Lena

Augenheinlich war sie wieder einmal nicht achtsam genug vorgegangen. Daher war es ihr auch nicht möglich gewesen, die gewaltige Ohrfeige vorherzusehen, die ihr der Mann, der darauf bestand, Vater genannt zu werden, soeben verabreicht hatte. Ihre Wange schmerzte heftig, doch sie weinte nicht; schließlich verstand es sich von selbst, dass man gezüchtigt wurde, hatte man sich einen Mangel an Vorsicht zuschulden kommen lassen.
Dass es nicht sehr klug gewesen war, sich zu einer Zeit, in der die Erwachsenen miteinander im Streit lagen, aus ihrem Versteck hervorzuwagen, hatte sie natürlich schon vorher gewusst; doch ihr knurrender Magen hatte ihr keine andere Wahl gelassen und sie zur Küche hingetrieben. Es war halt wieder einmal schief gegangen. So schlimm war das nicht, sie kannte das ja zur Genüge. Allerdings verspürte sie auch keinerlei Verlangen, ein zweites Mal die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, weshalb sie sich trotz des nagenden Hungergefühls in ihren Winkel zurückzog. Ihren heiligen Winkel, wie ihre Mutter diesen Ort zu bezeichnen pflegte, denn keinem, nicht einmal dem gerade aktuellen Vater, war es gestattet, ihre Tochter zu behelligen, hielt sie sich dort auf.
Der Winkel bestand aus einem winzigen Hohlraum, der von einer mittels eiserner Konsolen an der Wand befestigten Ablage, auf der das unförmige Fernsehgerät thronte, und zwei über Eck stehenden Sofas gebildet wurde. Da dieser Teil der Wohnung, wie im Übrigen alle anderen auch, seit geraumer Zeit keiner Reinigung mehr unterzogen worden war, glich er einem riesengroßen unordentlichen und verschmutzten, zugleich aber auch anheimelnden Vogelnest. Dorthin entwischt, rollte sich Lena zusammen und versuchte sich zu trösten, indem sie ihre in derartigen Situationen üblichen und nur ihr bekannten Verse in ihrer nur ihr bekannten Sprache vor sich hinsummte.
Lena war voller Verse, die allerdings eher aus einer Abfolge samtartiger Töne und farbenprächtiger Bilder bestanden als aus Worten. Als sie vor einiger Zeit einmal versucht hatte, sie einem Erwachsenen zu vermitteln, der sich, warum auch immer, an dem, wie sie ihr Leben zubrachte, interessiert gezeigt hatte, war sie auf skeptisch hochgezogene Augenbrauen, mildes Kopfschütteln und letztendlich nichts anderes als Unverständnis gestoßen. Sie aber konnte, gab sie sich ihnen hin, immer wieder Linderung und Hoffnung in ihnen finden, wenngleich ihr auch die Worte fehlten, das was vor sich sah, zu benennen. Ach, die Worte! In ihrem dunklen Unterschlupf hörte sie so viele davon, und sie hätte so gerne gewusst, was sie bedeuteten, doch nur selten nahm sich jemand die Zeit, ihren Wissensdurst zu stillen. Die längste Zeit des Tages mit sich allein, hatte sie es sich angewöhnt, den zwischen den Erwachsenen gewechselten Worten, die zu ihr hinunter drangen, irgendwann einmal gesehene oder von ihr selbst entworfene Bilder zuzuordnen, und sich auf diese Weise einen ganz eigenen Kosmos erschaffen, in dem sie sich zu Hause fühlte und um Vieles besser als im wirklichen Leben zurechtfand.
