Liebe oder Tod

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Das "Bild" dieser Geschichte wurde mir vor über dreißig Jahren von einem sehr alten Mann als Kriegserlebnis geschildert. Es ist kein schönes Bild, aber ich wollte es jetzt irgendwie verarbeiten.


Liebe oder Tod


1. Ermittlungen


Es war ein grauer Morgen an diesem ersten Mai. Dabei war der Vorabend ganz schön gewesen – wäre da nicht dieses grausame Verbrechen geschehen.
Oberkommissarin Sabrina Nolte und Oberkommissar Rudi Weber, die übrigens Geschwister waren, wurden von einem jungen Mann an den Strand gerufen. Er hatte eine tote Frau gefunden.
„Ist wohl bei Ebbe passiert, die Flut hat die Spuren schon wieder verwischt“, stellte Sabrina fest.
Die Leute von der Spurensicherung konnten dies nur bestätigen. „Alles weg“, sagten sie unisono.
„Dann in die Gerichtsmedizin mit dem armen Ding“, presste Rudi deprimiert heraus.
Die Flut war schon längst wieder auf dem Rückzug. Das Verbrechen musste also schon am späten Abend geschehen sein.

Den jungen Mann nahmen sie mit auf die Wache, um seine Aussage aufzunehmen.
„Ich traf sie auf der Tanzveranstaltung dort im Strandzelt. Wir hatten uns sehr nett unterhalten. Dann war sie auf einmal fort. Und sie kam auch nicht zurück“, sagte er schluchzend. „Sie war so wunderbar.“
„Sind Sie dann auch auf die Suche gegangen?“
„Ja, sicher. Aber ich habe sie nicht mehr gefunden. Ich war bitter enttäuscht.“
„Ist Ihnen vielleicht aufgefallen, ob sie Kontakt mit einem anderen Mann hatte?“, fragte Rudi weiter.
„Nein, nichts.“
„Ok, vielen Dank, Herr König“, sagte Sabrina bedrückt. „Das Leben ist manchmal grausam und ungerecht. Geht es denn so, oder soll Sie jemand heimfahren?“
„Das geht schon so. Ich muss den Kopf wieder frei bekommen. Danke.“ Seine Stimme klang traurig.
Dann bemerkte Sabrina das Ehepaar an der Information. Sie gab Rudi ein Zeichen. Auch er schaute hinüber. Dann nickte er und presste die Lippen zusammen. Das sind wohl die Eltern, dachte er, ich hasse diese Gespräche.

Manfred von der Information führte die Eheleute zu Sabrina und Rudi in den Besprechungsraum.
Die attraktive Dame trat auf Rudi zu. „Guten Tag. Veronika Schöne, mein Mann Harald. Wir wollen eine Vermisstenmeldung machen. Unsere Tochter Ramona ...“, sagte sie und holte ein Foto im Din-A5-Format heraus.
Sabrina sah gleich, dass es das tote Mädchen sein musste. Diese kupferroten Haare und die rehbraunen Augen fielen ihr sofort auf. Oh, mein Gott, dachte sie, schluckte verkrampft und kniff die Augen zusammen, weil sie die Tränen unterdrücken musste.
Rudi griff zum Telefon und rief die Psychologin hinzu. Julia Bremer war eine alte Schulfreundin von Sabrina. Sie kam nach dem Studium ebenfalls zur Polizei. Wenige Augenblicke später war sie da.
Das Gespräch dauerte nur zehn Minuten, da waren die Eltern schon nicht mehr in der Lage, noch einen klaren Gedanken zu fassen oder gar zu sprechen. Zur Identifizierung wurden sie in die Gerichtsmedizin geführt. Dort brach die Mutter weinend zusammen.
Es war wirklich kein schöner Anblick. Sand und Salzwasser hatten dem geschundenen Körper schon gut zugesetzt, der ansonsten, außer ein paar Kratzern, die auf einen Kampf hinwiesen, keine größeren Verletzungen aufwies. Aber umso grausamer war der Anblick des Gesichtes, das mit weit aufgerissenem Mund und ebensolchen Augen die Todesangst dieses einst bildhübschen Mädchens manifestierte.

Am Nachmittag kam Dietrich Brong, der Gerichtsmediziner, in Rudis Büro.
„Sag lieber nichts, Dietrich. Das war offensichtlich. Sexualdelikt, nicht wahr?“
„Eins von der ganz grausamen Sorte, ja. Der muss ein Mordskaliber haben. Innere Verletzungen und Blutergüsse an den entsprechenden Stellen kommen nicht von ungefähr, wenn Du verstehst.“
„Sie ist ertrunken, ja?“ Rudis Worte drückten eine gewisse Hoffnung aus, dass das Opfer nicht zu sehr gelitten haben möge.
„Vermutlich danach. Aber sie ist wohl grausam erstickt, als er ...“
„Sei still!!“, schrie Rudi. „Das ist ja widerlich!“
„Grausamer geht es kaum. Aber das Wasser in Magen und Lunge kam mit ziemlicher Sicherheit erst später dazu. Abscheulich, Rudi. DNA-Spuren haben wir allerdings reichlich.“
„Ein wildes Tier ist barmherziger. Das tötet zuerst, bevor es weiter macht.“
„Den schriftlichen Bericht hast Du morgen früh. Entschuldige, dass ich Dir den Feierabend verdorben habe.“
„Ach, schon gut. Deine Direktheit schlägt mir einfach auf den Magen. Ich muss jetzt wirklich raus, um auf andere Gedanken zu kommen. Bis morgen dann.“

Am nächsten Morgen besuchten Sabrina und Rudi die Schule, auf der Ramona kurz vor dem Abitur stand. Auch Julia hatten sie dazu gebeten. Sie sollte nur beobachten.
„Nächste Woche beginnen die Prüfungen“, erzählte der Direktor und führte die Beamten in die Abiturklasse. Dort stellten sich die drei kurz vor.
Es war ein kleines Gymnasium in einer kleinen Stadt. Und so gab es nur siebzehn Anwärter auf die Hochschulreife. Der Direktor hatte die örtliche Zeitung in der Hand. Dort stand auf der Titelseite in großen Lettern: '18jährige Abiturientin grausam missbraucht und getötet'.
„Guten Morgen, meine Damen und Herren. Allerdings ist es gar kein guter Morgen. Wer hat schon die Zeitung gelesen?“, fragte der Schulleiter.
Mehr als die Hälfte meldete sich.
„Ich wage ja gar nicht zu fragen, aber ...“, ergriff Stefan das Wort.
„Wie Ihr alle erkennt, ist Ramona heute nicht hier“, sagte der Direktor und schluckte schwer. „Sie ...“, setzte er an, doch dann brach ihm die Stimme weg, er wandte sich ab.
„Ramona wird nicht wiederkommen“, brachte Rudi unter seelischen Schmerzen über die Lippen.
„Sie ist das Mädchen, das am Strand getötet worden ist“, ergänzte Sabrina schwermütig. „Wir wollen Euch ein paar Fragen stellen, um vielleicht ein paar Hintergrundinformationen zu bekommen, die uns weiterhelfen könnten, den Mörder zu finden.“
„Sie war ein Traum“, schwärmte Dieter. „Aber sie hat mich zurückgewiesen. Das war schade.“
Alle Blicke waren plötzlich vorwurfsvoll auf ihn gerichtet.
„Hey, das war doof, aber deswegen bringe ich sie wohl kaum gleich um“, rief er entsetzt.
„Alles gut“, beruhigte Rudi. „Könntest Du die Situation näher erläutern, bitte?“
„Ach, sie sagte, sie sei noch nicht soweit. Sie wollte sich auf's Abi konzentrieren. Habe ich akzeptiert, alles easy“, plapperte Dieter etwas patzig. „Ich hätte sie nach den Prüfungen nochmal angegraben“, verkündete er dann, erntete aber auch da wieder böse Blicke. „Oh, sorry, ist vielleicht jetzt etwas unpassend“, gab er kleinlaut zu.
Tanja meldete sich zu Wort. „Zweifellos war sie die Schönste von uns allen, aber die Jungs waren ja wohl auch nur auf sie fixiert.“ Es klang ein wenig Eifersucht in ihrer Stimme.
„Nicht jeder durfte ihr zu nahe kommen“, warf Bernd ein. „Das ist schon richtig. Diesbezüglich war sie etwas wählerisch.“
„Oh, bitte, Bernd. Wie redest Du über Ramona? Sie ist tot. Das gehört sich nicht“, klagte der Direktor.
„Entschuldigen Sie, aber die Polizei will Informationen. Auch die negativen Aspekte“, rechtfertigte der junge Mann seine Aussage.
„Ich glaube, sie wollte gar nichts mit den Jungs anfangen“, sagte Doris.
„Da habe ich aber andere Sachen gehört“, polterte Frank, zog sich aber sofort zurück und fügte an: „Ok, das darf ich jetzt auch nicht breittreten.“
Doch Sabrina bat: „Wenn es wichtig ist, sprich es ruhig aus.“
Frank schämte sich für sein Gerede. „Nein, nein, so schlimm ist es auch wieder nicht. Sind auch nur Gerüchte.“
„Junge!“, mahnte der Direktor. „Ramona war erst vor drei Monaten achtzehn Jahre geworden.“
„Na, und? Ist vielleicht ein Grund, aber kein Hindernis, oder?“
„Jetzt hast Du uns neugierig gemacht“, gestand Rudi.
„Sie soll was mit dem Albert gehabt haben. Der letztes Jahr von der Schule geflogen ist. Wissen Sie noch, Herr Direktor? Aber dann hat sie Schluss gemacht, weil sie sich von ihm zu sehr bedrängt fühlte.“
„Woher hast Du diese Informationen?“, bohrte Rudi nach.
„Ich sagte doch, sind nur Gerüchte.“
„Daraus ließe sich aber ein Motiv ableiten“, machte Sabrina klar und richtete sich an den Direktor. „Sie können uns sicher die Daten des jungen Mannes zur Verfügung stellen, ja?“
Der grauhaarige Mann nickte stumm.
Plötzlich war es einen Augenblick ganz still. Da wurde Sabrina auf ein Geräusch aufmerksam. Sie sah sich im Klassenraum um. Und ihr Blick fiel auf Dietmar in der letzten Reihe. Er schien zu weinen. Also ging sie zu ihm. „Ist alles in Ordnung mit Dir?“
Dietmar schaute auf. „Ramona war ... Sie war so wunderschön. Und sie war so ein guter Mensch. Hören Sie doch nicht auf die angeblichen Geschichten. Das glaube ich nicht. Sie war immer nett und freundlich. Auch zu mir, obwohl ich ein bisschen unheimlich bin, wie sie lächelnd sagte. Sehen Sie mich an“, sagte er und wies auf die vielen Narben in seinem Gesicht. „Aber ich habe sie geliebt.“
Es hatten alle mitbekommen, doch einige lachten gehässig.
„Was soll dieses alberne Gelächter?“, fragte Rudi böse. „Das ist ja wohl unerhört!“
„Hey, sorry, aber er hätte sie nie gekriegt“, plapperte Dieter frech. „So eine schicke Braut will auch einen richtigen Kerl, mit dem sie sich sehen lassen kann.“
„Genau deshalb hätte sie keinem von Euch Idioten gestattet, ihr zu nahe zu kommen!“, rief Dietmar wütend.
„Aber Dir, was? Mach Dich nicht lächerlich!“
„Jetzt ist es genug!“, sprach Sabrina ein Machtwort. „Irgendein richtig mieses Schwein hat dieses Mädchen umgebracht! Und unsere Aufgabe ist es, diesen verdammten Kerl zu finden! Ihr seid mit Euren lächerlichen Animositäten keine echte Hilfe. Gibt es noch konstruktive Beiträge?“ Mit ernster Miene schaute sie in die Runde.
„Ich habe auch von der Sache mit Albert gehört“, gab Birgit leise zu.
Auch Doris nickte.
Rudi sprach den Schulleiter an: „Herr Direktor, die Daten dieses jungen Mannes sollten wir bekommen.“
Der Mann wirkte zu tiefst betroffen. Er hatte Albert von der Schule verwiesen, weil er mehrfach auffällig geworden war und so manchem Jungen zugesetzt hatte, wenn der einem Mädchen, das Albert begehrte, zu nahe gekommen war. Es hatte ein Dutzend Beschwerden in dieser Richtung gegeben. Der Direktor musste handeln, weil auch einige Mädchen nicht von Albert belästigt werden wollten.

