Letzte Blicke auf Lars

Wenigstens Liane war heute wieder im Büro. Maaß sah durch die offenstehende Tür in ihr Zimmer hinein und sagte, er freue sich, die zwei Tage ohne sie seien fürchterlich gewesen.
Er nannte sie bei sich Liane, das Mädchen aus dem Urwald – warum eigentlich? Es waren in ihrem Fall doch nur die Schluchten des Balkans und sie war inzwischen vollständig germanisiert. Außerdem war sie schon zweimal Mutter – und dennoch Kindfrau geblieben, wenn auch nicht in der Art einer Lolita, das hätte ihm nicht zugesagt. Was Maaß an ihr auffiel, ihn immer wieder aufs Neue frappierte, war dieser Gegensatz zwischen ihrem mächtigen Slawinnenschädel, matronenhaft, und dem Ausdruck kindlichen Eifers auf dem Gesicht, ein Eifer, der allezeit bereit, ja darauf aus war, sich in Entrüstung zu verwandeln.
Maaß ging einen Schritt in Lianes Büro hinein. Erst jetzt sah er, dass sie nicht allein war. Auf dem Stuhl vor dem leeren Schreibtisch ihr gegenüber fläzte sich Lars. Er lag da mehr, als dass er saß, lang ausgestreckt, mit den Schulterblättern gerade eben die Rückenlehne berührend, die Füße wiesen am Schreibtisch vorbei zur leeren Zimmermitte hin.
„Ich bin auch noch da, Herr Maaß“, sagte er und lachte, „ich halte noch die Stellung.“ Er war etwas aufgekratzt, was Maaß an ihm sonst nicht kannte. Sie duzten sich nicht – Maaß duzte keinen im Büro. Er war ein wenig irritiert: In zehn Jahren hatte Lars sich nicht einmal so direkt an ihn gewandt. Auf den ersten Blick sprach auch alles dafür, dass sie beide sich denkbar fern standen. Doch gibt es eine Distanz, die ihren Grund in großer innerer Nähe hat. Vielleicht war das hier der Fall, Maaß hatte es schon manchmal gedacht.
Wie Lars jetzt dalag, es hatte rein gar nichts Dominantes. Ähnelte seine Haltung nicht sogar einer bei vielen Säugetieren vorkommenden Geste der Unterwerfung? Wirklich, er machte Männchen, man konnte es so sehen. Das Menschliche geht oft ohne klar erkennbare Abgrenzung ins Tierische über … Lars würde niemals irgendwo Chef werden … Mit unseren Verwandten im Tierreich soll man sich nicht zu sehr einlassen, schon gar nicht bei ihnen auf Vergleiche mit uns. Lässt man es da an Distanz fehlen, kann es schnell peinlich werden. Maaß dachte an ein Zwergschimpansenmännchen im Zoo, es hatte, als es von Maaß durch die Stäbe seines Gitters betrachtet wurde, mit einer auch jedem Menschenmann vertrauten Handlung begonnen, die Maaß dennoch schockiert hatte, obwohl sie es eigentlich nicht tun konnte. So etwas war intim und sollte es auch bei Affen bleiben.
Lars machte an diesem Morgen den Eindruck, irgendwo einzutauchen oder unterzugehen, jedenfalls zu verschwinden. Und so war es auch: Er versank für sie beide, Liane und Maaß, wie sie für ihn. Lars hatte gekündigt, es war sein vorletzter Tag im Büro.
Es ging der Firma seit längerem nicht mehr gut. Die Fusion mit einer anderen war so gut wie beschlossen. Nun wusste fast jeder, sie würden von einem ebenso maroden Betrieb geschluckt werden. Daher zog Lars einen Neuanfang woanders dem absehbaren Tohuwabohu hier vor. Das war eine mannhafte Reaktion. Maaß würde auch gern so gehandelt haben, wäre er viel jünger gewesen. Ihr Altersunterschied belief sich auf etwa zwanzig Jahre, er wusste es nicht genau.
