Lena

anbas

Mitglied
Lena

Es war im Jahr 2001 als ich erstmals vor Lenas Grab stand. Schnee lag auf den Wegen. In den letzten Tagen hatte es viel geschneit, und die tiefen Temperaturen versprachen ein weißes Silvester.

Ich nahm damals an einem Seminar teil, das über den Jahreswechsel hinweg stattfand. Die Akademie befand sich am Rande einer Kleinstadt. Der angrenzende Wald lud zu ausgiebigen Spaziergängen ein, für die wir in den langen Mittagspausen ausreichend Zeit hatten. Auf einem dieser Spaziergänge gelangte ich zu jenem Waldfriedhof. Ich weiß nicht mehr, was mich dazu bewog, ihn zu betreten und zwischen den Gräbern umherzuschlendern. Doch hin und wieder folge ich bei Wanderungen und Spaziergängen einfach meiner Intuition, lasse mich treiben und dann überraschen, wohin mich mein Weg führt.

Lenas Grab lag in der Nähe des Eingangs. Es handelte sich offensichtlich um ein Kindergrab. Lediglich ihr Vorname stand auf dem Stein, an dessen oberen Teil die kupferne Figur eines winzigen, vielleicht daumengroßen Vogels angebracht war. Über ihrem Namen befand sich ein kleiner geschmiedeter Baum. Außerdem steckte eine violette Blume aus Holz im Erdreich. Da überall Schnee lag, der selbst auf den Grabsteinen kleine Hauben gebildet hatte, fiel sie mir sofort ins Auge – ein leuchtender Farbfleck inmitten der verschneiten Winterwelt.

Von Anfang an übte dieser Ort eine seltsame, nahezu magische Anziehungskraft auf mich aus. In den folgenden Jahren besuchte ich hin und wieder mal Lenas Grab, wenn ich in der Akademie an einer Fortbildung teilnahm. Irgendwann fiel mir dann auf, dass es sich anscheinend um ein Familiengrab handelte, in dem aber bisher nur Lena begraben worden war. Die gesamte linke Seite war noch frei.

Je öfters ich bei dem Grab vorbeischaute, um so mehr begannen mich die Hintergründe zu interessieren. Wer war Lena? Wie alt war sie, als sie starb? Woran ist sie gestorben? Was ist mit ihren Eltern, ihrer Familie? Außerdem hatte ich an dem Tag, an dem ich das Grab entdeckt hatte, ein Foto von ihm gemacht. Es strahlte viel Ruhe aus, wie ich fand. Eine Zeitlang dachte ich daran, es gut verpackt oder sogar laminiert dort zu hinterlegen. Aber das erschien mir dann doch zu aufdringlich, so dass ich davon absah und es bei meinen Besuchen beließ.

Es waren etwa fünfzehn Jahre vergangen, als ich an einem verregneten Wintertag wieder einmal das Grab besuchte. Ich hatte dort lange nicht mehr vorbeigeschaut. Die Grabstätte sah aus, als würde sich niemand mehr darum kümmern. So gab es keine richtige Bepflanzung mehr. Gras und Unkraut bedeckten den Boden, und auf der Umrandung hatte sich Moos ausgebreitet. Nur zwei kleine Büsche wuchsen links neben der Stelle, an der Lena begraben worden war. Sie standen dort, wo man sonst weitere Grabsteine gesetzt hätte. Es wirkte auf mich so, als würden sie dort symbolisch für die Eltern stehen.

Ich fragte mich, ob ich wohl der Einzige wäre, der hier hin und wieder mal vorbeischaute? Bei diesem Gedanken war ich frei von irgendwelchen Vorwürfen oder moralischen Grundsätzen. Nein, ich fällte kein Urteil, sondern dachte an Lenas Familie. War ihr etwas zugestoßen, so dass sie sich nicht mehr um das Grab kümmern konnte? Hatte sie keine mehr Kraft dafür? Oder wollte sie eine Art Schlussstrich unter das ziehen, was einst geschehen war?

Wieder spürte ich diese so schwer zu beschreibende Anziehungskraft, die jener Ort auf mich ausübte. Und ich beschloss, dass ich auf jeden Fall weiterhin Lena besuchen werde, wenn ich dort in der Gegend bin. Vielleicht bringe ich ja beim nächsten Mal ein paar Blumen oder etwas anderes mit.



https://www.dropbox.com/s/zvm37c300czeqae/Lena-2.jpg?dl=0
 
A

aligaga

Gast
Normalerweise kommentiert @ali Tagebucheinträge nicht. Hier macht er eine Ausnahme, weil der Text zum einen kein "Tagebucheintrag" im klassischen Sinn ist und ihn zum anderen der Inhalt zu einer Antwort reizt.

Das Aufsuchen von Friedhöfen und das Betrachten fremder Gräber ist ein vielgeübter "Sport", dem vor allem die älteren Semester frönen.

Die Gefühle, die sie dabei beschleichen, sind keineswegs so schwer zu beschreiben, wie uns der Autor hier dartun möchte, sondern liegen recht klar auf der Hand. Es sind z. T. die gleichen, wie sie uns beim Betreten von Kirchen befallen, wo allerlei Zeichen, Namen, Sprüche, Lichter und Gerüche auf ein Jenseits deuten, das auf jeden von uns wartet, und von dem wir nicht genau wissen, wie es beschaffen sein könnte. Alle hoffen, es sei, wenn denn kein Nichts, so doch etwas Angenehmes; über Jahrtausende immer wieder ausgesprochene Verheißungen verfehlen dabei ihre Wirkung nicht. In die Trauer um einen Angehörigen, einen Bekannten oder ein fremdes Kind mischt sich die Hoffnung auf eine Erlösung. Man beginnt, zu reflektieren, und mit einigem Glück kehrt man bei sich selbst ein. Am Ende eines Friedhofsbesuch steht mitunter ein Erkenntnisgewinn.