„Wie helfen uns diese Aussagen jetzt weiter?“ Sabrina war skeptisch.
„Also, wenn an der Sache mit diesem Albert was dran ist, hätte er auch ein Motiv. Zwischen den Zeilen habe ich nämlich durchaus gelesen, dass er bei den Damen gar nicht sonderlich beliebt gewesen war. Trotz seines wohl recht resoluten Auftretens.“
„Ein Macho erster Klasse. Da steht nicht jede drauf. Ich würde so einem Kerl auch was hinter die Ohren geben“, meinte Sabrina und lachte.
„Du bist ja auch eine kluge Frau, Schwesterherz. Diese Mädchen sind noch halbe Kinder. Zumindest wirken einige noch recht unreif.“
„Andere dafür um so reifer. Und unser Opfer zählte wohl trotz der angedeuteten Zurückhaltung eher zu dieser Gruppe. Und wenn das Gerücht mit diesem Albert zutreffend ist, allemal.“
„Dann besuchen wir diesen jungen Mann doch mal“, beschloss Rudi und startete den Wagen.
„Was hat Dir dieser Gedankenaustausch aufgezeigt, Julia?“
„Dieser junge Mann, zu dem Du hin bist, weil er ... Hat er wirklich geweint? Den fand ich interessant. So ganz still, aber dann sehr emotional.“
„Ich schätze, er hat es nicht leicht in der Klasse. Hast Du sein Gesicht gesehen? Voller Narben.“
„Ach, Sabrina, dann hat er es auch bei den Damen nicht gerade leicht, nicht wahr?“, diagnostizierte die Psychologin.

„Der Didi wollte die Ramona anmachen?“, lästerte Dieter, als der Direktor den Raum wieder verlassen hatte, nachdem er allen für den heutigen Tag frei gegeben hatte.
„Das glaubt doch keiner. Der sieht doch aus, wie ein Monster mit den ganzen Narben im Gesicht“, schlug Frank in die gleiche Kerbe.
Dietmar stand gerade noch im Türrahmen, als die Sticheleien losgingen. Er drehte sich um und schrie: „Ihr armseligen Bastarde! Mich hätte sie bestimmt eher genommen, als einen von Euch. Aber ich weiß, dass sie noch nicht bereit dazu war.“
Der Direktor stand am anderen Ende des Ganges mit zwei anderen Lehrern, doch er vernahm Dietmars laute Stimme und ging zurück zur Klasse. „Dietmar, kommst Du bitte mal mit in mein Büro“, bat er den sehr groß gewachsenen jungen Mann.
„Ich habe sie geliebt, Herr Direktor, aber ...“
„Das ist schon in Ordnung, Dietmar. Komm erst einmal von diesen Lästermäulern weg. Ich möchte mich mit Dir unterhalten.“
„Über Ramona?“ Ein leichtes Zittern war in seiner Stimme zu vernehmen.
Dann erreichten sie das Büro des Direktors. Dietmar wirkte unsicher, ja, fast ängstlich.
„Ich habe Dich vor ein paar Tagen auf dem Weg in die Schule mit Ramona gesehen. Ihr hattet ja fast den selben Weg hierher. Aber ich habe auch gesehen, dass Ihr Euch kurz vor der Schule getrennt habt. Ist das richtig?“
Dietmar nickte. „Ich hatte Angst, dass es Gerede geben würde, dass die anderen Jungs mich dann wieder mit so bösen Sprüchen demütigen würden, wie sie es oft genug tun. Natürlich hatte ich auch Sorge, dass sie von den anderen böse Worte zu hören bekommen könnte, weil sie sich mit mir hat sehen lassen. Das wollte ich vermeiden.“
„Das ist dann sehr weise gewesen. Hatte sie wirklich Angst vor Dir?“
„Nicht direkt Angst. Sie meinte es auch gar nicht böse, als sie mir sagte, ich sei ihr unheimlich. Das war nur auf diese verdammten Narben bezogen. Ich könnte meinen Vater dafür ... Nein, ich hasse meinen Vater dafür!“, klagte er mit Wut im Bauch.
„Entschuldige, wenn ich so offen bin, aber Deine Eltern sind nicht gerade das Sinnbild vorbildlicher Eltern.“
„Sie sind beide arbeitslos. Was sollen sie denn machen? Aber mein Vater ist ein Psychopath! Er schlägt meine Mutter! Wer weiß, wozu er noch fähig wäre“, erhob Dietmar einen versteckten Vorwurf.
„Kannte Dein Vater Ramona?“, hakte der Direktor nach.
„Einmal hat er mich mit ihr gesehen, ja. Das war vor etwa zwei Monaten, glaube ich.“
„Hat er Dich darauf angesprochen?“
Dietmar war wieder unsicher, was er antworten sollte. Er hatte keine Angst vor seinem Vater, aber er hatte Angst davor, dass der Direktor oder gar die Polizei seinen Vater dazu befragen könnte. Also musste er wohl oder übel die Wahrheit sagen. „Ja. Er hat, so wie es seine rüde Art ist, halt gleich unterstellt, dass ich mit ihr was hätte. Er hat sehr indiskrete Fragen gestellt, wenn Sie verstehen.“
„Aber da war doch nichts, oder? Entschuldige, das ist jetzt auch etwas indiskret, aber Ramona ist tot. Da müssen solche Fragen erlaubt sein. Ich will Dir doch nichts Böses. Ich weiß um Dein Leid mit Deinen Mitschülern. Ich will Dich schützen.“
„Sie haben aber auch ein kriminologisches Gespür, ja?“
„Menschenkenntnis nennt man das. Ein Schuldirektor sollte den Charakter seiner Schützlinge einschätzen können. Ich versuche Dich zu verstehen, Dietmar.“
„Ich habe Ramona sehr geliebt“, schluchzte der junge Mann.
„Ist doch gut, Junge. Ich hätte Dir das auch gegönnt. Die Polizei wird ihren Mörder finden. Geh jetzt nach Hause.“
Der Direktor hatte Mitleid mit Dietmar, aber er erkannte auch den labilen Charakter des Jungen.