Für Maaß war der Sommer des Lebens schon länger vorbei. Auch deshalb wäre es, sagen wir, unpassend gewesen, sich in Lars zu verlieben. Das Tabu war dreifach: Einen Kollegen gleichen Geschlechts ließ man in Ruhe, zumal wenn er viel jünger war und, wie einem berichtet wurde, an Frauen interessiert. Und dann entsprach Lars trotz seines wirklich hübschen Gesichtes nicht vollkommen Maaß’ Geschmack. Sein Auftreten war ihm einerseits nicht viril genug und andererseits – so kompliziert ging es hier zu – doch auch wiederum nicht genügend unmännlich. Lars war einer von denen, die Marlboro rauchen, Motorrad fahren und mit Erfolg an ihrer Figur arbeiten, das heißt etwas aus ihr zu machen verstehen, das nicht in ihr angelegt ist. Abgründe lassen sich erahnen, wenn so einer über den Büroflur geht. Es ist eben kein festes Auftreten, er ist seiner selbst nicht sicher, dafür willig, sehr bemüht und knabenhaft, zwar nicht knabenhaft leicht, dennoch trabend. (Es trippeln zu nennen, würde Bosheit verraten.)
Er war eine Art Waldbauernbub mit einem Römerkopf. Dass sie ihm zu Hause in Freiburg diesen Vornamen gegeben hatten, war vielleicht auch daran schuld, dass er mit Anfang zwanzig in den Norden ging. Man erzählte Maaß, er sei wegen einer jungen Frau nach Bremen gekommen und die Beziehung sei schon nach kurzem gescheitert, worunter Lars erheblich leide. Maaß bekam ihn damals nur selten zu Gesicht, Lars war weiter entfernt im Hause tätig.
Vor drei Jahren brachte eine Reorganisation sie räumlich näher, ihre Zimmer lagen nun auf einem Flur einander schräg gegenüber. Ihr Verhältnis blieb unterentwickelt. Freiwillig suchte einer den anderen auch aus dienstlichem Anlass nur selten auf. Lieber ließen sie ihre Berechnungen von anderen Kollegen nachprüfen. Allerdings waren sie verpflichtet, sich im Fall von Urlaub oder Krankheit gegenseitig zu vertreten. Maaß, der es vermieden hatte, Sympathie für Lars zu entwickeln, lernte nun Lars’ Arbeit schätzen; er hatte sie wirklich gern. Da war alles, was notwendig und zweckmäßig war, dafür fehlten Schnörkel und Schwulst. Das war sehr nach seinem Geschmack. Und alles war leicht nachzuvollziehen. Fehler unterliefen ihm selten. Bald war Maaß sich darüber im Klaren, dass Lars der produktivste Kopf der ganzen Abteilung war – und, was sehr angenehm war, ohne es irgendeinen fühlen zu lassen. Er blieb still für sich, arbeitete rasch und viel. Maaß erkannte sich in ihm wieder, so wie er fünfzehn oder zwanzig Jahre früher gearbeitet hatte. Bald sah er auch, was sie unterschied: Lars war ohne die Schärfe, die ihn, Maaß, in seinen jungen Jahren oft schwer erträglich gemacht hatte. Dieser junge Mann, der Marlboro rauchte, Motorrad fuhr und an der Vervollkommnung seines Körpers arbeitete, erschien anderen gegenüber durchaus sanft. Die stilisierte Fassade war nur wie eine Halbmaske vor einer ganz anders gearteten Persönlichkeit. Er ließ im Umgang mit anderen Aggressivität vollständig vermissen und zog sich, wenn er sich verletzt fühlte, auf sich selbst zurück.