In den anderen Teilen der Wohnung hielt sie sich so selten als irgend möglich auf, denn dort lauernden unzählige Gefahren. Immer wieder traf sie auf Erwachsene, die sie bis dahin noch nie gesehen hatte. Mal waren sie unwirsch und scheuchten sie mit furchteinflößenden Grimassen oder drohend geschwungenen Fäusten aus dem Zimmer, mal waren sie aufdringlich, rissen sie in ihre Arme und verteilten unwillkommene Zärtlichkeiten, mal zitterten sie unkontrolliert, sabberten und stammelten Unverständliches vor sich hin, und manchmal waren sie auch ausgelassen und fröhlich und wollten mit ihr spielen. In einem jedoch waren sie sich alle gleich: sie waren unberechenbar. Kaum hatte sie einmal zu einem von ihnen ein wenig Zutrauen gefasst, geschah mit Sicherheit sehr bald irgendetwas, wodurch die Stimmung umschlug, und ihr einmal mehr bestätigt wurde, dass mit wüstem Gebrüll, Hieben und Stößen zu rechnen war, ließ man sich auf Erwachsene ein. Es war einfach nicht auszukommen mit ihnen, und ihre Mutter bildete da keine Ausnahme.
Konnte sie sicher sein, dass alle Erwachsenen die Wohnung verlassen hatten, ging sie natürlich auf Entdeckungsreise; allerdings hatte sie sich dabei schon so manches Mal an Gegenständen verletzt, die sie befingert hatte, um herauszufinden, welchem Zweck sie wohl dienen mochten.
Der Mann, der sie soeben geohrfeigt hatte, lebte schon seit einigen Wochen bei ihnen. Da er die meisten Nächte im Zimmer der Mutter schlief, war er, das war ihr irgendwann einmal so erklärt worden, nun wohl ihr Vater. Ein Vater, das hatte sie durch eigene Beobachtungen herausgefunden, war ein Mann, dem das Recht zustand, allen anderen zu sagen, was sie zu tun hatten, Furcht um sich herum zu verbreiten, zu brüllen, zu toben und Sachen an die Wand zu schmettern, wenn etwas nicht so lief, wie er es sich vorgestellt hatte, und ansonsten auf einem der Sofas zu sitzen, Unmengen ihm von der Mutter gebrachten Essens hinunterzuschlingen, Flaschen zu leeren und in den rund um die Uhr laufenden Fernseher zu starren. Abgesehen von den lustigen, grellbunten Bildern, die seinen Körper bedeckten, unterschied sich der derzeitige Vater eigentlich überhaupt nicht von seinen Vorgängern: meistens mürrisch, manchmal überfreundlich, allzeit bereit zu derben Scherzen auf Kosten anderer. Lena ging ihm, wenn es sich irgendwie einrichten ließ, aus dem Weg, denn sie fürchtete seine grobschlächtigen Zärtlichkeiten nicht minder als seine Kopfnüsse und Ohrfeigen.

Es klingelte an der Wohnungstür. Mehrere Leute kamen ins Wohnzimmer gestürmt und ließen sich auf den beiden Sofas niederfallen, dass die Holzgestelle in ihrem Inneren krachend aufstöhnten. Es wurde schallend gelacht und wild durcheinander geschrien; Lena verstand nicht, was los war. In der Hoffnung, es könnte sich um Besucher handeln, die, was zuweilen vorkam, Spielzeug oder Süßigkeiten für sie mitbrachten, lugte sie argwöhnisch aus ihrem Versteck hervor.
Tatsächlich, es waren alte Freunde ihrer Mutter, solche vor denen man sich nicht allzu sehr in Acht nehmen musste. Lena kroch geräuschlos hervor und hockte sich ein wenig abseits auf den Boden; in gedämpfter Erwartung, aber doch auf der Hut.
Die Gäste hatten mehrere in flache Pappschachteln verpackte Pizzas und eine sehr große, bauchige, mit buntem Bast umwickelte Flasche mitgebracht. Die Schachteln wurden herumgereicht und die Flasche entkorkt. Man aß mit der Hand und trank direkt aus der reihum gehenden Flasche, denn Geschirr, Besteck und Gläser hätten erst abgespült werden müssen. Lena bekam von jeder Pizza ein Stück; sie wusste gar nicht, wie sie das alles essen sollte.
