Letztes Jahr

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anbas

Mitglied
Letztes Jahr

Schwarzer Rauch, so wie ein Schleier.
Feiner Staub auf jedem Fensterglas.
Menschenleer die Parkanlage –
letztes Jahr lagt ihr hier noch im Gras.

Augen, die das Grauen kennen.
Hoffnung gegen Null tendiert.
Autowracks vor Hausruinen –
letztes Jahr seid ihr hier noch flaniert.

Durch die Straßen huschen Schatten.
Leben ist ein Spiel der Zeit.
Die Matratze in dem Keller –
letztes Jahr, da wart ihr noch zu zweit.

Letztes Jahr, da machtet ihr noch Pläne.
Letztes Jahr habt ihr noch nichts geahnt.
Letztes Jahr, da hattet ihr noch Ziele.
Letztes Jahr, im letzten Jahr.
Letztes Jahr, da hattet ihr noch Träume.
Letztes Jahr habt ihr wie sonst gelebt.
Letztes Jahr gab's Leid und Freude.
Letztes Jahr, im letzten Jahr.

Ständig dieses Grollen, Tosen,
Hunger, Durst und Seelenqual.
Angst als ständiger Begleiter –
letztes Jahr war alles noch normal.

Letztes Jahr umhüllt ein dichter Schleier.
Er besteht aus schwerem schwarzen Rauch.
Doch dies letzte Jahr lässt sich nicht rauben.
Denn es lebt in dir und bleibt dort auch.
 

petrasmiles

Mitglied
Sehr schwermütig, lieber Anbas,

was hat Dein LyrI erlebt, dass es so 'vernebelt' ist und man kaum hoffen kann, dass es je wieder das Leben anders als in einer Abfolge von Schmerz und quälenden Erinnerungen verbringen wird?

Sehr eindringlich. Die Aufzählung in der 4. Strophe könnte für sich stehen, und der Rest des Textes wäre nicht weniger ohne sie.

Ist das ein Versuch, mit dem Schmerz, der über die Bilder kommt, zurecht zu kommen?

Liebe Grüße
Petra
 

molly

Mitglied
Hallo Andreas

Du hast Dich in Situationen eingefühlt, von denen wir und die Betroffenen im letzten Jahr noch nichts ahnten. Es wird zwar lange dauern, die Matratzen im Keller, die Angst und den Rauch zu vergessen.
Doch mit der letzten Strophe machst Du allen Mut, dass niemand die guten Erinnerungen rauben kann.
So lese ich das.

Sehr eindringlich

Liebe Grüße
Monika
 

anbas

Mitglied
Hallo Petra,

die Idee zu diesem Gedicht ist mir gekommen, als ich an die Menschen in der Ukraine dachte. Wie war ihr Leben noch vor einem Jahr, wie jäh hat es sich geändert. Aber es waren auch Gedanken, dass es bei uns oder irgendeinem anderen Land in der Welt zu unvergesehenen Ereignissen kommen kann, die wir uns derzeit nicht vorstellen können.



Liebe Monika,

ja, so ist es gemeint. In den letzten Zeilen schwingt für mich aber auch so etwas wie Trotz und (innerer) Widerstand mit.



Vielen Dank für Eure Rückmeldungen und für Deine Wertung, Monika!


Liebe Grüße

Andreas
 



 
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