Und wenn Maaß noch immer nicht gern etwas von ihm nachprüfen lassen wollte, dann weil er nun fürchtete, Lars könnte Fehler entdecken und ihn dann weniger schätzen als bisher. Denn mit nicht geringer Befriedigung hatte er vielen kleinen Anzeichen entnommen, dass ihre Wertschätzung gegenseitig war. Beide bemühten sich mit Erfolg, dies dem anderen wortlos, durch Gesten, Kopf- und Handbewegungen der Besänftigung und Begütigung – wo es im dienstlichen Verkehr doch gar nichts zu besänftigen gab – zu verdeutlichen. Wie Maaß sprach auch Lars schnell und undeutlich. Einem Beobachter, den es indessen nicht gab, würden sie in ihrem Verhalten ein merkwürdiges Schauspiel geboten haben: nuschelnd, voller Anerkennung, wenn nicht Ehrerbietung, die sie jedoch nie in Worten äußerten, sondern nur im Tonfall, in Blicken, in Gebärden. Und beide machten, dass sie immer rasch wieder aus dem Zimmer des anderen herauskamen.
Einmal unterliefen Lars in einer Sache kurz hintereinander drei unbedeutende Fehler, die Maaß behutsam monierte. „Oh, ich kann gar nichts mehr …“ Lars wollte getröstet werden, und Maaß lobte ihn sehr sanft, wenn auch in negativer Form: „Nein, nein, so ist es nicht …“
Manchmal fragte sich Maaß, wie der andere eigentlich sein privates Leben verbringe. War Lars verheiratet, hatte er Kinder? Alles war möglich und blieb unbestimmt. Er wollte sich nicht bei anderen danach erkundigen und blieb unwissend. Sonderbar war es, wenn Lars auf seine scheinbar schwerelose, unbedeutend erscheinende Weise über den Flur eilte, beschäftigt, vielleicht durch irgendetwas bedrückt und manches Mal so, als wäre er nicht ganz hier. Maaß erfuhr, er wohne seit einiger Zeit in einem wenig renommierten Viertel der Stadt, das Fremde gewöhnlich nicht zu Gesicht bekommen.
Im Lauf der Zeit schlossen sich beide, Lars und er, jeweils von ihrer Seite Liane an, so dass sie insgeheim beinahe einen Dreibund bildeten. Lars und Maaß unterhielten über Liane einen indirekten Meinungsaustausch. Das hat mir Lars auch schon gesagt, war eine häufige Antwort von Liane.


Lars ging also nach Freiburg zurück. Maaß wusste es seit vier Wochen.
Im Bewusstsein der ablaufenden Zeit gaben sich beide freier, nahmen sich dienstlich öfter in Anspruch und lächelten schon einmal dabei, was früher so gut wie nie vorgekommen war. Den eigentlichen Durchbruch erreichte Maaß, als er Lars bat, ein relativ umfangreiches und kompliziertes Zahlenwerk zu überprüfen, und dabei erkennen ließ, er wende sich mit Absicht gerade an ihn, da die Sache schwierig sei.
An diesem vorletzten Morgen gingen sie bald auseinander. Später begegnete Lars Maaß auf dem Flur und grüßte ihn noch einmal kopfnickend. Lars wirkte dabei bedrückt und Maaß nahm sich vor nachzuholen, was zehn Jahre unterblieben war: ein persönliches Gespräch. Diesen Vorsatz trug er schon Tage mit sich herum, seit einer Unterhaltung mit ihrem gemeinsamen Chef.
Der Chef stand an Jahren Lars näher als Maaß, und Lars und er duzten sich, ohne dass es viel zu bedeuten schien. So war es bei den jüngeren Kollegen nun einmal üblich. Liane hatte zu ihm, Maaß, eines Tages gesagt: Sie sind hier ja gewissermaßen eine Institution – und er hatte nur mit Mühe nicht ergänzt: Sagen Sie doch gleich Fossil.
Maaß sprach also den Verlust an, den der Weggang von Lars bedeute, und dass es schlecht für den Betrieb sei, wenn einer wie er kündige. Der Chef gab ihm nur teilweise Recht. Sicher, Lars sei ungewöhnlich tüchtig und er sei auf längere Sicht nicht wirklich zu ersetzen, keine Frage, so sei es. „Aber es sind bei ihm private Gründe“, fuhr er fort, „er war sehr unzufrieden. Unter uns und im Vertrauen: Im Winter war er einmal bei mir im Zimmer und hat sich beklagt, dass er hier keine Freunde findet. Und dabei hat er sogar geweint. Verstehen Sie, deshalb geht er fort.“
Er musste da noch etwas in Ordnung bringen.
