Letzte Ausfahrt Gerechtigkeit

Die alte Frau strengte einen aussichtslosen Prozess an. Ihr war, zu Fuß unterwegs zur Arbeit, ein mürbe gewordener Innenmeniskus spontan gerissen und sie ohne weitere Ursache aufs Straßenpflaster gestürzt. Dabei hatte sie sich noch einen Ellenbogenbruch zugezogen, der schlecht verheilte. Die alte Frau begehrte eine Unfallrente und zog gegen die Ablehnung vor Gericht, das ein fachärztliches Gutachten einholte. Der Gutachter stützte sich auf den klaren histologischen Befund und führte den Sturz allein auf den Kniegelenksverschleiß zurück. Im Termin versuchte der noch junge Vorsitzende, der Klägerin den Sachverhalt zu erklären und sie zur Rücknahme der Klage zu bewegen. Dazu war sie, fern von jedem Verständnis, nicht bereit. Sie beharrte darauf, sie sei auf dem Arbeitsweg gestürzt. Dass dies nur die zufällige Gelegenheit gewesen, an dem der Schaden zutage getreten, war ihr nicht zu vermitteln. Sie verstummte und ihr Blick besagte: Das verstehe ich nicht.

Die Verhandlung wurde kurz unterbrochen, dann das Urteil verkündet: Abweisung der Klage. Die Klägerin, noch wie alle anderen Anwesenden stehend, dabei straff aufgerichtet, mit zur Decke gerichtetem Blick und lauter, vor Empörung vibrierender Stimme: „Die Gerechtigkeit wird siegen!“ Der Vorsitzende der Spruchkammer darauf, sichtlich genervt: „Für diesmal habe ich noch davon abgesehen, Mutwillenskosten zu verhängen.“ Die Verhandlung wurde geschlossen. Die alte Frau stand noch immer an ihrem Platz, wie erstarrt, ganz erfüllt von der Vorstellung einer transzendenten Gerechtigkeit.
 

John Wein

Mitglied
Hallo Arno,
Das Recht kennt keine Gnade. Es ist einfach nur Recht und wertet nicht nach moralischen Gesichtspunkten oder Ansichten und das ist auch gut so!
Gruß, John
 
Danke, John. Das ist so auch meine Einstellung. Obwohl der Gerichtstermin schon Jahrzehnte her ist - ich war damals anwesend -, geht mir das Auftreten der alten Dame nicht aus dem Sinn. Die Erinnerung kommt mir in jüngster Zeit sogar häufiger angesichts des zunehmenden und oft unreflektierten Gebrauchs des Begriffs in der öffentlichen Debatte.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
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