Letzte Zuflucht

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Anders Tell

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Letzte Zuflucht

Tunnällstrasse ruft der Busfahrer über den Lautsprecher die Haltestelle aus. Mit a Umlaut und Betonung auf der zweiten Silbe. So als habe er hier ein ganz besonderes Ziel erreicht. Der Bus hält auf der Hauptstraße an der Einmündung zur kleinen Tunnelstraße. Direkt vor der großen Gaststätte »Zum Tunnel«. Auf den ersten Blick bietet die Tunnelstraße nichts Spektakuläres. Der halbrunde Tunnel ist eher eine Unterführung, die unter einer Industriebrache hindurch zu einem anderen Ortsteil führt. Sie ist so schmal, dass immer nur ein Auto hindurchfahren kann. Wenn gleichzeitig Fußgänger hindurch wollen, müssen sie sich auf den winzigen Gehwegen fast bücken. Links vor dem Tunnel ist ein gepflasterter Platz mit einer Bank und dem unvermeidlichen Papierkorb.
Ganz selten konnte man jemanden beobachten, der auf dieser Bank Platz nahm. Der ganze Ort hatte nichts Anziehendes. Für mich als Zwölfjährigen und für andere Jungen war er jedoch verlockend, weil man hier über die Böschung zu einem Loch im Zaun gelangen konnte, welches Zugang zu dem verlassenen Gelände des Stahlwerkes gewährte. Früher war hier die Betriebsbahn entlang gefahren, die Gleise lagen noch und eine kurze Strecke weiter oben hätte man neben einem Schlagbaum hindurch ganz legal auf diese Anlage kommen können, aber es war der Reiz des Verbotenen, der uns immer wieder durch dieses Loch im Zaun schlüpfen ließ.
Einmal, als ich mich alleine auf den Weg über die Böschung hinauf machte, entdeckte ich eine Gedenktafel. Sie war vom Efeu fast überwuchert und war vom Platz unten aus nicht zu sehen. Darauf standen viele Namen und dahinter verschiedene Daten. Ich hatte schon viele dieser Ehren Gedenktafeln gesehen, manche nannten sich auch Heldentafeln. Was aber sollte eine solche Tafel hier, fast nicht mehr zu finden und oberhalb der Sichthöhe. Mit meinen Nachforschungen kam ich nicht sehr weit. Die Erwachsenen wussten nichts dazu zu sagen und offenbar interessierte es sie auch nicht. Irgendwann dachte ich nicht mehr daran.
Jahre später surfte ich auf der Suche nach einer anderen Gedenkstätte im Internet. Da fiel mir die merkwürdige Tafel an der Böschung neben dem Tunnel wieder ein. Auf einer Seite über Bunker wurde ich fündig. Hier war die Tafel zu sehen. Inzwischen war sie auf eine Wand direkt neben dem Tunneleingang montiert und gut lesbar. Alle diese Menschen waren an einem Tag im Oktober 1944 ums Leben gekommen. Die Daten waren ihre Geburtsdaten. Zur Zeit des Unglücks hatte sich hier ein Stollen befunden, der bei Fliegeralarm als Notbunker genutzt wurde. Die Menschen auf der Tafel hatten hier an diesem Tag die Entwarnung im Stollen abwarten wollen, als eine schwere Bombe den Bunker traf. Die Berichte gehen in dem Punkt auseinander, ob die Insassen verschüttet wurden oder von der Sprengkraft direkt getroffen wurden.
Fest steht, dass auf der Tafel nur jene Personen genannt werden, die sich gesichert in der Zuflucht aufgehalten haben. Weitere, die zum Beispiel von den umliegenden Haltestellen dorthin geflohen waren, konnten nicht namentlich ermittelt werden. Eine Bergung der Toten war nicht möglich. Der Stollen wurde verfüllt und der Eingang zugemauert. Es gab kein Entkommen, außer aus dem Vergessen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Es gab kein Entkommen, außer aus dem Vergessen.
Mehr können wir nicht tun, Anders Tell, als daran zu erinnern. Welches Gewicht das bekommt, hängt von Vorübergehenden und Lesern ab. Auf jeden Fall kann es dann Gedankenanstoß sein. Danke dafür. (Es ist hier auch tadellos abgefasst.)