„Guten Tag, Herr Krohn“, grüßte Sabrina den Mann, der die Tür öffnete. „Wir hätten gerne Ihren Sohn Albert gesprochen.“
„Hat er wieder was ausgefressen?“, blaffte er.
„Das wollen wir gerne überprüfen, wenn es recht ist.“
Und plötzlich war der Vater lammfromm. „Ja, gut. Kommen Sie herein. Nehmen Sie Platz. Ich hole ihn her.“
Die Beamten schauten sich in dem gediegen eingerichteten Wohnzimmer um. Es sah nach dezentem Wohlstand aus.
„Polizei?“, tönte es schon laut aus dem Treppenhaus. „Ich habe nichts getan!“
„Dann brauchst Du ja nichts befürchten“, trieb der Vater den Sohn an. „Nun geh schon.“
Dann kamen die beiden ins Wohnzimmer.
„Ich habe nichts getan!“, rief Albert erneut.
Rudi versuchte ihn zu beruhigen. „Das hat auch niemand gesagt.“
„Herr Krohn“, sprach Sabrina ihn an. „Sagt Ihnen der Name Ramona Schöne etwas?“
„Oh, ja. Nomen est omen, gute Frau. Aber warum fragen Sie mich nach ihr?“
„Ramona ist tot, Herr Krohn. Und wir gehen lediglich den Hinweisen nach, die wir erhalten haben.“
„Ich war es aber nicht.“ Seine Mundwinkel zuckten unruhig.
Er glaubt also sofort an ein Gewaltverbrechen, dachte sie, sehr interessant.
„Die Umstände ihres Todes sind noch nicht ganz klar“, äußerte sich auch Rudi zurückhaltend, weil er Sabrinas Reaktion bemerkt hatte. „Darum suchen wir nach Personen, die sie in den letzten Tagen gesehen haben könnten, um Licht ins Dunkel zu bringen.“
„Ich habe sie seit ...“ Er überlegte kurz. „Ja, seit etwa vier Wochen nicht mehr gesehen.“
„Und davor?“, hakte Sabrina neugierig nach.
„Wir ... Na, wir waren eine Zeit lang zusammen. Hey, das ist doch wohl nicht verboten. Sie war da schon achtzehn!“
„Haben wir Ihnen irgendetwas vorgeworfen, Herr Krohn? Nein! Also bleiben Sie mal ganz entspannt. Sie waren also zusammen. Und weiter?“, bohrte Rudi weiter.
„Gebumst habe ich sie nicht! Das wollte sie nicht!“
„Und da Sie das nicht akzeptieren wollten, hat sie Schluss gemacht. Richtig?“
„Herr Kommissar, so ist das Leben. Was soll die Fragerei?“
„Wir suchen einen Mörder. Und Sie hätten aufgrund dieser Tatsache ein klares Motiv. Das ist damit noch längst keine Anklage, Herr Krohn.“
„Ich habe sie nicht umgebracht. Sehe ich so aus, als wenn ich Probleme hätte, eine Neue zu finden?“, polterte er selbstbewusst und posierte machomäßig.
Der Zweiundzwanzigjährige sah in der Tat nicht schlecht aus, hatte einen athletischen Körper, war auch recht groß. Genau der Richtige für kleine dumme Mädchen, die einen Beschützer suchen, dachte Sabrina mit klaren Vorurteilen gegen solche Typen. Aber Ramona passte wohl kaum in diese Opferrolle, wurde ihr dann klar.
„Vielen Dank für Ihre Zeit“, verabschiedete sich Rudi.
Er fuhr mit Sabrina und Julia zur Wache und setzte sich mit ihnen zusammen, um die ersten Erkenntnisse zu analysieren.

„Was hältst Du von diesen Typen?“
„Ach, Rudi. Gar nichts“, meinte Julia und lachte. „Meister Großkotz und Sohn. Große Klappe, nichts dahinter.“
„Aber der Junior hätte durchaus ein Motiv, nicht wahr?“, warf Sabrina ein.
„Das kann schon sein. Aber ich bin echt müde. Darüber denke ich jetzt nicht mehr nach. Außerdem haben wir morgen frei.“
„Stimmt Julia! Gehen wir dann an den See?“, schlug Sabrina deshalb vor.
„Oh, das ist eine nette Idee. Lass uns aber recht früh gehen, dann ist es noch nicht so voll, ja?“, meinte die zierliche Frau mit den langen blonden Haaren vor.
„Klar, machen wir. Ist zehn Uhr okay?“
„Prima. Dann bis morgen. Bei mir? Liegt für Dich ja auf dem Weg.“
„Um zehn bei Dir“, stimme Sabrina fröhlich zu.


2. Abgründe


Dietmar kam an diesem Freitag Abend gegen acht nach Hause. Seine Eltern waren gerade auf dem Sprung. „Wo wollt Ihr denn hin?“, fragte der Sohn.
„Geht Dich nix an, klar!“, maulte der Vater. „Komm, Beate!“, befahl er und zerrte an seiner Frau.
„Mama, wo geht Ihr hin? Wo willst Du in diesem Aufzug hin?“, richtete sich Dietmar an die Mutter, die mit einem engen Top, einem kurzen Rock und hohen Schuhen bekleidet war.
„Lass gut sein, Junge. Wir müssen los. Wir haben eine Verabredung.“
Mensch, Mama, dachte Dietmar, Du siehst aus, wie eine Nutte.

„Hey, Paps!“, sprach Albert seinen Vater frech an. Was hast Du Dich denn so fein gemacht?“ Sein Vater kam im schwarzen Nadelstreifenanzug ins Wohnzimmer. „Wo willst Du hin? Kann ich mitkommen?“
„Ich wollte mal ein paar gewisse Damen besuchen. So sehen die sofort, Du hast Geld und sind schnell zu haben. Ich hasse dieses Geplänkel vorher. Ich gehe da hin, um Spaß zu haben, und zwar zackig.“
„Nutten? Oh, das könnte ich jetzt auch gebrauchen. Kann es sein, dass Du da öfter hingehst, seit Mama weg ist? Aber Hut und Sonnenbrille ist doch echt übertrieben, oder?“
„Willst Du dort erkannt werden, Sohnemann?“
„Naja, vielleicht nicht von jedem. Stimmt.“
„Na also. Dann zieh Dir zumindest Klamotten an, in denen Du sonst nirgends hingehst, wo man Dich kennt.“
Zehn Minuten später kam Albert zurück aus seinem Zimmer. Schwarze Hose, weißes Hemd, weißes Sacko, Sonnenbrille.
Geht doch, dachte der Vater.

Auch Dietmar hatte ein Ziel. Er verkleidete sich jedoch nicht, um nicht erkannt zu werden – obwohl es das selbe Ziel war, wie er mit leichtem Entsetzen erkennen musste. Er hatte mit seinem Sportrad keine Mühe gehabt, dem Wagen seiner Eltern zu folgen. Sein Vater fuhr grundsätzlich sehr langsam. Das war so ziemlich das Einzige, was er mit Bedacht ausführte.
Dann hielt der Wagen an. Auch Dietmar stoppte in sicherer Entfernung, um nicht entdeckt zu werden. Da trat ein Mann in Nadelstreifen und mit Hut und Sonnenbrille an das Seitenfenster und sprach den Fahrer an. Der reichte einen Umschlag hinaus, bekam dafür im Gegenzug einen anderen.
Was geht denn da ab, wunderte sich Dietmar.
Und dann stieg seine Mutter aus, gesellte sich zu einer etwas größeren, sehr schlanken und offenbar deutlich jüngeren Frau mit hochtoupierten blonden Haaren. Als diese sich dann zu Dietmars Mutter umdrehte, bekam Dietmar allerdings große Augen. Das weiße Top, das sie trug, bedeckte auch vorne nur das Nötigste, zeigte also in diesem Fall deutlich mehr, als es verbarg. Die will ich haben, dachte Dietmar.
Der Mann im Nadelstreifen ging bis zur nächsten Ecke und verschwand in der Seitengasse.
Einige Augenblicke später kam er mit einem zweiten Mann in weißem Sacko wieder hervor.
„Hey, Jungchen, guck Dir diese geile Sau an“, machte er ihn auf die scharfe Blondine aufmerksam. „Hol sie Dir, okay?“
„Oh, ja. Mir platzt jetzt schon die Hose. Die werde ich knallen, bis der Arzt kommt“, tönte Albert und ging zielstrebig auf sie zu.
„Sie heißt Trixi“, verriet Vater Krohn noch, dass ihm die Dame bekannt war.
Albert schaute seinen Vater fragend an, lachte dann.
Dietmar wollte sich auch gerade aufmachen, da sah er den anderen Mann, den er noch nicht als seinen ehemaligen Mitschüler erkannt hatte. Und der war schneller. Dann hole ich sie mir, wenn er fertig mit ihr ist, wollte sich Dietmar in Geduld üben und nahm die Verfolgung auf. Sein Vater war inzwischen weiter gefahren. Und dann ging ihm auch auf, dass sich seine Mutter hier prostituierte.
Routinemäßig war eine Polizeistreife durch die Straße gefahren und war nun wieder fort.