Die Erwachsenen waren in heiterer, ausgelassener Stimmung; nicht ein böses Wort war zu hören. Als alles aufgegessen war, wies die Mutter Lena an, sich zu ihr zu setzen. Misstrauisch tat sie, wie ihr geheißen ward, doch offenbar hatte sie sich getäuscht, denn die Mutter zog sie dicht an sich heran, legte den Arm um sie und fuhr ihr ab und zu mit sanften Fingern in ungewohnter Fürsorglichkeit durch das Haar. Lena entspannte sich, offenbar war zurzeit nichts zu befürchten. Ehe sie es sich versah, war sie auch schon eingeschlafen.
Sie träumte davon, sich mit sprechenden Marienkäfern angefreundet zu haben. Sie waren von lackroter Farbe, auf den Flügeln lustig gepunktet und beinahe so groß wie Kaninchen. Sie spielten miteinander auf einer blumenübersäten, sonnenbeschienenen Waldwiese. Sogar das Fliegen brachten sie ihr bei. Es war eine Lust, mit ihnen durch die Luft zu brummen, einander nachjagend hoch aufzusteigen, sich kopfüber fallen zu lassen und erst ganz dicht über dem Boden wieder nach oben zu steigen. Sie konnte gar nicht genug kriegen davon; so frei und unbeschwert hatte sie sich bislang nur ganz selten gefühlt. Mit einem Mal aber waren die Käfer fort, und sie allein. Als sie sich auf der Suche nach ihnen immer tiefer in den Wald hineingewagt hatte, brach plötzlich brüllend ein riesiger, schwarzer, zottiger Bär durchs Unterholz und kam in weiten Sprüngen auf sie zu. Sie wollte sich in die Luft erheben, doch zu ihrem Schrecken ging das ging auf einmal nicht mehr, ihre Arme weigerten sich, sich zu Flügeln auszubreiten und hingen schwer und lahm an ihr herunter. In ihrem Traum reglos vor Entsetzen, bäumte Lena sich unvermittelt und mit einer solchen Wildheit auf, dass sie dem neben der Mutter sitzenden Vater, der gerade die Flasche zum Mund führte, einen schmerzhaften Tritt in die Seite verpasste. Er erschrak, die Flasche glitt ihm aus der Hand und ihr dunkelroter Inhalt ergoss erst über seine Hose, dann weitflächig über das Sofa.
Lena, nach wie vor tief schlafend, wurde gepackt, in die Höhe gerissen, angebrüllt und mit aller Kraft hin und her geschüttelt; sie wähnte, der Bär hielte sie in seinen Klauen. Noch bevor sie wach wurde, flog sie im hohen Bogen quer durch das Zimmer und schlug dicht vor der gegenüberliegende Wand hart auf. Noch schlaftrunken, ohne zu wissen, was mit ihr geschehen war, rappelte sie sich instinktiv auf, kroch flink, sich dicht an den Boden duckend, unter dem Tisch und zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurch und floh in ihren schützenden Winkel, in dem sie sich eng zusammenrollte, die Hände fest auf die Ohren gedrückt, um nichts von dem hören zu müssen, was sich außerhalb ihrer Höhle ereignete.

Im Morgengrauen erwachte sie. Jeder Teil ihres Körpers tat ihr weh. Beim Versuch, sich zu erinnern, woran dies liegen könnte, vermischte sich das, was sie geträumt hatte, mit dem, was ihr widerfahren war. Der scheußliche Bär fiel ihr ein, und dass er sie gepackt, wie von Sinnen geschüttelt und schließlich angewidert fortgeworfen hatte. Unbändige Furcht überfiel sie, er sei noch irgendwo da draußen und darauf aus, sie noch einmal zu packen, um ihr noch mehr Schaden zuzufügen als beim letzten Mal. Ihre Angst wuchs derart an, dass sie sich in ihrer Ecke nicht mehr sicher fühlte, sich aus ihr hervor und durch die dunkle Wohnung wagte und in das Zimmer ihrer noch tief schlafenden Mutter schlich, um bei ihr Schutz zu suchen. Sehr darauf bedacht, sie bloß nicht aufzuwecken, kroch sie unbemerkt zu ihr unter die Decke.