Angelockt zur Lektüre wurde ich übrigens durch den launigen Einstieg. Das Wort Tunnel sprachen sie bei uns auch so aus. Ich finde es recht geschickt, nicht gleich mit dem vollen Ernst zu kommen, sondern sich ihm erst allmählich zu nähern.

Schöne Abendgrüße
Arno
 

Anders Tell

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Vielen Dank für die Bewertung und den Kommentar. Ich weiß, das man Kommentare liken kann, aber ich habe die Funktion nicht gefunden. Sicher kann mir das jemand verraten.
 
Es geht so, junger Kollege: Über dem Text deines Artikels findest du eine durchgehende grüne Leiste. Hier bitte "Bewertungen" anklicken, dann erscheinen diese insgesamt und zu jeder gibt es unter den Sternen einen Daumen mit dem Zusatz "Gefällt mir". Hier bitte klicken.

Schöne Morgengrüße
Arno Abendschön
 

Frodomir

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Hallo Anders Tell,

mich hat dein Text inhaltlich sehr interessiert und ich finde es gut, wie unaufgeregt und vorsichtig du dieses Thema angegangen bist. Auf der einen Seite ist dies sicherlich auch angebracht, auf der anderen Seite habe ich aber den Eindruck, dass dem Text die Trennschärfe abhanden geht, welchem Genre er sich eigentlich zuordnen lassen will. Und damit fehlt ihm dann auch ein gewisser Pep und auch das Besondere, Erinnerungswürdige.

So hat deine Geschichte einen überwiegend erzählerischen Duktus, ist für eine Erzählung aber viel zu kurz. Das führt dazu, dass eigentlich der gesamte erste Absatz, also über 1/3 des Textes, redundant wirken. Die Geschichte ist eindeutig auf die Gedenktafel ausgerichtet, aber bis dieses Thema zur Sprache kommt, erzählst du von Dingen, die gar nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun haben. Was tut es zur Sache, wie der Tunnel beschaffen ist oder ob dort ein unvermeidlicher Papierkorb steht?

Durch diese Beschreibungen verliert dein Text an Schwung, bevor er überhaupt richtig angefangen hat. Ich hätte mir als Leser gewünscht, dass die Geschichte das eigentliche Thema viel verdichteter herausarbeitet. In der zweiten Texthälfte kommt die Erzählung diesem Anspruch schon näher, steht sich aber meiner Meinung nach mit eben dem angesprochenen erzählerischen Stil wieder etwas selbst im Weg.

Ich hoffe, du kannst mit meiner Kritik etwas anfangen und wünsche dir ein schönes Wochende.

Viele Grüße
Frodomir

PS: Müsste der Zwölfjährige nicht im Akkussativ stehen?
 
Zuletzt bearbeitet:

petrasmiles

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Anders als mein Vorrredner kann mir die 'Freude' an einem Text nicht genommen werden, wenn das Genre offen bleibt - zumal mir die Zuweisung des Gegenstands des Textes auf den Bunker und seine Geschichte recht willkürlich zu sein scheint.
Es scheint mir ein alter Konflkt zu sein. Meiner Meinung kam erst die Kunst, und dann als Hilfskonstruktionen so etwas wie ein theoretischer Überbau - oder Unterbau? - also ein Versuch der Klassifizierung und Verständnishilfe. Das sehen viele anders als ich, aber in dem Fall scheint mir doch auch inhaltlich ein Kurzprosatext vorzuliegen, weil er eben aus persönlicher Sicht ein Schlaglicht wirft auf einen Gegenstand, dem der Protagonist zu verschiedenen Zeiten in seinem Leben begegnete und in gewisser Weise ein Kreis sich schließt - ein biographischer, kein historischer.

Hat mir sehr gut gefallen!

