Hallo Herbst Zeitlose!
Bei diesem Text bin ich persönlich leider nicht so richtig überzeugt. Immerhin lohnt es sich aber vielleicht, wenn ich mal darüber reflektiere, warum ich hier nicht in positive Resonanz gerate (anderen Lesern ergeht es sicher anders!).
Zunächst finde ich die Form einer Art Kurzdoku Eurer Kurzmitteilungen ja durchaus interessant und anregend. Auch das grundsätzliche Thema finde ich sehr geeignet für ein Gedicht, sprich, das Thema tiefen menschlichen Leids, welches in diesem Fall offenbar aus einem unvorsichtigen oder auch unvernünftigen Handeln einzelner Beteiligter resultierte und mit der allgemeinen Feierlaune zum Jahreswechsel kontrastiert.
Inhaltlich gibt es dabei eine Sache, die mich irritiert (was aber nichts schlechtes sein muss, im Gegenteil: Irritation ist eine mögliche, vornehme Aufgabe von Gedichten) und zwar ist das die starke Betonung des Dokumentarischen, also der Tatsache, dass es sich hier um einen realen Fall handelt. Dieser Aspekt verleiht dem Text etwas sehr Indezentes und ich fühlte mich beinahe versucht, die aktuellen News von google zu bemühen, um herauszufinden, ob hier wirklich ein realer Fall geschildert wird (ich konnt mirs dann gerade noch verkneifen).
Das ist eigentlich ein ganz spannender Effekt und wenn der Fall in Wirklichkeit eben DOCH fiktiv ist, wäre es wirklich ein wohlkalkulierter Angang. Aber irgendwie kommt es mir so vor, als ob hier tatsächlich eher ein reales Geschehen abgepaust wurde, was eine, wie ich finde, etwas parasitiäre Haltung des Schreibens mit sich bringt. Und selbst wenn es sich nicht ganz genauso zugetragen hat, so ist es doch zumindest sehr nah am Leben entlanggeschrieben und für ein Gedicht bin ich persönlich nicht so ein Fan von dieser Herangehensweise. Die Lyrik ist für mich immer eine etwas "gekünstelte" (das klingt jetzt negativ, ist aber nicht so gemeint) Ausdrucksform, will sagen: Ein Gedicht benutzt eine relativ artifizielle Art des Schreibens, zumindest indem (jedenfalls in der modernen "westlichen" Tradition) ein prononcierter Gebrauch von Zeilenumbrüchen gemacht wird. Für dokumentarische Zwecke erscheint mir persönlich das als unangemessen, weil hierbei das geschilderte Geschehen von einer artistischen Ästhetisierungsebene überlagert wird, die mich persönlich stört.
Und einen zweiten Punkt bei dem Text empfinde ich tatsächlich (abseits von Geschmacksfragen) als "technisch" falsch: Nämlich die irgendwie etwas aufdringliche Kommentierhaltung des lyrischen Ichs, die sich zu Beginn und am Ende des Textes vor das Geschehen schiebt und dem Leser am Ende per Fazit jeden eigenen Gedankenspielraum nimmt.
Damit mich persönlich der Text erreichte, müsst er also erstens der Kommentare entkleidet und zweitens in Prosaform gebracht werden. Etwa so:
o. T. (den 31.12.2022)
Heute ist Silvester. Feuerwerk wieder erlaubt. Ich habe noch Zeit für ein paar Zeilen, bevor die Gäste kommen.
Mein Sohn ist ein junger Klinikarzt. Heute hat er Dienst. Am Nachmittag um 15:00 Uhr schickte ich ihm die üblichen Silvesterwünsche per whatsapp.
15:07: Sohn: Ich muss leider arbeiten. Ich hoffe ihr habt Spaß!
15:10: Vater: Wir wünschen dir eine ruhige Schicht und keine Notfälle!
16:45: Sohn: Ich war gerade auf der Verbrennungsstation... 16 Jähriger mit Verbrennung von Oberkörper und vor allem Gesicht. Prognose eher schlecht.
Sein 30 jähriger Bruder ist bei der Explosion im Keller gestorben.
17:10: Draußen ist es dunkel. Die Nachbarn lassen schon ein paar Raketen steigen. Ihr vierjähriger Junge erlebt sein erstes Feuerwerk.
LG & einen hoffentlich guten Jahresstart (& natürlich nichts für ungut, weil ich diesmal die Kritikermütze aufgesetzt habe

)!
S.