiner gesagt.
Meine neuen Klassenkameraden waren sehr witzig. Viele waren bestimmt im Innersten sehr konservativ, aber ihre Intelligenz, die ein Eigenleben führte, machte sie offen und neugierig.
Besonders sechs von ihnen waren besonders begnadet auf diesem Gebiet, zogen alles durch den Kakao und hielten damit die ganze Klasse in Atem. In der polytechnischen Oberschule waren dagegen Drangsalierungen, Häme und Spott an der Tagesordung gewesen.
Ein paar aus von uns ließen den Intellektuellen durchhängen. Erst bildete ich mir ein, endlich habe ich Leute getroffen, mit denen ich reden kann. In der zehnklassigen Oberschule, war ich in meiner Klasse immer die einzige, die viel las. Da machten auch die, die schon ab der achten zur Erweiterten Oberschule gingen, um dort Abitur zu machen, keine Ausnahme.
Bald folgte die Ernüchterung. Denn sie ließen niemanden gelten und versuchten mich, die ihrer Wortgewandtheit nicht gewachsen war, mattzusetzen.
Meine Freundin, die auch aus einem kleinen Dorf stammt, aber nicht aus Mecklenburg-Vorpommern, sondern aus dem Oderbruch, beklagt sich andauernd über die Großstadt. Das vergangene Leben im Dorf erscheint ihr als Idylle.
Dabei ist von den jungen Leuten nach Schulabschluß bei uns so gut wie niemand in der Heimat geblieben, außer einige wenige, die in in der LPG-Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft arbeiteten. Abeit gab es in den größeren und kleineren Städten der Umgebung. Sehr viele gingen zur Lehre nach Rostock, wo Werft und Hafen waren. Aber auch nach Stralsund und nach Greifswald, wo das Atomkraftwerk vielen Leuten Arbeit gab. So war mit ab dem sechzehnten Lebensjahr kaum noch einer in der Nähe zu finden.
Nach Mauerfall zog es viele aus meiner Heimat nach Hamburg. Sogar die ganzen Szenetypen vom Norden: egal ob intellektuell angehaucht, punkig oder was es da sonst noch so gibt, die es früher zu dDR-Zeiten in die Hauptstadt lockte, treibt es jetzt nach Hamburg. Wahrscheinlich passen sie da auch mit ihrem norddeutschen Dialekt und ebendieser Mentalität besser rein. Wahrscheinlich, wenn ich jünger wäre, wäre ich da auch gelandet.
Leute aus Sachsen-Anhalt, wie meine Freundin, arbeiten dagegen schon seit Ewigkeiten in der Hauptstadt. Schon zu Kaisers Zeiten und davor, zog es die, die auf den Höfen nicht mehr gebraucht wurden, es erbte der älteste Sohn, in die Fabriken Berlins. So landeten sie, auch wie meine Freundin, aus einem verschlafenen Dorf – ich weiß natürlich, dass die Arbeit in der Landwirtschaft körperlich nicht ohne war - in einer finsteren Hinterhofwohnung.
In unserem Dorf erzählten sie, dass eine, die eine Ausbildung im Faserplattenwerk in Ribnitz-Damgarten machte – der Betrieb ist jetzt abgewickelt, dazu habe ich im Worldweiten Bilder unter Lost Places gefunden - mit den anderen aus ihrem Zimmer im Wohnheim vergiften gespielt hatten. Es waren die Siebziger, die Zeit des Jugendprotestes, der sogar bis zu uns in den hohen Norden gelangt war. Ihnen allen wurde der Magen ausgepumpt.
Ich glaube, der wahre Grund war, dass sie ihre Lehre so dermaßen gehasst hat. Ihr graute schon davor, am Wochenende wieder dorthin zu müssen. Wenn sich die Faserplatten irgendwo verklemmten, musste immer eine in die automatische Fertigungsstrecke und den Fehler beheben. Ein Mal wurde dabei einer Arbeiterin der Arm abgerissen.