Am Spätnachmittag ging er zu ihm. Seine Tür stand offen, und alle anderen, auch Liane, waren schon fort.
„Nun haben Sie es fast hinter sich. Sind Sie froh?“
Ja, er war es und zeigte es, indem er hörbar ausatmete. Den Umzug habe er schon im Voraus hinter sich gebracht, seine Sachen seien bereits bei einer Tante in Freiburg. Eine neue Wohnung habe er noch nicht. Nur eines sei sicher: Übermorgen früh verlasse er Bremen für immer.
Maaß sagte, ein wenig kenne er sich ja in Freiburg aus, wo er dort arbeiten werde und ob er aus Freiburg selbst komme? So erfuhr er, Lars sei eigentlich aus dem Münstertal, später habe er in Waldkirch gewohnt, und seinen Zivildienst habe er in Lörrach absolviert. Maaß versuchte, das ungefähre Alter von Lars zu errechnen, und kam jetzt auf vierunddreißig Jahre. Erstaunlich, er war also gar nicht mehr so jung, wie er ihm immer vorgekommen war. Lars sagte, die zehn Jahre hier seien eine harte Schule für ihn gewesen.
Er redete jetzt locker darüber, wie er in Freiburg an verschiedene Türen geklopft hatte, bis er genommen worden war. Während er über seine Zukunft sprach, dachte Maaß: Eigentlich ein ganz normaler junger Mann, man muss nur mit ihm reden, und schon verflüchtigt sich dieser Eindruck des Besonderen. Er wird vielleicht in Zukunft zufriedener sein, kein einsamer Benjamin mehr wie hier.
Aber Lars sagte gerade: „Ach, wahrscheinlich kommt doch alles anders, als ich denke.“ Ein Hauch Resignation war schon zu spüren. Dachte er an den Beginn seiner Bremer Zeit zurück?
„Lohnt sich der Wechsel auch sonst für Sie? Ein Stück Karriere?“
„O nein. Keine Veränderung.“ Er sah zu Boden und fügte leise hinzu: „Das ist mir auch gleich.“ Es hatte etwas von endgültigem Verzicht. Maaß dachte: Und gerade ich müsste es begreifen, das will er auch sagen.
Sie kamen sich noch näher. Ob Maaß wisse, dass er, Lars, sich letzten Winter hier im Haus um diesen speziellen Posten beworben habe? Maaß wusste wie üblich nicht einmal, dass etwas vakant war. Eine Entscheidung sei zwar noch immer nicht gefallen, aber für ihn, Lars, sei die Sache gestorben, als er erfahren habe, dass auch Nessler sich gemeldet habe und nicht einmal chancenlos sei.
„Was, ausgerechnet Nessler?! Das kann nicht sein.“
„Doch, und das war für mich das Signal. Sich das vorzustellen …“
„Nun, wissen Sie, wenn er es wird: Er hat ja eine gewisse … Ausstrahlung.“
Lars begriff sofort, wie das gemeint war: „Genau, alle müssen ihn für einen tollen Typen halten und er lässt andere die Arbeit für sich machen.“ Er lachte ärgerlich.
