Leidensdruck

muskl

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Leidensdruck


Sein Leben war wie viele Leben, das überwiegend typische Leben eines Mannes. Er war mehr oder weniger gut behütet aufgewachsen, hatte mehr von seiner Mutter gesehen und gefühlt, als von seinem Vater. Es wurde ihm früh klar gemacht, das es die Normalität war, wenn er seinen Vater selten sah, da er viel und hart arbeitete. Seine Mutter dagegen war immer da, war immer zur Stelle, wenn etwas schön war oder wehtat. Er schätzte er sie als die Versorgerin, denn sie hatte schließlich immer eingekauft und die Nahrung hergestellt. Oft vielen auch süße Sachen für ihn und seine Geschwister ab, er teilte sich die Mutter mit drei Geschwistern. Seinen Vater hatte er fast nur streng kennen gelernt, wenn seine Mutter nicht weiter wusste, kam die nächst höhere Instanz. Der Vater hatte nun mal wenig Zeit, da blieb nur noch der Augenblick für eine Bestrafung. Trotzdem hatte er ihn sehr lieb und wünschte sich oft mehr Zeit mit dem ihm, bestimmt aber mehr Zeit für schönere Dinge als Bestrafungen. Er aber arbeitete viel und hart für die Familie, die etwas andere Familienarbeit blieb dabei auf der Strecke. Den Trost für die Bestrafungen übernahm dann wieder seine Mutter.

Das hinderte ihn aber nicht daran ganz normal durch sein Leben zu marschieren. Er hatte in seiner Jugendzeit relativ viele Freiheiten, aber die Grenzen dafür waren eng gezogen. Der geringste Ausbruchsversuch in welche Richtung auch immer, wurde sofort von seinen Eltern abgefangen. Wenn er alles so gehen ließ, wie es die Normalität der Eltern vorschrieb, dann hatte er seine Freiheit und Ruhe. So kam es zu keinen großen Ausfällen von seiner Seite, manchmal hätte er aber gerne mehr gewagt. Er machte die normale Schulbildung durch, nicht gut aber auch nicht schlecht, absolvierte eine normale Berufsausbildung im Handwerk, nicht gut aber auch nicht schlecht, er hatte immer durchschnittlich gelebt und er war der Durchschnitt. Nun hatte durchschnittlich sein ja nichts negatives, man bewegte sich der Mitte, genau an der tiefsten Stelle im Fahrwasser, was einen irgendwie unsinkbar machte, wenn man dann nicht Selbst das Schiff war. Wie es ging hatte er ja bei seinen Eltern gesehen, die machten es so wie es alle machten und schienen glücklich zu sein, zumindest machten sie einen fröhlichen Eindruck. Manchmal kam es ihm aber so vor, als wären sie froh, wenn sie ihr Leben endlich geschafft hätten, so als wäre es eine Leistungsprüfung.

Mit den Frauen hatte er nicht viel Erfahrung. Er war anfänglich durch zwei Kurzbeziehungen gestolpert, wobei er bei der zweiten auch gleich praktischerweise die Unschuld verlor. Danach lernte er ein Mädchen kennen, das schon früh auf Verlässlichkeit stand und gleich in ihm den Mann fürs Leben zu erkennen glaubte. Wenn er mal zeitweise nicht daran glaubte, brachte sie ihn schnell wieder dahin, er war schließlich formbar. Sie begleitete ihn über die Jahre, sie plante, er machte. Insofern nahm er keinen großen Unterschied wahr zum Leben mit seinen Eltern, es war ein sanfter Übergang. Nur zwischendurch kam immer mal wieder der Gedanke hoch auszubrechen, mal etwas ganz verrücktes zu tun, etwas zu wagen, mit dem sie alle nicht rechneten. Die Gedanken aber über die Konsequenzen bremsten ihn jedes Mal wieder ab, er wusste zwar nicht wie sie aussehen würde, aber das machte ihm gerade Angst. Der vorgezeichnete Weg war der einfachste, obwohl er sich manchmal fragte was passierte, wenn jemand aus seiner Nähe nicht mehr mitspielen würde, sich nicht mehr an den Plan hielt.