Die letzten anderhalb Jahre meiner Lehrzeit nahm ich am Sonntag Abend eine andere Strecke, wenn ich ins Internat wollte. Von einem Städtchen, zwölf Kilometer von meinem Heimatort entfernt, fuhr eine Kleinbahn bis in den Ort, wo ich lernte.
Der Bus, derselbe, der unter der Woche auch Schulbus war und in dem wir immer zum Einkaufen fuhren, quetschte sich durch das schmale Stadttor durch, wobei ich jedesmal Angst hatte, dass wir drin steckenbleiben.
Es war noch zu früh. Der Zug fuhr erst in anderthalb Stunden. Bis dahin ging ich in die Milchbar des Ortes, eine winzig kleine Milchbar, wo das Eis aber sehr gut schmeckte. Der Mittelpunkt dort war sie. Ich weiß gar nicht, wie sie richtig hieß, aber alle nannten sie Gina. Sie war über eins achtzig groß und sehr attraktiv. Es wurde erzählt, dass ihr Mann zur See fuhr und ihr die vielen schicken Klamotten mitbrachte, die sie trug. Nie habe ich sie zweimal in den selben Sachen gesehen.
Sie machte sich für die Arbeit zurecht, als wenn sie in einer Nachtbar arbeiten würde und nicht in einer kleinen Milchbar, in der meist Omas und Kinder saßen und die Leute aus den Nachbardörfern, die eingekauft hatten und jetzt auf den Bus warteten. Obwohl sie sehr groß war, stiefelte sie auf turmhohen Absätzen durch die Gegend, trug Miniröcke, die eigentlich mehr einem Gürtel ähnelten und hatte ständig gewagte Haarfarben, sogar grau und lila waren dabei.
Manchmal trug sie dazu auch rote Lackstiefel, die ihr bis zu den Oberschenkeln gingen. Um sie herum, am Tresen der Milchbar, hielt sich immer ein Schwarm Männer auf, mit denen sie flirtete. Aber wahrscheinlich blieb es beim Flirten, und sie war ihrem Mann treu, oder? Ihre Kolleginnen in der Milchbar, Muttitypen mit Dauerwelle und Kittelschürze, waren nicht neidisch auf sie, wie man denken könnte, sondern im Gegenteil, sie beteten sie an.
Auch nach Feierabend blieb sie oft in der Milchbar, zu Hause wartete ja keiner auf sie, da ihr Mann auf See war. Sie saß dann, in einem scharfen geblümten Minirock, mit übereinandergeschlagenen Beinen, auf dem Barhocker vor dem Tresen und hielt lachend die Zigarette zwischen ihren langen Fingern mit den roten Nägeln.
Sie war auch zu Kindern immer sehr nett. „Kinder haben ein Gespür für gute Menschen.“ Diesen Satz habe von Dostojewski. Er stammt aus den „Dämonen“, einem Werk, an dem ich schon mehrmal gescheitert bin.
Ich bin einfach mit den Namen nicht mehr klargekommen. War Vera Wassiljewna jetzt die Frau, Tante oder uneheliche Tochter von Iwan Nikolajewitsch oder nichts dergleichen? Nach der ersten Hälfte verlor ich immer völlig den Faden. Beim „Idioten“ bin ich einmal bis zur Hälfte und im zweiten Anlauf bis zum letzten Drittel gekommen, ebenfalls, weil ich einfach nicht mehr wußte, wer wer war.
Ich setzte mich an einen freien Tisch hinten in der Milchbar. Die einsame Seemannsbraut, deren Mann gerade das Kap der Guten Hoffnung umschiffte, kam auf hohen Absätzen angeschwebt und schaute mich aus großen, schwarz ummalten Augen mit angeklebten Wimpern und grauen Lidschatten fröhlich an. „Was willst du haben?“ fragte sie, die mich kannte. Die Bestellung war einfach. Es gab bloß drei Eisbecher und Bockwurst, die aber sehr gut schmeckte, da sie eine Extraanfertigung für die Milchbar war.