Also Nessler war der Anlass gewesen. Mit diesem wenig tüchtigen, wenig beliebten, dafür stark geltungsbedürftigen Kollegen hatten sie beide zu verschiedenen Zeiten das Zimmer geteilt. Nur auf einem Gebiet war Nessler erfolgreich, eben jenem, auf dem Maaß gar nicht angetreten war. Die jungen Frauen schienen sich ihm wider besseres Wissen auszuliefern und verachteten ihn später für etwas, das in erster Linie sie selbst zu verantworten hatten. Nessler folgte nur seiner Natur. Er war abwechselnd Macho und Softie, wie es sich gerade ergab, dabei von seiner Rolle jeweils tief überzeugt. Jetzt also wieder Nessler, geschiedener Ranke, geborener Nessler. Er würde nicht zögern, den Namen erneut zu wechseln, es müsste sich nur etwas Glanz damit erborgen lassen. Der Nimbus war für ihn schon Inhalt. Seine Nähe war Maaß auch körperlich unangenehm gewesen. Er mochte nun einmal keine Männer, die die Frauen allzu sehr liebten. Und so einen hasste Lars geradezu? Sie bildeten in der Tat ein Paar extremer Gegensätze. Wenn Lars seiner Natur nach nicht anders konnte, als mehr zu sein als zu scheinen, so ertrug er den Triumph des Scheins doch nicht, ja nicht einmal dessen fortdauernde Existenz neben sich. Auch Lars wollte erkannt und anerkannt und vielleicht geliebt werden. Das Drama des spröden Tüchtigen, es war seines. (Er sagte im Zusammenhang mit seiner Bewerbung: „Die Meinungen über mich waren hier im Haus ja sehr geteilt.“ – Maaß antwortete: „O nein, nein, das ist gar nicht möglich.“)
Sie würden sich morgen noch einmal sehen, beim Abschied, sagte Lars und dann machten sie Feierabend.
Nein, er, Maaß, begehrte Lars körperlich noch immer nicht. Er war durchaus nicht sein Typ. Punktum. Nur seelisch harmonierten sie hervorragend. An diesem Abend wünschte er sich zum ersten Mal, die Sympathie offen zeigen zu können. Nur wie? Nicht lächeln. Vielleicht den Arm um ihn legen. Aber er würde es nicht tun, es war nur eine Phantasie.


Am folgenden Tag kam kaum einer von ihnen zum Nachdenken, so viel war im Büro zu tun. Lars hatte am Vortag angekündigt, an diesem letzten Tag werde er nichts mehr arbeiten. Aber Maaß sah, dass der Drucker noch immer Briefe auswarf, die Lars für den Betrieb versandte. In seinem Zimmer waren auf Tellern Süßigkeiten aufgehäuft, Maaß sah es beim Vorbeigehen an seiner offenstehenden Tür. Ab und zu war einer bei ihm, um sich zu verabschieden, doch kamen nicht viele. Maaß hörte einmal, wie Lars drinnen gerade einen Film rühmte, der ihm gefallen hatte: Das Kondom des Grauens. Identifiziert er sich mit dem einsamen Mackeroni? Und wer wird dann sein Billy sein?
Zufällig war es für Maaß der letzte Tag vor einem längeren Urlaub. Er wollte seine Sachen zu einem gewissen Abschluss bringen und für die letzte Stunde stand noch ein Termin auf seinem Kalender. Auf dieses Gespräch bereitete er sich intensiv vor.
Am Vormittag begegnete er Lars auf dem Flur. Es war vor den Aufzügen, Lars kam die Treppe herauf und grüßte ihn. Dabei machte Maaß eine für ihn neuartige Beobachtung. Er hatte gelegentlich in Büchern davon gelesen, dass seelische Anspannung die Augenfarbe des Menschen verändern kann. Was war schon dabei, auch die Wangen röteten sich so oder einer wurde blass … Nun nahm er erstmals bewusst diese Erscheinung wahr. Es gab das wirklich, ein Phänomen, blitzartig schnell und bestürzend intensiv. Er hatte Lars nie in die Augen gesehen und konnte nicht sagen, welche Farbe sie hatten. Das war auch jetzt nicht festzustellen, denn da war nur noch Strahlung, hellstes Licht, blendend aus der Tiefe. Lars lächelte nicht einmal, es waren auch keine glänzenden oder strahlenden Augen im gewöhnlichen Sinn. Er war um die Ecke gebogen, stand unvermittelt vor Maaß, und dann brach sofort das Licht hervor, wie eine Karstquelle plötzlich als Quelltopf mit starker Schüttung an die Oberfläche tritt. Sie sagten nichts und gingen gleich wieder auseinander. Etwas hatte sich soeben materialisiert, reine Heiterkeit, nur noch Bejahung. Es war eine Kraft unbekannter Herkunft und ungeahnter Stärke und Dauer. Sollte man es Seele nennen?