Dietmar war frustriert, blieb die ganze Nacht fort, nachdem er beobachtet hatte, wie seine Mutter mit einem fremden Kerl fortgegangen war. Er hatte sie nicht noch einmal zu sehen bekommen. Um sechs Uhr am Morgen kam er schließlich nach Hause. Er bemerkte sofort, dass die Eltern ebenfalls zurück waren, denn er hörte die Stimme seines Vaters. Doch was der von sich gab, ließ Dietmar erschaudern.
„Komm, Beate, nimm noch eine von den süßen Pillen. Dann bist Du wieder munter, damit ich Dich noch ein bisschen vögeln kann. Ich hasse es, wenn Du so reglos da liegst und es einfach geschehen lässt!“
„Paul, das kann ich nicht mehr. Ich bin todmüde“, klagte die Mutter.
Und Paul rastete sofort aus und bedrohte seine Frau mit der hohlen Hand. „Du hast Dich Deinem Mann nicht zu verweigern, Du elende Hure!“, schrie er sie an.
Da stürmte Dietmar ins Zimmer. „Lass Mama in Ruhe!“, rief er und stellte sich schützend vor sie.
Doch der Vater schlug zu und traf den Sohn mitten ins Gesicht. Dietmar schlug zurück und beide gingen zu Boden.
„So hört doch auf“, jammerte Beate unter Tränen.
„Mama! Ich habe gesehen, wo Ihr gestern Abend hin gefahren seid. Ich will nicht, dass Du das tust.“ Er keuchte und musste sich erneut ducken, um dem Schlag des Vaters auszuweichen.
„Jetzt hau ab!“, brüllte Paul seinen Sohn an. „Such Dir ein Weib und zeig ihm, was Du drauf hast. Raus jetzt!“
„Mich will doch keine haben“, schluchzte Dietmar. „Sieh mich an. Das ist Dein Werk!“, klagte er den Vater an. „Du bist all das Unheil schuld, das mir widerfährt!“
„Du bist ein Mann! Groß und stark! Nimm Dir, was Du begehrst, verdammt! Das tue ich auch. Komm her, Beate. Klamotten runter und Beine breit!“, bedrängte Paul seine deutlich kleinere Frau unnachgiebig.
Dietmar war machtlos vor Ohnmacht. Das darf so nicht weitergehen, dachte er. Um sich Abkühlung zu verschaffen, ging er zum See, suchte eine Stelle, die ganz ruhig gelegen war.

„Guten Morgen, Sabrina. Wir können sofort los“, war Julia gut gelaunt.
Zehn Minuten später kamen sie am See an, suchten sich eine kleine Wiese direkt am Wasser.
Dietmar saß genau gegenüber und erkannte Sabrina wieder. Oh, die schicke Polizistin, dachte er erregt. Aber auch Julia erregte sein Interesse, denn ihre Gegenwart in der Klasse hatte seine Sinne ebenso stimuliert. Und dann sah er die zwei Männer, die etwa fünfzig Meter von ihm weg am Ufer saßen. Ist das nicht der Albert, glaubte er den jungen Mann zu erkennen.
Es waren Albert und sein Vater. Da Sabrina ihr Haar heute offen trug und nicht, wie im Dienst als Pferdeschwanz, erkannten die beiden sie nicht. Gleiches galt aber auch für Julia.
„Hey, guck Dir diese süße Maus an“, sagte der Vater. „Die Blonde meine ich.“
„Ganz niedlich, ja.“
Als Julia ins Wasser ging, machten sich auch Vater und Sohn auf. Das veranlasste Dietmar ebenfalls, eine Runde schwimmen zu gehen. Er schaute sich um, doch plötzlich waren die beiden anderen Männer abgetaucht. Also ging auch Dietmar auf Tauchgang.
Sabrina folgte Julia nun, die schon ein gutes Stück hinausgeschwommen war. Und plötzlich ein kurzer Schrei, der sofort verstummte. Sabrina stürzte sich ins Wasser und eilte Julia zu Hilfe. Im nächsten Augenblick tauchte sie wieder auf. Und mit ihr nur wenige Meter neben ihr Albert und sein Vater.
„Ist alles in Ordnung, junge Frau“, bot Albert seine Hilfe an.
„Da hat mich irgendetwas oder vielleicht sogar irgendjemand am Fuß gepackt und nach unten gezogen“, sagte sie mit zittriger Stimme. „Aber es ist wieder gut. Ich brauche keine Hilfe“, blockte sie ab.
Dietmar war kurz aufgetaucht, hatte gesehen, dass die anderen beiden in Julias Nähe waren und tauchte wieder ab.
Julia zog sich sehr schnell aus dem Wasser zurück, schenkte den beiden Männern, die ihre Hilfe hatten anbieten wollen, keine weitere Beachtung.
„Zicke“, maulte Albert und tauchte ab.
Sein Vater folgte ihm.

„Lass uns wieder gehen. Mir ist die Lust vergangen“, stammelte Julia.
„Das ist schade. Aber klar. Wenn Dich da jemand runterziehen wollte, dann ... Aber ich habe niemanden gesehen. Erst, als Du wieder frei warst, kamen diese zwei Typen da an. Sehr seltsam.“ Aufgrund der nassen Haare hatte Sabrina weder Vater Krohn noch Sohn Albert erkannt. „Willst Du das zur Anzeige bringen?“
„Ach, Sabrina. Ich weiß doch nicht mal, was es war. Vielleicht war es wirklich nur eine Schlingpflanze. Ich weiß es nicht. Ich war ja auch sofort wieder frei. Lass mal gut sein. Würde doch sowieso nichts bringen“, meinte Julia resigniert.
„Das mag wohl sein“, raunte Sabrina.
„Lass uns in die Stadt gehen, ein bisschen durch die Läden ziehen, ja?“
„Um auf andere Gedanken zu kommen?“
Julia nickte statisch und gab Sabrina damit wieder Anlass zur Sorge, dass es eben keine Schlingpflanze gewesen war.

Tamara Krohn lebte zwar getrennt von ihrem Mann, aber sie hatten auch nach zwei Jahren noch Kontakt. Diesmal machte sie sich Sorgen und besuchte ihn. „Warst Du gestern bei Trixi?“
„Warum? Sie ist erwachsen. Oder muss sie sich immer bei Papa zurückmelden, wenn sie vom Strich zurück kommt?“, blaffte Torsten Krohn ausfallend. „Ich habe sie gestern nicht gevögelt, wenn Du das meinst.“
Trixi war die Tochter von Tamaras neuem Freund.
„Sie ist nicht nach Hause gekommen. Sie wohnt schließlich bei ihrem Vater.“
„Ich weiß nichts, Tamara. Die kommt schon wieder heim“, meinte er abfällig und grinste.
„Du bist ein Scheusal!“, sagte Tamara enttäuscht und ging zur Tür.
„Es ist nett, dass Du mal vorbeischaust, Schatz.“
„Ich bin nicht mehr Dein Schatz!“, klagte sie, öffnete die Tür und verabschiedete sich.
„Tschüss!“, rief er ihr nach, während er die Tür zuschlug. Blöde Kuh, dachte er.

Am Montag Morgen wurde der Müll im Rotlichtbezirk abgeholt, für die Müllwerker ein Bezirk, wie jeder andere, denn um diese Uhrzeit war dort nichts los. Der Müllwagen fuhr etwa fünfzig Meter rückwärts in die Seitengasse bis an den Innenhof, wo die Müllsäcke eines mächtig heruntergekommenen Mehrfamilienhauses aufgetürmt waren. Ein Sack nach dem anderen wurde in das riesige Maul des Müllwagens geworfen. Die Männer machten Scherze, doch dann plötzlich Totenstille – im wahrsten Sinne des Wortes.
„Hey, Ali, was ist das?“, sprach Willi unsicher seinen Kollegen an.
„Das sieht nach ...“ Er bückte sich und schaute genauer hin. „Oh, mein Gott! Das ist ein Bein! Ein Bein, Willi! Was tun wir jetzt?“
„Nichts mehr. Wir rufen die Polizei.“
Willi hatte gerade einen Sack vom Stapel genommen, der drunter den Blick auf Knie und Unterschenkel eines menschlichen Beins freigegeben hatte.

Fünf Minuten später raste der Streifenwagen heran. Sabrina und Rudi stiegen aus und nahmen den Ort in Augenschein.
„Ich ... Ich habe da einen Müllsack weggenommen, und dann lag da dieses Bein“, stammelte Willi. „Dann habe ich nichts mehr angerührt.“
„Das haben Sie gut gemacht“, lobte Rudi ihn.
„Ob das eines der Mädchen von hier ist?“, spekulierte Willi weiter.
„Das werden wir herausfinden. Zunächst wird dieser Ort mal abgesperrt. Hier wird nichts mehr bewegt.“
„Klar. Ich könnte da jetzt auch nicht mehr dran gehen.“
Dann kamen die Spurensicherung und der Gerichtsmediziner.

