(Lese-)Tagebuch

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zeitistsein

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Ich brauche immer eine Weile, bis ich gehypte Bücher zur Hand nehme, um sie zu lesen.

Bei Han Kang habe ich es a) bereut, so lange mit dem Lesen gewartet und b) mich geschämt, sie nicht vor der Nobelpreisverleihung schon gekannt zu haben.

Der Roman "Unmöglicher Abschied" ist an die Massaker angelehnt, die während des Zweiten Weltkriegs in Südkorea verübt wurden. Es erinnert vom Duktus her stark an J.M. Coetzees "Sommer des Lebens", welches die Folgen der Apartheid bis in die Träume, Vorstellungen, Gedanken und das Körperempfinden und die zwischenmenschlichen Beziehungen des südafrikanischen Protagonisten erfahrbar macht. Hier lässt die männliche Hauptfigur seine Lebensgeschichte von anderen Figuren erzählen, so als wäre er selbst davon entfremdet.

Bei Han Kang spielt die Romanhandlung auf der Insel Jeju. Zwei Freundinnen, beide Ende 40, wollen ein Mahnmal für die Opfer der Kriegsverbrechen aufstellen. Dabei verletzt sich die eine und landet im Spital. Die andere reist zu ihr nach Hause an einen abgelegenen Ort, um den dort gebliebenen Vogel zu füttern. Der Strom fällt aus, das Haus wird eingeschneit und die Frau, von der Aussenwelt abgeschnitten, beginnt, sich ihren Erinnerungen zu stellen.

Die Gewalt ist mit dem Tod derer, die sie am eigenen Leib erfuhren, nicht untergegangen. Sie ist noch Generationen später gegenwärtig und greifbar. In den Gefühlen, den Träumen, im Denken, in den Lebensläufen und Beziehungen.

Die Erfahrung, die man in diesem Roman macht: Wir Menschen sind keine erratischen Blöcke, jeder für sich, sondern Träger des kollektiven Unbewussten, in dem die erlebte Gewalt weiter wirkt. Der Körper hat Fühler, die weit in die Geschichte zurückreichen. Und er vergisst nicht, auch nach Jahrhunderten nicht.

Ein Meisterwerk. Der Nobelpreis hoch verdient.
 



 
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