In den Wintermonaten, wenn es draußen schon dunkelte, war es in der Milchbar immer extrem gemütlich. Vorne, am Tresen, stand Gina und lachte und flirtete und erfüllte den kleinen, schummrigen Raum mit ihrem Charme, und ich saß da, löffelte Eis und fühlte mich pudelwohl. Außerdem saß dort an einem Tisch auch immer eine Runde sympathischer Old Ladys, die schon zum Inventar gehörten und die ich mochte.
Als sie wegging, weil ihr Mann versetzt wurde, verlor die Milchbar, in die sie Leben rein gebracht hatte, ihre Anziehungskraft, und es war dort oft recht leer. Der Schwung fehlte einfach. Es hatte sich schon vorher rumgesprochen, dass sie wegzieht, aber man konnte sich die Milchbar ohne sie einfach nicht vorstellen.
Ich habe Gina später noch einmal gesehen, als sie ihre Kolleginnen besucht hat. Sie sah ein bißchen traurig aus. Sie vermisste wohl die Milchbar. Wahrscheinlich war das für sie die beste Zeit ihres Lebens.
Mit ihr ging eine Ära vorbei. Immer wenn ich später in der Milchbar war, kam es mir so vor, als wenn sie dort noch immer unsichtbar umherging und auf ihren hohen Absätzen durch die Bar schwebte, mit ihrem fröhlichen Lachen, ihren angeklebten Wimpern und ihrer aufgetürmten Haarpracht, und ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass sie nicht mehr zurück kommt. Ich weiß eigentlich gar nichts über sie, wie alt sie war, wo sie herkam und wo sie hinging.
Jetzt, wo ich eine andere Strecke nahm, musste ich am Wochenende früher los, aber dafür ein Mal weniger umsteigen. Ich genoß den paradiesischen Ausblick aus dem Fenster des Triebwagens und war froh dem ewigen Gekicher meiner Mitschülerinnen entkommen zu sein. Ich staunte, wie schön meine Heimat ist, durch die sich der Triebwagen in gemäßigten Tempo zielstrebig arbeitete.
Der Blick fiel zwar nur auf Rüben-und Kartoffeläcker, die je nach Jahreszeit von wogenden oder stoppeligen Getreidefeldern unterbrochen wurden, mit vereinzelten Ortschaften dazwischen, aber auf diese Fahrt freute ich mich schon die ganze Woche. Hier fällt mir auf die Füße, dass ich keine Gedichte verfasse. Das erweist sich bei Naturbeschreibungen als hilfreich.
Ich merk doch heftig, wie mir die passenden Ausdrücke fehlen. Dichter können eben besser mit Worten als jene, die nur Prosa schreiben. Fast alle Schriftsteller haben zuerst mit Poesie angefangen. Sylvia Plath übrigens auch. Von Kafka dagegen habe ich nie vernommen, dass er auch gedichtet hat, was mir Hoffnung macht.
Das Bimmelbähnchen ist übrigens nach der Wende stillgelegt worden. Alle haben sich Autos gekauft. Man kann ein Video von seiner letzten Fahrt sehen. Ich konnte mir das nicht lange ankucken. Es brach mir das Herz. Die Gleise hat man alle rausgerissen. Dafür gibt es in der Nähe jetzt eine Autobahn, deren Fahrbahn einbrach, und die sechs Jahre gesperrt war und für hundertachtzig Millionen Euro saniert werden musste.
Was ist mit der kleinen Stadt?“, werden jetzt welche fragen. Ich befrage das Weltumspannende danach, was das kleine Städtchen heute so macht.
Viele Häuser sind verfallen. Das Haus, wo die Milchbar drin war, übrigens auch. Ich stoße auf ein Kunstprojekt, dass ein Jahr gedauert hat. Studenten haben aus verlassenen Häuser Lichtinstallationen gemacht. Das sieht gut aus, bringt aber niemanden weiter.