Nach eingehender Untersuchung des Fundortes berichtete Dietrich: „Das sieht nach dem selben Täter aus.“
„Dietrich!“, ermahnte Rudi ihn. „Die Fakten zu diesem Opfer bitte.“
„Patricia Möller, dreiundzwanzig. Ich würde sagen, sie ist eines der hiesigen Mädchen mit dem Spitznamen Trixi. Hat da unten eine entsprechende Tätowierung“, sagte er und zeigte auf den Schambereich.
„Wie ist sie gestorben?“
„Muss ich das noch erklären?“ Dietrich wollte sich zurückzuhalten. „Ist auch hier das selbe Marthyrium gewesen.“
Sabrina schluckte und hielt sich die Hand vor den Mund, aus Angst, sie müsse sich übergeben.
„Zwei Tote in fünf Tagen!“, schimpfte Rudi. „Wo soll das hinführen? Wir haben nicht mal einen Verdächtigen, bei dem wir sicher sein können, dass wir richtig liegen oder zumindest ganz nah dran sind.“
„Sie hier ist in der Nacht zu Samstag getötet worden“, ergänzte Dietrich noch.

Mittags kam Wolfgang Möller zusammen mit Tamara in die Wache.
„Herr Möller, es tut mir leid, aber Ihre Tochter ist heute Morgen tot aufgefunden worden“, erklärte Rudi in gedämpftem Ton.
„Ich habe ihr immer wieder gesagt, sie soll den Scheiß lassen, sollte sich endlich ein solides Leben aufbauen“, klagte der Vater. „Aber sie wollte ja lieber das. Weiß der Teufel, warum! Irgendwann musste sie da mal an den Falschen geraten.“
„Sie wussten also, dass Ihre Tochter der Prostitution nachging?“, antwortete Sabrina ein wenig erschrocken.
„Sicher. Sie hat mir immer erzählt, wie toll das sei, jeden Tag neue Menschen kennenzulernen. Ab und zu kamen auch dieselben erneut zu ihr, waren dann wohl Stammkunden“, meinte der Mann abfällig, fügte dann hinzu: „Natürlich trauere ich um mein Kind, aber ich wusste, dass das irgendwann passieren musste.“
„Der guten Ordnung halber müssten Sie sie noch identifizieren, Herr Möller.“
„Das musst Du allein, Wolfgang. Das kann ich nicht, tut mir leid. Ich falle garantiert in Ohnmacht. Ich warte lieber hier“, bat Tamara um Nachsicht.
Der Vater schaute betroffen zu Boden. „Gehen wir.“

„Morgen, Dietrich. Das ist der Vater der jungen Frau. Was kannst Du uns sagen?“, sprach Rudi den Gerichtsmediziner an.
„Guten Morgen“, entgegnete der, wie immer gut gelaunt. „Tja, die Spuren deuten auf den selben Täter, wie beim ersten Opfer. Herr Möller, machen Sie sich bitte auf ein sehr unschönes Bild gefasst“, sagte er, als er die Abdeckung bis zum Brustansatz der Toten öffnete.
„Oh, mein Gott!“, schrie der Vater und riss die Augen auf, bevor er sich schockiert abwand. „Sie war ein so hübsches Kind. Was hat diese Bestie mit ihr getan?“
„Diese Einzelheiten möchte ich Ihnen lieber ersparen“, riet Dietrich.
„Aber das Gesicht? Kann man diese ... Diese Entstellung, die ihre Todesangst so deutlich zeigt, nicht korrigieren?“
„Die Totenstarre lässt irgendwann nach. Dann kann man Mund und Augen schließen. Die Muskulatur war im Augenblick des Todes vollkommen verkrampft. Tut mir leid. Sie ist grausam erstickt.“
Wolfgang Möller begann zu weinen. Sabrina und Rudi stützten ihn und führten ihn hinaus.

„War das jetzt eine Zufallsbekanntschaft oder, wie der Vater sagte, ein Stammkunde?“, fragte Rudi unsicher.
„Ein Stammkunde würde das nicht tun, oder?“ Da war Sabrina skeptisch.
„Das nehme ich auch an“, stimmte Julia zu.
„Vielleicht hatte sie eine spezielle Sache bisher nicht gewollt. Als sie dann erneut 'nein' sagte, ist er durchgedreht.“
„Das ist allerdings möglich, Rudi“, schloss sich die Psychologin seiner Meinung an.
„Du meinst, wir sollten die Herren, die sich dort herumtreiben, mal beobachten, ja?“
„Ich fürchte, darauf wird es hinauslaufen, Schwesterherz.“
„Dann fangen wir heute doch direkt an. Wir machen jetzt Schluss und treffen uns heute Abend um acht wieder hier, okay?“
Dann kam Dietrich herein. „Hier mein Bericht. Steht im Grunde dasselbe drin, wie im ersten. Gleiche DNA, also gleicher Täter. Und leider auch die gleiche Brutalität.“
„Das ist wirklich widerlich“, stammelte Sabrina und verzog angewidert das Gesicht. „Sind das jetzt nur perverse Männerfantasien oder versteht der Kerl einfach kein 'Stopp'?“
„Er brauchte irgendeinen Impuls, der ihn zum Tier werden ließ, zum Mörder“, erklärte Julia. „Um das herauszufinden, müssen wir ihm gezielte Fragen stellen, seine Reaktion abwarten und analysieren.“
„Das ist Dein Job, meine Liebe“, meinte Sabrina. „Aber wen sollen wir mit solchen Fragen konfrontieren?“
„Eindeutige Verdächtige haben wir bisher nicht, denke ich. Das sind alles nur vage Hinweise, die keine direkte Schuldzuweisung erlauben. Wir werden die nächsten Tage abends im Rotlichtmilieu beobachten müssen. Wer einen solchen Trieb hat, wird dort nach sicherer Beute suchen, hoffe ich“, antwortete Rudi, war aber wenig begeistert von dieser Vorstellung.
„Muss ich Euch begleiten?“, fürchtete Julia.
„Um Verhaltensmuster zu analysieren wäre eine direkte Aussage von Dir sicher hilfreich. Wenn Du magst. Deine Entscheidung“, sagte Rudi.
„Ich überlege es mir. Um acht wollt Ihr los, richtig?“
„Um acht hier in der Wache.“


3. Der Schlüssel


Drei Abende vergingen ohne besondere Auffälligkeiten, doch am Donnerstag Abend fiel den Beamten, die in Zivil unterwegs waren, erneut ein Wagen auf, der recht langsam die Straße entlang fuhr, dann anhielt. Dann kam ein recht großer Mann in Nadelstreifen und mit Hut und Sonnenbrille an die Fahrerseite, reichte einen Umschlag hinein und bekam einen anderen zurück.
„Drogengeschäfte?“, vermutete Rudi.
„Den Wagen haben wir auch vorgestern hier gesehen. Seht, da steigt wieder diese Frau aus. Das sieht doch nach Zuhälterei aus“, glaubte Sabrina.
„Den werden wir mal überprüfen“, beschloss Rudi.
Er wartete, bis der Wagen wieder anfuhr und folgte ihm. An der Kreuzung am Ende der Straße machte er sich bemerkbar, indem er das Blaulicht auf das Dach setzte und einschaltete.

Oh, scheiße, dachte Paul, die Bullen. Er hielt an. Sabrina und Rudi kamen an die Fahrerseite und sprachen ihn an.
„Was gibt es?“, reagierte Paul unwirsch.
„So schon mal gar nicht“, gab Sabrina streng zurück. Da hatte er einen empfindlichen Nerv getroffen. „Aussteigen!“
Paul war ein sehr großer Mann und von kräftiger Statur. Sein Blick verriet große Verärgerung.
„Wie Sie sich sicher denken können, halten wir Sie nicht ohne Grund an“, spielte Rudi ihm den Ball zu.
„Ihr habt mich beobachtet, ja? Ok, scheiße. Aber das ist nur für den Hausgebrauch. Ehrlich.“
„Dann zeigen Sie mal her, Herr ... Herr Krämer.“ Das hatte Rudi dann in den Papieren gelesen, die Paul ihm ausgehändigt hatte.
„Und wer war die Frau, die da eben ausgestiegen ist?“
„Na, eine Nutte, was sonst?“, blaffte Paul.
„Deren Dienste Sie vorgestern ebenfalls in Anspruch genommen hatten, ja?“
„Sicher. Die fackelt nicht lange, da wird nicht diskutiert, einfach machen, so muss es sein.“
„Und wenn sie doch mal 'nein' zu etwas sagt?“, stellte Sabrina die entscheidende Frage.
„Das gibt es nicht. Der Freier zahlt, also kriegt er, was er will. Ganz einfach.“
„Sagt Ihnen eine gewisse Trixi etwas?“
„Nee, nie gehört.“ Die Antwort kam viel zu schnell.
„War nur so eine Frage, Herr Krämer. Gute Fahrt noch“, beendete Rudi das Gespräch abrupt.