Liebe Grüße
Petra
 

Anders Tell

Mitglied
Deine Kritik verstehe ich gut. Als der Text fertig vor mir stand, habe ich mich genau dasselbe gefragt: ob der einleitende Teil im Verhältnis nicht zu lang ist. Ich habe es aber trotzdem so gelassen. Mir ging es darum, die Leser mit zu jenem Ort zu nehmen, wo sich die Katastrophe ereignete. Ein eher schäbiger Platz.
Mit der Gattungsfrage habe ich schon immer Abgrenzungsprobleme. Was ist der Stil einer Erzählung? Ich kenne nicht viele Texte, die sich Erzählung nennen. Da denke ich an Wilhelm Raabe. Was ist der Unterschied zur Novelle? Erzählstile, das sagt mir was. Ich bin mir aber nicht bewusst, dass ich in einem bestimmten Stil erzähle.
Wie viele Gedenktafeln für zivile Opfer der Kriege mag es geben? Ich glaube nicht sehr viele, wenn man es mit den Kriegsgräberstätten vergleicht. Hier am Niederrhein gibt es in jedem noch so kleinen Ort ein Ehrenmal für die Gefallenen und einmal im Jahr wird ein Kranz niedergelegt. Die Kriegsopferfürsorge sucht noch heute nach den Gebeinen von Soldaten und versucht diese zu identifizieren. Sicher tröstlich für die Angehörigen, wenn sie erfahren, was ihrem Verwandten widerfahren ist.
Hier diese Tafel in meiner Geschichte wird eher schamhaft versteckt. Niemand legt hier einen Kranz nieder und niemand hat versucht, die Toten zu bergen oder die Namenlosen zu identifizieren.
Was so Hitchcock artig im Plauderton beginnt, sollte im Grauen enden. Wenn keinen Leser das Grauen packt bei der Vorstellung, dass die Mutter vom Einkaufen nicht zurück kommt, weil sie im Dreck eines Stollens verreckt ist, dann taugt meine Geschichte nichts. Das diese Menschen immer noch da unten verscharrt sind, finde ich schrecklich.

PS: Mit dem Grammatik Problem des Zwölfjährigen bin ich überfordert. Ich glaubte, es müsste im Nominativ stehen. Bin mir aber nicht sicher. Bestimmt weiß es aber einer der Korrekturen.
 

Anders Tell

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@petrasmiles
Vielen Dank für Deinen Kommentar. Ja es ging mir vor allem um etwas biographisches. Es hat mir eben keine Ruhe gelassen. Deshalb habe ich auch aus der Ichperspektive geschrieben. Es gibt so Splitter, die mir im Fleisch bleiben und die vielleicht heraus eitern, wenn ich davon erzählen kann.
 
Franke schreibt im Forentext oben:

Die Kurzprosa ist die kleinste und freieste Form der Prosa.

Freieste! Eben. Franke außerdem: Es sind also hier auch assoziative ...Texte möglich. Wovon wir hier ein Beispiel haben.

Im vorliegenden Fall folgt der Text, vom Umfang her tatsächlich ein kurzer Prosatext, ein Stück weit dem Pfad der Erinnerung. Er bildet dabei den Prozess, der via Sinnesorgane und Gehirn im Inneren eines Ich-Erzählers abläuft, in typischer Weise ab. Außerdem enthält er eine Steigerung zum Schwerpunkt am Schluss hin. Dahin unterwegs die Örtlichkeit kurz zu skizzieren, das erzeugt Atmosphäre, hier die einer banalen Vorstadtszenerie. Sie bildet einen Kontrast zu dem grauenvollen Geschehen, von dem die Tafel kündet. Es mag sein, dass der Verfasser impulsiv niedergeschrieben hat, ohne sich vorher viele Gedanken über diese Strukturen zu machen. Das heißt aber nicht, dass sie nicht vorhanden wären. Wir können auch unwillkürlich oder sogar unbewusst zu sinnvoller Formgebung gelangen.

Ich hätte einen Text über ein solches oder verwandtes Thema in ähnlicher Weise aufgebaut. Das ist jetzt nicht bloß behauptet. Wo ich aufgewachsen bin, gab es in geringer Entfernung auch einen (allerdings viel größeren) Tunnel, von dem ich weiß, dass er bei Luftalarm aufgesucht wurde. Diesen Tunnel habe ich auch schon hier und da eingesetzt.

Ich würde auch formulieren: Für mich als Zwölfjährigen ... Nicht ausgeschlossen, dass beide Formen möglich sind. Das zu überprüfen, ist mir jetzt zu aufwändig.
 

Frodomir

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Hallo in die Runde,

jetzt haben ja einige auf meinen Kommentar mit ähnlicher Meinung Bezug genommen, deshalb antworte ich mal an alle.