Doch vorerst hielt der vorgezeichnete Weg was er versprochen hatte. Er tat zuverlässig seinen Job, heiratete sein Mädchen und sie bezogen eine kleine Wohnung und taten das gleiche was auch seine Eltern getan hatten, manchmal hatte er das Gefühl, sie beide lebten deren Leben nach. Nachdem sie zwei Kinder bekommen hatten, baute er ein Haus. Finanzielle Probleme gab es nicht, da beide sehr früh etwas für diesen Weg zurückgelegt hatten und auch die nötige Sparanlage fehlte natürlich nicht. Sein Leben verlief in ruhigen Bahnen, er hatte Freunde die so dachten und machten wie er, hatte eine liebe Frau bei der er dachte und machte wie sie und verlockte schon mit allen anderen über die Zeit, wenn er endlich nicht mehr arbeitete und durch die Rente viel Zeit hätte. Im ruhigen Fahrwasser dümpelte sein Leben so dahin, er hatte immer noch zwischendurch seine Phantasie alles mal anders zu machen, alles hinschmeißen und völlig neu anzufangen, aber bei der Phantasie blieb es auch. Er redete mit ihr auch nicht darüber, sie schien sicherlich nicht darüber nach zu denken, sie agierte mit ihrer Sicherheit den Alltag. Das tägliche Einerlei war das einzige Gesprächsthema, was sie noch hatten.

Bis zu einem Tag im Frühjahr, da gab es ein neues Thema. Es war ein Sonntag, mit schon angenehmer Wärme als Vorbote des Sommers, irgendwie erinnerte ihn das an die Sonnentage in seiner Kindheit. Die waren aber unschuldiger, spielerisch und ohne Druck, an den Sonnentagen als Erwachsener gab es für ihn keine Entspannung. Vielleicht konnten sie heute mal aufs Land rausfahren und spazieren gehen, vielleicht würde er ja die Unschuld wiederfinden.

Nach dem, wie so oft hektischen Frühstück, ging er ins Schlafzimmer um sich anzuziehen. Achtlos schmiss er seinen Schlafanzug in die Ecke und ging an den Schrank, um sich ein paar Socken heraus zu holen. Er bekam die falsche Schublade zu fassen, es war die mit ihrer Unterwäsche. Er wollte sie schon schließen, da fielen ihm eine einige kleine Packungen ins Auge, die knapp unter der Wäsche sichtbar war. Er nahm sie nacheinander heraus und las immer wieder dasselbe auf den kleinen Verpackungen, es waren verschiedene Sorten von Medikamenten. Die Wirkweise war aber bei allen ähnlich, es waren starke Psychopharmaka. Viele bunte Wohlfühlpillen jede Art und Größe, die für Gefühle jeglicher Art waren. Pillen gegen Unruhe und gegen Ruhe, gegen Depressionen und Trauer, zum Aufheitern, um wach zu werden und um zu schlafen. Sie hatte eins gemeinsam, den Aufdruck das sie schon nach kurzer Einnahme abhängig machen konnten, also zu einer Sucht führten.

Ohne das er eines dieser Medikamente genommen hatte, stand er wie betäubt mit den Schachteln in der Hand vor dem Schrank. Sein Gehirn weigerte sich es aufzunehmen, er wünschte das die Welt stehen blieb, oder er es umkehren konnte. Als er aufsah, erblickte er seine Frau im Türrahmen, überhaupt nicht mehr stark und durch nichts zu erschüttern. Sie stützte sich gebeugt an den Rahmen, ihr Gesicht wirkte zusammen gefallen, dunkle Ringe unter den Augen, ihre Pupillen waren groß. Es war, als wäre jegliche Sicherheit von ihr abgefallen, es waren nur noch Schwäche und Erschütterung da. Aber auch etwas anderes wurde sichtbar, sie wirkte wie erleichtert, als wären schwere Gewichte von ihren Schultern genommen. Er ging zu ihr und nahm sie in den Arm und hielt sie ganz fest, noch in seinen Armen brach sie weinend zusammen.