Der Termin wurde in letzter Minute abgesagt. Maaß saß eine Weile untätig und unruhig herum. Gegen halb vier ging er hinüber. Als er ins Zimmer trat, kehrte ihm Lars gerade halb gebückt den Rücken zu. Er war dabei, letzten Krimskrams in eine Schachtel zu verstauen. Auf den Tellern lagen noch Berge von Süßigkeiten, es war wenig genommen worden.
„Ich will mich jetzt auch von Ihnen verabschieden.“ Es erschien Maaß unpassend, Lars, der ihn nicht hatte hereinkommen hören, so von hinten anzusprechen.
Lars richtete sich auf und drehte sich dabei um. „Ah ja, Sie sind es …“
Er war anders als sonst angezogen. Statt der ewigen blauen Jeans und des blauen oder schwarzen Pullis etwas beinahe in der Art eines Jagdanzuges, vielleicht seine Reisekleidung, eine Jacke und eine Hose von für die Jahreszeit etwas zu dickem braunem Stoff. Er stand schon als Privatmensch vor ihm. Der konventionelle sportliche Dress war dem Älteren an Lars oft wie eine missglückte Verkleidung vorgekommen. Das Braun des Jagdkleides harmonierte nun ideal mit der Haarfarbe und dem dunklen Teint der Haut und der weiche, nachgiebige Stoff ließ dem Körper viel Freiheit, ein schöner Anblick, eine letzte Verwandlung. So wurde er für Maaß doch noch begehrenswert, kurz bevor er verschwand.
Die Rollen waren neu verteilt. Lars schien zu spüren, dass er als der in die Freiheit Entschwindende den Verlust eines anderen erträglicher zu machen hätte, es mit untauglichen Mitteln versuchen müsste.
„Nehmen Sie ein Bounty, nein, nehmen Sie zwei.“ Und Maaß nahm zwei, er, der sonst die Zimmer mied, in denen gefeiert wurde.
„Alles Gute für Sie.“ Sie gaben sich zum einzigen Mal die Hand. (So also fasst ein Stück Leben sich an, das einem sympathisch ist.)
„Und danke für Ihre Vertretung …“
Lars würde noch mehr Unbrauchbares zusammengesucht haben, doch Maaß ertrug das nicht mehr und sagte auf seine allzu direkte Art, mit der er sonst andere oft vor den Kopf stieß: „Mir tut’s leid, dass Sie weggehen.“
Das war bereits das Schlusswort, mehr gab es nicht zu sagen. Auf dem Gesicht gegenüber zuckte es schon, und B. wollte es nicht dahin kommen lassen, dass noch einmal geweint würde – nicht ausgeschlossen, dass sie es dann beide täten. Er murmelte nur noch einmal „Alles Gute“ und verließ das Zimmer.
Draußen auf dem Flur traf er Liane, die gerade nach Hause ging. „Sie sind so verändert … Was ist mit Ihnen? Liegt es daran?“ Sie wies mit dem Kopf in die Richtung von Lars’ Zimmer.
Maaß fand schon wieder die Kraft zum Lügen. „Nein, nein, ich hatte nur sehr viel zu tun, ausgerechnet am letzten Tag. Und dann ist eben noch ein Termin geplatzt. Stundenlang habe ich mich darauf vorbereitet. Schönen Feierabend, bis in vier Wochen.“
„Schönen Urlaub Ihnen.“
Von jetzt an wird Lars immer da sein, ein Gefährte, der einem fehlt. Oder ein viel geliebter Vorwurf gegen sich selbst.
 



 
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