Ich habe mich eventuell missverständlich ausgedrückt. Für mich ist nicht der erzählende Stil per se das Problem, sondern dass er in diesem Text meiner Meinung nach nicht funktioniert. Er ist zu langatmig und lässt den Text meiner Ansicht nach etwas vor sich hin leiern. Für so einen kurzen Text bräuchte es aber mehr Verdichtung und nicht einen ersten Absatz, der so viel Raum einnimmt und dabei aber nur größtenteils eine Gegend beschreibt. Wenn man einen Text derart erzählerisch beginnt, ist er in meinen Augen auf einen viel größeren Umfang ausgelegt, als es hier der Fall ist.

Mir ging es also nicht darum, was nun Kurzprosa ist und was nicht oder um eine Genrediskussion, sondern um das Funktionieren eines Textes. Dass es dazu auch andere Meinungen geben kann, zeigt dieser Thread und wird von mir natürlich respektiert.

Viele Grüße
Frodomir

PS: Meiner Ansicht nach müsste es Zwölfjährigen heißen, aber 100% sicher bin ich mir auch nicht.

PS2: Jetzt bin ich mir sicher, denn der Duden sagt: Steht (bei als) das Bezugswort im Nominativ, Dativ oder Akkusativ, dann muss der Anschluss im gleichen Fall erfolgen.
 

petrasmiles

Mitglied
Wenn keinen Leser das Grauen packt bei der Vorstellung, dass die Mutter vom Einkaufen nicht zurück kommt, weil sie im Dreck eines Stollens verreckt ist, dann taugt meine Geschichte nichts. Das diese Menschen immer noch da unten verscharrt sind, finde ich schrecklich.
Doch, dieses Grauen ist spürbar - und ich möchte so weit gehen, dass sich oft hinter kindlicher bzw. spielerischer Annäherung ein Grauen verbirgt, man denke nur an 'Cowboy und Indianer' spielen. Im Englischen muss es viele Kinderreime gegeben haben - bei Agatha Christie bin ich darüber gestolpert - die sogar mit solchem Grauen spielen. Und sehr wahrscheinlich gab es die überall, fielen vielleicht im Laufe der Jahrzehnte pädagogischer Säuberung zum Opfer, oder der gesellschaftliche Kontext änderte sich.

Als jüngstes Beispiel dieses Grauens hat sich mir das Massengrab Ground Zero eingebrannt, obwohl es heißt, dass 'alles' geborgen worden sei.
Auch in jüngerer Zeit wird es das Verscharren von Verschütteten gegeben haben, nach Grubenunglücken z.B. Das wird dann nicht so anonym sein, aber grundsätzlich gehört die Abwägung der Gefährdung von Menschenleben für die Bergung Toter. 1944 war das noch einnmal eine ganz andere Geschichte ...
 

Anders Tell

Mitglied
Wie Arno schreibt habe ich zu dieser kurzen Geschichte keine Konstruktion erstellt. Ich habe den Fluss meiner Erinnerung laufen lassen und nur dort begradigt, wo die Assoziationen zu weit vom Thema weggeführt hätten. Nur im Nebensatz möchte ich erwähnen, dass diese Kindheit über fünfzig Jahre zurück liegt. Dazu ist mir noch vieles eingefallen. Zu meinen Lesern habe ich viel Vertrauen und ich glaube, dass sie sich auch an das erinnern werden, was ich nicht explizit beschrieben habe. Hans Dieter Hüsch hätte weniger Sätze gebraucht, um seine Zuhörer in eine Szene zu holen, obwohl er der Meister der Assoziationsketten war.

Vielen Dank, Petra für Deinen Beitrag. Es beruhigt mich, dass sich Dir das Grauen mitgeteilt hast und Du auch die Brücke zur Gegenwart gebaut hast. Für zu viele Menschen an den Kriegsschauplätzen sind diese Kollateralschäden heute noch Alltag. Ich bin dem Thema Krieg nicht verhaftet, nur gibt es wenige Versatzstücke aus meiner Kindheit und Jugend, in die der Krieg nicht hineinreicht. Die Genrediskussion liegt mir auch nicht besonders. In einem Seminar hat einmal ein Professor gesagt: „Wir wollen nicht beschreiben, was es ist, sondern wie es ist." Diesen Ausspruch hatte ich mir eingehandelt, weil ich eine Kurzgeschichten von Hemingway als ein seiner schwächsten bezeichnet hatte.

Frodomir, danke für Deine Klärung des richtigen Kasus. Ich habe mich entsonnen, dass wir eine solche nähere Beschreibung eines Substantiv als Gleichgröße vermittelt bekommen haben.
 



 
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