Nach einer Woche durfte er sie das erste Mal im Krankenhaus besuchen. Mit Blumen stand er vor der Tür und wartete bis aufgeschlossen wurde, nach dem eintreten wurde die Tür wieder sorgsam verschlossen. Er folgte dem kräftigen Pfleger zum Zimmer seiner Frau, auf dem Weg gab ihm der Pfleger ein paar Verhaltensmaßregeln und erklärte ihm, dass der Arzt noch mit ihm zu sprechen wünschte. Seine Frau lag nicht im Bett, sie saß an einem Tisch und schrieb etwas. So verhärmt und zerbrechlich hatte er sie noch nie gesehen, sie schien einige Kilo abgenommen zu haben, sah etwas ungepflegt aus und war nachlässig gekleidet. Sie waren beide stark verunsichert und es dauerte einige Zeit bis sie reden konnten.

Sie erklärte ihm das sie Medikamentenabhängig wäre und etwas tun musste um davon los zu kommen, sonst würde sie sterben. Sie redete wie ein Buch und erzählte alles, was sie so lange unterdrückt hatte. Sie war vom Beginn an in ihrer Beziehung überfordert gewesen, sie hatte die anerzogene Rolle einer Hausfrau und Mutter angenommen, musste aber gleichzeitig auch für ihn sorgen. Sie habe ihn nahtlos von seiner Mutter übernommen und habe seitdem für ihn mitleben müssen, er sei sich selbst genug gewesen, genau wie sein Vater. Diese ständige Forderung ihrer beiden Leben zu gestalten, habe sie bis an die Grenzen ihrer Kraft gebracht und darüber hinaus.
Seiner Mutter würde es nicht anders gehen, sie hatte bloß das Glück oder Unglück, nie daneben noch berufstätig zu sein. Aber er sollte mal genau hinschauen, hinter die fröhliche Maske seiner Eltern, vor allem hinter die seiner Mutter. Sie hatte den Tipp mit den Medikamenten von seiner Mutter, die hatte gelernt was es bedeutet mit einem unselbstständigen Mann zu leben. Nur war seine Mutter in Krisensituationen schon einige Male von seinem Vater abgefangen worden, aber nur in ihren Krisensituationen, damit er das Alte wieder herstellen konnte. Aber seine Mutter sei nicht fröhlich und glücklich, aber sie hatte nie die Kraft gehabt, diese Sache zu beenden. Sie hatte wie alle vernachlässigten Frauen die Angst, plötzlich alleine da zu stehen, sie hatte es von ihrer Mutter auch nicht anders gelernt.

Es wäre nicht genug das Geld zu verdienen, um einen glücklichen Eindruck zu machen, Familienarbeit sei nötig um glücklich zu sein. Das bedeutet natürlich Anstrengung, aber Anstrengung von beiden Seiten, nicht nur von ihr. Er sei nicht viel mehr als ein Untermieter, der zusätzlich irgendwelche Arbeiten übernahm, die zum Mietverhältnis gehörten und denen er nicht aus dem Weg gehen konnte. Wie ein Pascha auf seinem Thron verteile er die Arbeit und nahm sich was ihm Spaß machte, oder wozu er sich alleine für befähigt hielt. Er hielt sich für einen Gott, erwartete ständige Anbetung und Lob für seine Taten, er war die letzte Instanz für schwierige Entscheidungen, die aber vorher schon ausgearbeitet waren.

Erschöpft hielt sie einen Moment inne und holte tief Luft, er trage die Mitverantwortung für ihre Situation, er soll endlich aufwachen und die Verantwortung für sich übernehmen, ihre könne sie alleine tragen. Sie wollte die nächsten Wochen nicht von ihm gestört werden, sie würde es ihm sagen, wenn sie wieder zu einem Gespräch bereit sei. Dann bat sie ihn zu gehen.