Das alles kann Friedhöfe anziehend machen.

Die "Häuser am Fluss" sind fertig geschrieben; es kann daher keine "Werbung" sein, wenn @ali dir rät, o @anbas, dort in der Nummer 38 nachzugucken. Du erführest dort, was ein Friedhofsbesuch auch an einem noch jungen Mann schon anrichten kann - und warum das so ist. Auch da kommt ein fremdes Kindergrab vor.

Ein heiteres Wochenende wünscht

aligaga
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
es verhält sich wohl ähnlich wie mit dem beschau von traueranzeigen. oftmals ein offenes buch,
dann auch wieder rätselhaft. man hält inne und versucht sich den menschen hinter den worten vorzustellen.
manchmal auch dieses gefühl der eigenen endlichkeit.
 

ThomasQu

Mitglied
Hallo anbas,

Ganz schön traurig. Du hast in dem Text aber auch Spannung aufgebaut und ich hätte ganz gerne gewusst, was mit Lena geschehen ist. Es hätte ja sein können, dass du zufällig mal mit Angehörigen von ihr am Grab geplaudert hast.

Ich bin übrigens sehr froh und dankbar über deine Textveröffentlichung. Kein Mensch hätte sonst je erfahren oder bemerkt, dass die “Häuser am Fluss“ endlich fertig sind.

Heiter

Thomas
 
A

aligaga

Gast
Ich bin übrigens sehr froh und dankbar über deine Textveröffentlichung. Kein Mensch hätte sonst je erfahren oder bemerkt, dass die “Häuser am Fluss“ endlich fertig sind.
Das ist reines Wunschdenken, @Thomas. Du solltest nicht von dir auf den Rest der Welt schließen.

Neid war schon immer die ehrlichste Form der Anerkennung!

Quietschvergnügt

aligaga
 

anbas

Mitglied
Ich danke Euch für Eure Rückmeldungen und Eure Gedanken,

ja, der Besuch von Friedhöfen, Kirchen usw. kann besondere Gefühle hervorrufen. Hier geht es aber vor allem um die Gefühle, die genau dieses Grab, dieser Ort auslöst. Es waren die Gedanken um die Person, die dort begraben wurde, und deren Angehörige.

Bevor ich diesen Text veröffentlicht habe, hatte ich Kontakt zu der zuständigen Kirchengemeinde aufgenommen. Meine Intention war, etwas mehr über Lena zu erfahren - wobei mir bewusst war, dass dies aus Gründen der Schweigepflicht und des Datenschutzes schwierig werden würde. Die Pastorin hat mir dann auch sehr freundlich geantwortet und berichtet, dass es ihr an diesem Grab genauso ergeht wie mir, dass dieser Ort eine besondere Ausstrahlung hat. Wie ich erwartet hatte, wollte sie mir aber keine weiteren Informationen geben. Aus Gründen, die sie ebenfalls nicht näher benennen wollte, erschien es ihr auch nicht ratsam, meine Bitte um weitere Informationen an die Familie weiterzuleiten. Das respektiere ich selbstverständlich.

Liebe Grüße

Andreas
 
A

aligaga

Gast
Es waren diese Statements:
Von Anfang an übte dieser Ort eine seltsame, nahezu magische Anziehungskraft auf mich aus.
und
Wieder spürte ich diese so schwer zu beschreibende Anziehungskraft, die jener Ort auf mich ausübte.
die @ali zu seinem Kommentar bewogen.

Er glaubt nicht, dass das tatsächliche Schicksal Dritter relevant für die Gefühle wäre, die, wie dargestellt, fast jeder hat, der zwischen Gräbern wandelt und über Sinn und Inhalt seines und des Lebens der anderen reflektiert.

Es sterben derzeit unvorstellbar viele Kinder einen grausamen Tod, ohne dass sie je begraben würden oder gar einen Grabstein bekämen. Sie versinken in der Tiefe des Mittelmeeres, oder es zerreißt sie eine Fassbombe in winzige Fetzen, die niemand mehr zusammensuchen kann, ohne dass uns dies wirklich kümmerte - es fehlt der persönliche Bezug ebenso wie in der Geschichte.

In dem genannten Beispiel aus @alis "Häusern" gibt es diesen (indirekten) Bezug, und die Betroffenheit des Protagonisten vor einem Kindergrab wird dem Leser verständlich.

Gruß

aligaga
 

Ji Rina

Mitglied
Ich find die Geschichte sehr schön geschrieben. Die beschriebene Atmosphäre auf dem Friedhof, hat mich beeindruckt. Was an dem Foto vielleicht auch auffällig ist: Kein Nachname...kein Datum...
Nur: Lena.
 

anbas

Mitglied
Hallo ali,

danke für die Klarstellung!



Hallo Ji Rina,

auch Dir herzlichen Dank für Deine Rückmeldung. Die weiteren fehlenden Angaben sind mir auch von Anfang an ins Auge gefallen.


Liebe Grüße an Euch beide

Andreas
 



 
Oben Unten