„Der kannte sie, jede Wette.“ Da war Sabrina sicher. „Julia, was meinst Du?“
„Das denke ich auch. Er wirkte angreifbar.“
„Oh, sieh mal. Der Nadelstreifen gönnt sich auch was. Dann kassieren wir uns den auch gleich mal. Dann haben wir beide Seiten des Geschäfts“, meinte Rudi.
Rudi fuhr heran und blieb unmittelbar neben dem Mann und der Dame, die er beschwatzen wollte, stehen. „Guten Abend, der Herr.“
Der Angesprochene drehte sich um, wollte gerade loslegen, sich zu beklagen, da erschrak er. Doch dann besann er sich trotzdem auf seine Absichten. „Hey, was ist? Die Puppe geht mit mir, klar?“
Doch als Rudi ihm die Polizeimarke unter die Nase hielt, gab er auf, nahm die Sonnenbrille ab und sagte: „Ja! Guten Abend, Herr Kommissar. Was kann ich für Sie tun?“
„Der Herr Krohn“, grüßte auch Sabrina nun. „Wir müssten Ihnen ein paar unangenehme Fragen stellen“, sagte sie und grinste.
„Ist nur Kleinkram, echt. Der Paul braucht das. Und seine Frau auch“, offenbarte er.
„Die beiden in dem Wagen, ja?“, hakte Sabrina nach.
„Genau die.“
Rudi war schockiert. „Der schickt seine Frau hierher?“
„Die haben sonst nix. Von irgendwas müssen sie ja leben.“
„Kennen Sie zufällig eine Frau namens Trixi?“
„Eine von diesen Püppchen hier heißt Trixi. Aber heute scheint sie nicht da zu sein.“
„Wann haben Sie die Dame zuletzt gesehen? Sie scheinen sich hier ja auszukennen.“
„Oh, Herr Kommissar, da muss ich nachdenken“, sagte Krohn und legte eine kurze Pause ein. „Ich glaube, das war Samstag, ja, Samstag Abend.“
„Vielen Dank für Ihre Mithilfe.“

„Und? Julia, was sagst Du heute zu ihm?“
„Ganz ehrlich, Sabrina? Das ist ein Arschloch hoch zehn. Das ist auch ein Typ, der ein 'nein' nicht gelten lassen wird. Und er lügt. Samstag Abend war diese Frau schon tot.“
„Stimmt! Die Frage ist, ob diese spezielle Frage überhaupt gestellt wird, wenn die Tötungsabsicht schon vorher klar wäre.“
„Ich schätze, die Absicht nicht unbedingt. Aber der Reflex auf eine Verweigerung löste sie vielleicht aus. Dazu sind intensivere Gespräche nötig. So ein paar Wortfetzen taugen da nicht viel“, bedauerte Julia.

Zwei Stunden hielten sie sich noch im Rotlichtbezirk auf, dann fuhren sie zurück zur Wache. Da war es kurz nach elf und demzufolge auch schon dunkel.
„Wie kommst Du nach Hause, Julia?“
„Ach, weißt Du, Sabrina. Ich habe es nicht weit. Ich gehe zu Fuß. Bis morgen dann“, verabschiedete sich die junge Frau.
„War nur ein Angebot“, meinte die Freundin.
„Alles gut. Tschüss.“

Julia war froh, endlich nach Hause zu kommen. Sie freute sich auf ein angenehmes Bad. Ihr Weg führte sie am Stadtpark entlang. Dort sah sie drei Jugendliche, die auf einer Parkbank saßen. Sie beschleunigte ihren Schritt. Als sie an ihnen vorbei war, folgten sie ihr. Einer rannte plötzlich los und an ihr vorbei, drehte sich um und sprach sie an. Er trug eine Augenmaske.
„Na, Süße? So spät noch allein unterwegs.“
Julia versuchte ruhig zu bleiben, ihn nicht mit unbedachten Äußerungen zu provozieren. Doch dann kamen die anderen beiden von hinten und packten sie an den Armen.
„Hey, was soll das?“, rief sie und geriet doch in Panik. „Lasst mich los! Hilfe! Hilfe!!“
Die jungen Männer drängten sie in den Park.
„Dein hübsches Kleidchen ist kein Hindernis, Schätzchen“, tönte der Erste. „Komm einfach mit und halt ganz still. Dann tun wir Dir auch nicht weh.“
Die zwei Gehilfen zerrten Julia zu Boden. Da schrie sie, so laut sie konnte: „Nein!!! Hilfe!!! Nein!!!“

Dietmar war die ganze Zeit in der Nähe, hatte Julia nur von der anderen Straßenseite kurz aus den Augen verloren, weil dort ein Sattelschlepper geparkt war, der ihm die Sicht verdeckt hatte. Und nun hörte er Julias Hilferufe. Er orientierte sich, sah dann die Tumulte neben den ersten Büschen des Stadtparks und rannte los.
Der Angreifer machte sich an ihr zu schaffen, wollte gerade zur Tat schreiten. Julia war starr vor Angst, bekam keinen Ton mehr heraus. Da kam Dietmar heran und verpasste dem Kerl einen Tritt in die Seite, dass er zu Boden stürzte. Die beiden anderen waren kurz irritiert, sodass sich Julia losreißen konnte und auf allen Vieren ein Stück fortkam.
„Lauf!“, rief Dietmar. „So lauf doch weg! Ich mache die drei fertig. Lauf!“, forderte er von Julia.
Die junge Frau wusste nicht, was sie tun sollte. Sie sah, wie Dietmar den Angreifer, der beinahe Schande über sie gebracht hätte, verprügelte. Doch dann kamen die anderen beiden von hinten an ihn heran.
„Vorsicht!“, rief Julia geistesgegenwärtig.
Dietmar sprang auf und drehte sich mit ausgestreckten Armen. Damit schlug er die beiden zu Boden. Und die ergriffen dann die Flucht. Auch der Dritte wollte flüchten, doch Dietmar packte ihn und rang ihn zu Boden, setzte sich auf seinen Brustkorb, dass der nach Luft schnappte, und riss ihm die Augenmaske herunter. Oh, das glaube ich nicht, dachte Dietmar. „Albert! Du Drecksau!“
Julia holte ihr Telefon hervor und rief Sabrina an, bat sie, mit einem Wagen zu ihr zu kommen.
Unsicher näherte sich Julia ihrem Retter. „Ich ... Ich weiß nicht, was ich sagen soll, junger Mann. Ich bin dankbar für Ihre Hilfe“, sagte sie mit holpriger Stimme.
„Für eine so wunderschöne Frau würde ich alles tun“, antwortete Dietmar und löste damit große Verwunderung aus.
„Das ... Das ist aber ...“, stotterte Julia. „Warum sagen Sie so etwas?“
„Wenn es doch so ist?“, blieb er seiner Linie treu.
Julia fühlte sich geschmeichelt, aber auch verunsichert. „Bitte, Sie bringen mich tatsächlich in Verlegenheit.“ Erst da erkannte sie in ihm einen der Schüler.
„Ich gestehe, ich habe Dich in den letzten paar Tagen immer wieder gesehen. Ich habe das auch getan, weil ich Dich liebe, Julia“, platzte es aus Dietmar heraus.
„Oh! Oh, nein, junger Mann. Das geht zu weit!“
„Sag das bitte nicht. Ich möchte Dich näher kennenlernen.“
„Tut mir leid, aber ... Nein!“, machte sie deutlich klar.
Dietmar wurde unruhig. Julia, dachte er, ich will Dich doch lieben, bitte sag nicht 'nein', das darfst Du nicht. Er spürte, dass er ein Ventil brauchte, das ihn wieder beruhigen würde. Er schaute Julia an, die ihn etwas grimmig anschaute und sich dann abwandte. Dann schaute er Albert an. Du elender Bastard, dachte er, Du wolltest meiner Julia etwas antun!
Da kam Sabrina heran gefahren. Und plötzlich sprang Dietmar auf und sofort wieder auf Alberts Brustkorb nieder. Und dann noch einmal, und noch einmal. Albert röchelte, bekam kein Wort heraus.
„Hey!“, schrie Sabrina Dietmar an, als sie ausgestiegen war. „Runter!“
„Wehe, er versucht zu fliehen! Dann ist er tot!“, schrie Dietmar in seiner Wut.
„Hey, hey, ganz ruhig, junger Mann. Sie kennen mich, nicht wahr?“, sprach sie ihn behutsam an, denn Sabrina hatte ihn erkannt, schaute auch zu dem am Boden liegenden Mann und schmunzelte. „Ach, der Herr Krohn? Ist ja spannend.“
In weiser Voraussicht hatte sie, als sie losgefahren war, sofort einen zweiten Wagen zum Tatort beordert, der jetzt ankam. Zwei Kollegen sprangen aus dem Wagen und schauten die Kollegin fragend an.
„Julia? Du bist okay?“
„Ja, Sabrina. Dieser junge Mann hat mich vor einer Vergewaltigung bewahrt. Es waren ursprünglich drei. Zwei sind abgehauen. Du kennst diesen Kerl?“, meinte sie verächtlich in Richtung Albert Krohn.
„Kennen wäre zu viel gesagt. Er ist unser Hauptverdächtiger. Jetzt, durch diese feine Aktion, erst recht.“
Albert schaute Sabrina entgeistert an. Hauptverdächtiger? Wofür? Er hatte keine Ahnung. Er wurde von den beiden Beamten des zweiten Wagens abgeführt.