Einmal traf ich jemanden, den ich von der zehnklassigen Oberschule her kannte, als ich Freitag abends mit der kleinen Bahn in die umgekehrte Richtung fuhr, von meiner Lehre in das Städtchen. Leider hatte ich keinen Anschluß und wollte die zwölf Kilometer zu Fuß zurücklegen.
Mario, auch ein Lehrling, der in einem Dorf einen Kilometer von meinem entfernt wohnte, war mit dem Rostocker Bus gekommen und hatte den selben Fußmarsch vor sich. An Trampen dachten wir beide nicht. Eigentlich war ich zuerst gar nicht so begeistert über die Begleitung, denn er hatte irgendwas nervöses, beunruhigendes an sich, sprach mit affektierter Stimme und wirkte kindisch und albern. Ein Jugendlicher beim Coming Out? Irgendwie wurde man nicht schlau aus ihm. Ich weiß gar nicht, was für eine Lehre er eigentlich machte. Hoffentlich nicht beim Bau. Wir freuten uns, dass wir nicht alleine laufen müssen. Mario paßte auch nicht rein in unsere Gegend, genausowenig wie ich. Er, der ein Jahr jünger war, schien anders zu sein als die anderen Jungs bei uns an der zehnklassigen Oberschule.
Er war in seiner Klasse auch Außenseiter wie ich.
Ich glaube, er war schwul. Das vermutete auch meine Mutter, die seine Klassenlehrerin bis zur Zehnten war. Ich sah ihn in der großen Pause immer mit den Mädchen aus seiner Klasse zusammenstehen.
Er war ein zierlicher Bursche mit großen dunklen Augen, die immer etwas traurig schauten. Kein Wunder: seinen Vater kannte er nicht, hatte früh die Mutter verloren und wuchs bei einer kinderreichen Nachbarsfamilie auf. Er neigte übrigens genauso zum ständigen Kichern wie meine Klassenkameradinnen und redete albernes Zeug mit affektierter Stimme. So richtig schlau wurde ich aus ihm nicht.
Schwule waren unter den Jungs in meiner Klasse ein großes Thema. Das merkwürdige aber war, bei uns in der Gegend gab es so was nicht. Ständig bezichtigten sie sich gegenseitig, schwul zu sein. Das ist wohl nicht ungewöhnlich für die Zeit der Suche nach der sexuellen Identität. Mann darf sich nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn sich in unserer Gegend jemand geoutet hätte.
Mario und ich waren an dem Abend schon eine ganze Weile unterwegs, da bog er plötzlich in einen Feldweg ab. „Das ist eine Abkürzung.“ Ich schaute ihm verblüfft hinterher. Er verschwand in dem wogenden Getreidefeld.
Zwischen den gelben Ähren sah ich ihn das letzte Mal. „Stell dir vor, Mario ist verschwunden. Keiner weiß etwas“, erzählte mir meine Mutter lange danach. „Bei der Familie, bei der er gelebt hat und auch bei seinem älteren Bruder meldet er sich nicht mehr.“
„Warum ist der dann nicht nach Rostock gefahren und hat seinen kleinen Bruder gesucht?“, fragte ich mich. Ein echter Bruder hätte das gemacht. Das mit dem Verschwinden sehe ich entspannter. Er wird irgendwo ein neues Leben angefangen haben.
Marios Bindungen an sein Heimatdorf waren wohl irgendwie verloren gegangen. Meine ja auch.
Ich weiß auch nicht, warum ich es plötzlich so ein Faible für meine Heimat entdeckt habe. Nicht, dass es mir so geht wie Adrian Leverkühn aus „Dr. Faustus“ von Thomas Mann, der plötzlich von Heimweh ergriffen wird beim Anblick eines Bauernhauses bei München, weil es ihn an Kaisersaschern, wo er aufgewachsen ist, erinnert, und es zu seinem neuen Lebensmittelpunkt macht. Nicht lange danach wird er verrückt. Das muss nicht sein.
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