Erleichtert, nicht ertappt worden zu sein, schloss sie ihre Augenlider und wartete darauf, in Schlummer zu fallen. Während sie langsam eindöste, begann sie, ohne dass sie sich dessen bewusst wurde, einige ihrer Verse vor sich hinzusummen.
„Was willst denn du hier“, wurde sie urplötzlich von ihrer Mutter angezischt, „mach bloß, dass du verschwindest. Wenn er dich zu fassen kriegt, dann kannst du was erleben!“ Lena spürte einen unsanften Stoß, infolgedessen sie über die Bettkante glitt und auf dem Fußboden landete. Sie hörte, wie die Mutter sich aufseufzend auf die andere Seite warf und umgehend wieder einschlief.
Hellwach geworden, schlich Lena aus dem Zimmer; Tränen liefen ihre Wangen hinab. In ihren Winkel zurück traute sie sich nicht mehr, deshalb ging sie in die Küche, in der sie eine Weile lang auf einem der kalten Resopalstühle saß, leise vor sich hin weinte und grübelte.
Nach einiger Zeit fasste sie einen Entschluss: Da keiner sie mochte, würde sie gehen; niemand würde sie vermissen. Sie wusste sogar schon, wohin sie gehen wollte. Vor einiger Zeit hatte sie nämlich im Fernseher einen Film über einen Ort gesehen, in dem Kinder mit Tieren zusammenlebten; Erwachsene kamen dort nicht vor. Es war ein lustiges Leben dort; bunt, abwechslungsreich, voller Musik, heiterer Spiele und Speisekammern, die immer voll leckerer Speisen waren. Sich fragend, warum sie erst jetzt auf die Idee gekommen war, dorthin aufzubrechen, packte sie in Gedanken schon mal alles zusammen, was sie mitzunehmen gedachte.

Es war nicht viel, was sie in ihren kleinen Kinderrucksack hineinstopfte, denn dort, wohin sie ginge, war ohnehin alles im Überfluss vorhanden. Als sie sich fragte, wie sie zu der immer abgeschlossenen Wohnungstür hinauskommen sollte, kam ihr eine fabelhafte Idee: Sie würde fliegen. Natürlich! Genau so, wie sie mit den lustigen Marienkäfern zusammen herumgeflogen war, würde sie es machen. Es war doch ganz leicht.
Schon ganz aufgeregt vor froher Erwartung, band sie die Schnürsenkel ihrer Turnschuhe zu, schnallte sich den Rucksack auf den Rücken, zog die Mütze ganz fest über die Ohren und ging auf den Küchenbalkon hinaus. Sie musste sich schon sehr abmühen, den Tisch bis an das Geländer heranzuschieben, denn es sollte ja niemand hören, was sie tat. Als sie es endlich fertiggebracht hatte, rückte sie einen der Stühle vor den Tisch und kletterte mit seiner Hilfe dort hinauf.
Beim Schauen über die sich bis zum Horizont erstreckende trostlose Einöde der betongrauen Trabantenstadt, aus der sie noch nie hinausgekommen war, bekam sie es schon ein wenig mit der Angst zu tun; eine so weite Strecke zu fliegen, schien ihr ein rechtes Wagnis. Doch dann sagte sie sich, dass die anderen Kinder und die Tiere sicher schon voller Ungeduld auf sie warteten, und es gelang ihr, den nötigen Mut aus diesem Gedanken zu schöpfen.
Ohne noch länger zu zögern, trat sie so weit vor, wie es ging, setzte den rechten Fuß auf das Geländer des Balkons, breitete die Arme weit aus und stieß sich mit beiden Füßen kraftvoll ab.

Robert A. Berwitz
 



 
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