„Darf ich fragen, wie es zu der Gelegenheit kam, meine Kollegin vor den Vorhaben dieser bösen Buben zu bewahren?“, sprach Sabrina Dietmar während der Fahrt an.
„Ich kam zufällig vorbei. Ich war auf dem Heimweg“, erklärte Dietmar.
„Sie haben mir eben aber etwas anderes gesagt, junger Mann“, widersprach Julia jedoch.
Sabrina horchte auf. „Das ist ja sehr interessant. Was denn?“
„Verdammt! Ja, ich ... Ich war ihr gefolgt, weil ich sie ansprechen wollte“, gab Dietmar zu. „Aber ...“
„Warum?“, machte es Sabrina einfach.
„Ich liebe Dich, Julia!“, rief der junge Mann. „Es ist so. Ist das verboten, eine Frau zu lieben?“
„Ich habe Ihnen nicht erlaubt, mich beim Vornamen zu nennen. Das möchte ich mir verbitten. Ich kenne Sie nicht. Also schlagen Sie sich das gleich aus dem Kopf“, entgegnete Julia wütend.
„Ganz ruhig, Julia“, sagte Sabrina sanft.
Doch Julia schrie in heller Panik: „Nein!!!“
Dietmar wurde plötzlich wieder unruhig, das Blut schoss ihm ins Gesicht, er wurde puterrot. Sabrina bemerkte es sehr schnell, als sie in den Rückspiegel schaute. „Alles okay mit Ihnen?“
„Das ist ein ganz böses Wort!“
„Welches Wort?“, hakte Sabrina nach.
„Das Wort 'nein' meint er sicher“, vermutete Julia und schaute die Freundin besorgt an.
Sabrina hatte sofort verstanden. Sie stellte keine weiteren Fragen.

„Ihr dürft mich nicht einfach einsperren!“, klagte Albert. „Ich will mit meinem Vater sprechen!“
Der war jedoch schon da, denn Sabrina hatte Rudi gebeten, ihn auf die Wache zu bestellen. „Hast Du Dich bei den Nutten wieder zu blöd angestellt?“
„Geht's noch?“, schrie Sabrina ihn an. „Was bilden Sie sich ein? Ihr Sohn hat versucht, meine Kollegin zu vergewaltigen!“
„Ach, Du scheiße“, gab er kleinlaut zurück.
„Wer waren die anderen?“, wollte Rudi von Albert wissen.
Albert schwieg.
„Dafür gehst Du in den Knast, Junge!“, schrie sein Vater. „Du warst also nicht allein. Dann solltest Du die Namen nennen!“
„Heute Nacht bleibt er auf jeden Fall hier“, beschloss Rudi. „Bis morgen kann er sich überlegen, was er uns sagen will.“
Dann bemerkte Vater Krohn, dass sein Sohn eine deutliche Kratzwunde an der Wange hatte. „Sie hat ihn verletzt“, sagte er.
„Machen Sie jetzt Witze? Sie hat sich gewehrt!“, fuhr Sabrina ihn rüde an, ging dann zu Julia und ergriff ihre Hände, um nach Spuren zu suchen.
„Gehen Sie“, bat Rudi den Vater.
Torsten Krohn verließ missmutig die Wache, Sohn Albert wurde in die Arrestzelle geführt.

„Du wäschst Dir nicht die Hände. Dietrich soll gucken, ob er etwas unter Deinen Fingernägeln findet“, meinte Sabrina und sprach damit aus, was die anderen offenbar ebenfalls dachten, denn sie nickten.
Rudi griff sofort zum Telefon.

Dietrich begutachtete die winzigen Hautpartikel und ein wenig daran klebendes Blut und kam dann zu dem Schluss: „Er war es nicht. Damit vermutlich auch sein Vater nicht, falls Ihr den ebenfalls auf der Liste hattet. Habt Ihr noch andere Verdächtige?“ Dietrich lachte, wie es so seine Art war.
„Das erhärtet den Verdacht, der sich heute offenbart hat“, eröffnete Julia. „Dieser junge Mann hatte mich beobachtet. Vermutlich bin ich nur deshalb dem Unheil entgangen. Aber an seinen Reaktionen glaube ich zu erkennen, dass er es ebenso hätte tun wollen. Allerdings mit deutlich drastischerem Ende.“
„Ist das Dein Ernst, Julia?“, fragte Rudi ungläubig.
„Ich wäre jetzt vermutlich tot, hätte ich 'nein' gesagt. Ja, das glaube ich.“
„Wir brauchen eine DNA-Probe von diesem Mann. Er sitzt drüben im anderen Raum und gibt seine Aussage zu Protokoll. Lasst uns rüber gehen“, bat Rudi.

Die zwei Beamten, die Dietmars Aussage aufgenommen hatten, waren gerade fertig geworden. Rudi warf einen Blick auf das Protokoll und nahm es zur Hand. Dort las er den Namen Dietmar Krämer. Krämer, dachte Rudi nach, wo habe ich den Namen schon mal aufgenommen? Er schaute Dietmar an.
Der junge Mann hatte einige Angaben zur Motivation dieser Nachstellungen gemacht, um seine Anwesenheit im rechten Augenblick begründen zu können. Die Schuld an seinem, wie er es nannte, schlechten Benehmen, wies er seinem Vater zu. Er formulierte klaren Hass gegen seinen Erzeuger, und er fühlte sich hilflos, was seine Mutter betraf.
Julia trat an Rudi heran und warf ebenfalls einen Blick auf das Protokoll. „Ich möchte mit ihm reden. Allein.“
„Bist Du sicher, Julia?“
„Ja, Sabrina. Lasst mich allein mit ihm. Bitte.“
Dietmar schaute ebenso erstaunt, wie alle anderen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Soll wirklich niemand dabei bleiben?“, äußerte auch Rudi seine Sorge.
„Nein, verdammt!“, rief Julia und schaute aus dem Augenwinkel zu Dietmar.
Er zuckte unruhig. Die Anspannung war ihm anzusehen.
Das ist der Schlüssel, dachte Julia zufrieden.

„Julia, warum tust Du das?“, eröffnete Dietmar von sich aus das Gespräch.
Sie schaute ihn grimmig an. „Ich bin die Frau Bremer, Herr Krämer. Ich bitte darum, ja?“
„Entschuldige, Entschuldigung. Ich werde es versuchen. Warum?“
„Wie Sie wissen, bin ich Psychologin. Aus jedem Ihrer Worte werde ich die entsprechenden Schlüsse ziehen können. Warum stellen Sie mir nach, Herr Krämer?“
„Ich liebe Dich!“, platzte es unerwartet laut aus ihm heraus.
„Das kann ich mir nicht vorstellen“, antwortete Julia besonnen.
Ebenso unerwartet begann Dietmar nun zu weinen. „Wenn ich es doch sage. Ich liebe Dich, Julia“, schluchzte er.
„Ramona hast Du auch geliebt, nicht wahr?“
Erschrocken blickte er auf und war überrascht, dass sie jetzt plötzlich 'Du' sagte. Oh, Ramona, ja, dachte er, die habe ich geliebt, aber warum fragst Du mich das? Das irritierte ihn.
Und Julia erkannte in seinen Augen, die sie nun fixierte, dass ihm diese Frage unangenehm war.
„Aber Ramona ist tot“, sagte er traurig.
„Ramona ist tot“, wiederholte sie bewusst.
„Ich möchte Dich lieben, Julia. Du bist so wunderschön.“
„Das geht nicht. Ich möchte es nicht, hörst Du?“
„Warum?“
„Nein, Dietmar. Nein!“, sagte sie sehr bestimmt.
Sofort regte sich der Unmut des jungen Mannes. Er wurde unruhig und zornig, ohne es jedoch gleich in Worte zu fassen. Julia erkannte diese Reaktion auch diesmal. „Es ist alles gut, Dietmar“, redete sie beruhigend auf ihn ein. „Ich gehe jetzt zu meinen Kollegen. Du bleibst bitte hier sitzen, hörst Du? Sitzen bleiben. Bitte“, fügte sie ganz sanft hinzu.

Neugierig fragte Sabrina: „Und?“
„Ich bin noch nicht sicher, aber die Möglichkeit besteht. Ihr habt gehört, was gesagt wurde, ja? Und Ihr habt gesehen, wir er reagierte.“
„Sicher. Aber wir können ihn nicht festhalten und einsperren, ohne einen begründeten Verdacht oder stichhaltige Indizien zu haben. Er hat Dir – möglicherweise – das Leben gerettet“, führte Rudi an. „Dein Psychogramm, das Du uns von ihm erstellen wirst, kann auch nichts ändern, wenn es keinen Beweis gibt.“
„Das weiß ich. Deshalb muss ich ihn wohl provozieren. Ich muss die richtigen – für ihn die absolut falschen – Fragen stellen. Irgendwann kippt er um. Vorausgesetzt, er erkennt seine Schuld.“
„Mit welcher Begründung wollen wir ihn jetzt weiter befragen?“, warf Sabrina ein.
„Lass das meine Sorge sein. Ich sage ihm, das heute Erlebte sei auch für ihn ein traumatisches Erlebnis gewesen. Schließlich ist er in mich verliebt und sah mich bedroht“, erklärte Julia.
„Na, wenn Du meinst.“ Sabrina war skeptisch, wollte aber Julias Fähigkeiten nicht infrage stellen.
Die Psychologin ging wieder zu Dietmar.