Er war bis ins tiefste erschüttert und ging wie betäubt zum Ausgang der psychiatrischen Station und ließ sich die Tür öffnen, er würde es jetzt nicht fertig bringen mit dem Arzt zu reden. In ihm war alles angefüllt mit Gefühlen, er wusste das sie Recht hatte, hatte es schon immer gewusst. Auch über seine Eltern hatte er es gewusst, oft sogar das Verhalten verurteilt, aber es sich nur im Gedanken spüren lassen. Er hätte damit seinen Vater verurteilen müssen, aber der war für ihn immer unantastbar, wie eine letzte Instanz. Einen Gott konnte man nicht angreifen, entweder wurde er unangreifbar gemacht oder er machte sich selbst dazu. Es schien einfacher so zu sein, aber man war alleine auf dem Thron, es machte einsam. Immer hatte er das Gefühl gehabt einsam zu sein, trotz seiner Familie, als würde er als Mann alleine da stehen, im Kampf mit dem Leben, dabei hatte er gar nicht am Leben teilgenommen. Er hatte sein Leben gelebt und sich alles dazu genommen was er brauchte, die mit ihm waren, hatten eigentlich nur ihre Aufgabe seine Bedürfnisse zu befriedigen. Er hatte es schon früh an seinem Verhalten bemerkt, aber bequemer war es, so weiter zu machen wie er es gesehen und gelernt hatte.

Er ging die Straße am Krankenhaus entlang und überlegte, warum so eine Situation nötig war, um sich Selbst zu erkennen. Musste die Not so groß werden, um etwas zu ändern oder gab es Möglichkeiten, es schon vorher zu erkennen? Eine Möglichkeit wäre sich nicht Selbst zu vereinsamen, sondern Gemeinsamkeit zu zulassen, eine richtige Familie zu sein, in der alle Gleichberechtigt waren. In der Entscheidungen gemeinsam getroffen wurden, nicht nur die Großen, auch die vielen kleinen Entscheidungen, ohne eine letzte Instanz, die es nach Wichtigkeit bewertete ob sie Eingriff. Er wollte nicht mehr alleine oben stehen, er wollte bei seiner Frau und seinen Kindern sein, in ihrer Nähe, nicht über ihnen.

Er stieg in sein Auto und war sich sicher, dass er alles tun würde um seine Familie zu retten, eine Chance zu bekommen, einen neuen Anfang zu wagen. Er wünschte sich für seine Familie viel Kraft und Offenheit, damit sie auch weiter bestehen konnte. Er wusste aber auch, dass er damit bei sich selbst anfangen musste. Er beschloss sein Leben zu ändern, nicht nur für sich, auch für seine Familie. Es würde ein langer, harter Weg werde, aber sie würden es schaffen.

2001 / Michael
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
das ist

eine sehr schöne und anrührende geschichte, aber etwa um ein drittel zu lang. am anfang auch einige tippfehler. leider auch nicht neu, das thema, aber ich finde, man kann nicht oft genug darüber reden. ganz lieb grüßt
 

muskl

Mitglied
danke für die Kritik. Die Länge ergibt sich wohl daraus, dass es im Prinzip zwei Themen sind, die aber trotzdem miteinander verwoben sind.
Lieben Gruß zurück
Michael
 

Andre

Mitglied
flammarion hat Recht, diese Geschichte ist schön. Die Länge oder Tippfehler stören mich da nicht. Es gibt viele Leute, die sich das hier durchlesen und darüber nachdenken sollten. Daran besteht kein Zweifel.

André
 

muskl

Mitglied
Leider ist es meistens nötig die Schublade aufzuziehen, damit der Leidensdruck enstehen kann. Danke für die Kritik.
Lieben Gruss Michael
 



 
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