„Das war sicher ein Schock für Dich, als Du die drei Kerle da gesehen hast, oder?“
„Ich hätte sie kaputt geschlagen, wenn sie Dir etwas angetan hätten!“, rief Dietmar wütend.
„Du neigst zu Gewaltausbrüchen, ja? Was war denn mit Ramona? Wie habt Ihr Euch verstanden?“
Er ging ohne nachzudenken darauf ein. „Oh, Ramona. Sie war so wundervoll. Sie hat mit mir geredet, trotz meiner Narben.“
„Das ist das Stichwort. Die Narben. Woher ...“
Dietmar unterbrach sie hart. „Das hat mir alles mein Vater angetan! Er hat mich geschlagen! Er ist an allem schuld! Ich hasse ihn! Er ist an allem schuld! Er allein!“
Sabrina und Rudi im Vorraum bekamen große Augen.
„Was ist Dein Vater schuld, Dietmar?“
„Dass mich kein Mädchen haben will. Welches Mädchen will schon ein Ungeheuer zum Freund?“, jammerte er und begann wieder zu weinen.
„Ramona, obwohl sie nett zu Dir war, wollte Dich auch nicht?“
Dietmar schaute Julia traurig an. „Nein. Sie wollte es auch nicht. Aber ...“
„Ja? Was 'aber'? Sag es. Bitte.“
„Sie hat 'nein' gesagt. Das muss reichen“, brummelte Dietmar und zog sich zurück.
„Trixi hatte auch 'nein' gesagt, nicht wahr?“
„Trixi? Wer ... Ach, die Nutte, ja?“, sagte er mit einem bösen Grinsen. „Eine Nutte hat nicht 'nein' zu sagen!“
„Das ist aber nicht nett, Dietmar. Woher kennst Du sie?“
Dietmar wich aus. „Mein Vater hat es mir verboten. Er hat mir immer alles verboten. Immer hat er 'nein' gesagt!“
„Das beantwortet nicht meine Frage“, bohrte Julia weiter.
„Trixi ist tot, hat mein Vater gesagt“, sagte er kalt.
„Trixi ist genauso umgebracht worden, wie Ramona.“
Entsetzt schaute er sie an. Nein, oh, nein, das habe ich nicht gewollt, dachte er. Doch dann schrie er plötzlich los: „Mein Vater hat meine Seele zerstört! Er ist an allem schuld! Er hat mich kaputt gemacht! Ich habe das alles nicht gewollt!“
„Dietmar, sag mir bitte die Wahrheit. Du hast Ramona getötet, und Du hast auch Trixi getötet. Ist es so?“
„Nein!!! Nein!!!“, schrie er immer wieder und weinte erneut. „Immer sagen alle 'nein'!“ Dann sackte er völlig zusammen und sah Julia mit flehenden Augen an. „Ich wollte das alles nicht“, flüsterte er.
Julia wusste, dass sein Vater für diese unkontrollierten Ausbrüche verantwortlich sein musste. Und sie erkannte, dass Dietmar, da die Sache nun auf dem Tisch war, für sich keinen Ausweg mehr sah. Vielleicht fühlte er sich sogar befreit.
Dietmar ließ sich ohne Gegenwehr abführen. Ein DNA-Test bestätigte die grausame Wahrheit.
 
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jon

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Hallo Ralf,

du erwähnst in deinem Profil, dass du est seit Kurzem schreibst. Das erklärt vieles.

Ich habe zum Beispiel folgende Probleme mit dem Text: Emotionen werden eher angesagt als gezeigt, sie werden zu dick aufgetragen und sind z. T. nicht nachvollziehbar, die Dialoge wirken nicht glaubhaft … und vieles klingt ganz typisch anfängerhaft (z. B. der Umgang mit den Inquit-Formeln).

wikipedia:
Die Inquit-Formel (von lateinisch inquit, „er sagt“ bzw. „er sagte“) ist eine formelhafte Redeeinleitung. Wenn ein Erzähler die Rede von Figuren berichtet, markiert er diese in vielen Fällen mit einer Inquit-Formel.
Inquit-Formeln bestehen im Allgemeinen aus einem Nomen oder Pronomen, das den Sprecher angibt („mein Vater“, „er“), und einem Verb des Sagens (verbum dicendi). Meist stehen sie in der dritten Person Einzahl, es gibt jedoch, etwa in der Ich-Erzählung, auch andere Formen. Die Verben können variieren (beispielsweise „er sagte“, „gab er zurück“, „versetzte er“) oder formelhaft wiederholt werden.

Es gibt auch „formale" Fehler und Schwächen, wie Zeitformfehler, falsche Leerzeilen, das fälschlicherweise groß geschriebene „du" etc. Die sind aber überschaubar und wirklich nicht das Problem an dem Text.

Übrigens: Das Identifizieren eines Toten, indem jemand den Leichnam ansieht, gehört nicht zur normalen Praxis. Das ist eine Erfindung der Filmer, um extra Emotionen herauszukitzeln. Wenn anders geklärt werden kann, um wen es sich handelt, mutet man das niemandem zu.
Bei Facebook gibt des die Gruppe "recherche-pool für autoren", dort ist ein Fachmann in Sachen Kriminalistik & Ermittlungen zu Gange. Von dem weiß ich das mit der "Leichenschau".

Wenn es dir recht ist, gehe ich in Sachen Anfänger-Probleme mal noch ins Detail, sobald ich Zeit habe.

LG von jon
 

jon

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Hier wie versprochen ein paar Details:


Es war ein grauer Morgen an diesem ersten Mai. Dabei war der Vorabend ganz schön gewesen – wäre da nicht dieses grausame Verbrechen geschehen.
Der Vorabend hat kaum etwas mit dem Wetter am Morgen zu tun. (Meteorologen sehen das zwar anders, aber im Alltag kann auf einen schönen Abend jeder beliebige Morgen folgen.) Wetter (grauer Morgen) hat ebenfalls nichts mit Verbrechen (oder Nicht-Verbrechen) zu tun. Außerdem ist erzählerisch das Hin und Her von "grau" zu "schön" zu "Verbrechen" nicht günstig - der Leser wird nicht auf eine Stimmung "eingeschworen".
Tipp: Verbinde Stimmung und Protagonisten gleich am Anfang - so kannst du mit der Kulisse auch gleich eine emotionale Verbindung zu den Helden erzeugen.
Spontan fällt mir sowas ein:
Es war ein grauer Morgen an diesem ersten Mai. Das Wasser schwappte träge auf den Sandstrand. Sabrina Nolte zog die Jacke fester um ihre Schultern. Es war nicht nur das Wetter, das sie frösteln ließ. Sie blickte auf die tote Frau zu ihren Füßen.

Oberkommissarin Sabrina Nolte und Oberkommissar Rudi Weber, die übrigens Geschwister waren, wurden von einem jungen Mann an den Strand gerufen. Er hatte eine tote Frau gefunden.
Zeitfehler: waren gerufen worden (sie sind ja schon am Strand)
Konstruktionen mit "übrigens" sind bei der hier vorliegenden Erzählhaltung (ich nenne sie gern "Kamera") fehl am Platz. Sowas kann man machen, wenn der Erzähler als Person spürbar wird oder sich sogar direkt als Erzähler zu erkennen gibt; dann kann man so eine Info, die dem Erzähler "nachträglich einfällt" mit "übrigens" nachreichen.
Das mit den Geschwistern ist sehr "kahl" angesagt, das kann man geschmeidiger machen.
Sie blickte auf die tote Frau zu ihren Füßen.
"Kein schöner Anblick", sagte ihr Bruder. Wie Sabrina war auch Rudi Weber Oberkommissar und einiges gewöhnt. Das hier ging aber auch ihm an die Nieren.
(Übrigens: Checken, ob der Titel stimmt! Checken, ob zwei "Oberkommissare" überhaupt am selben Fall arbeiten.)

„Ist wohl bei Ebbe passiert, die Flut hat die Spuren schon wieder verwischt“, stellte Sabrina fest.
Die Leute von der Spurensicherung konnten dies nur bestätigen. „Alles weg“, sagten sie unisono.
Sabrina agiert hier professionell-kühl.
Die SpuSi scheint nur begrenzt kompetent zu sein: Es gibt immer Spuren, selbst wenn die Leiche nicht nur von der Flut überspült worden, sondern in einer Industrie-Waschmaschine gereinigt worden wäre.

„Dann in die Gerichtsmedizin mit dem armen Ding“, presste Rudi deprimiert heraus.
Das ist zu fett aufgetragen und kommt zu unvermittelt: Warum presst er? Warum ist er deprimiert?

Die Flut war schon längst wieder auf dem Rückzug. Das Verbrechen musste also schon am späten Abend geschehen sein.
Der Satz hängt unharmonisch an dieser Stelle, wie nachgereicht.

Es war ein grauer Morgen an diesem ersten Mai. Das Wasser schwappte träge auf den Sandstrand. Sabrina Nolte zog die Jacke fester um ihre Schultern. Es war nicht nur das Wetter, das sie frösteln ließ. Sie blickte auf die tote Frau zu ihren Füßen.
"Kein schöner Anblick", sagte ihr Bruder. Wie Sabrina war auch Rudi Weber Oberkommissar und einiges gewöhnt. Das hier ging aber auch ihm an die Nieren.
"Ist wohl bei Ebbe passiert", stellte Sabrina fest. "Inzwischen ist eine Flut drübergegangen, da dürfte nicht mehr viel zu finden sein." Fragend sah sie zu dem Kollegen von der Spurensicherung.
Der nickte. "Nicht viel. Aber ich schau mich nochmal um. Und vielleicht finden sich an der Leiche Spuren."
Sabrina blickte auf Meer hinaus, als prüfe sie den Wasserstand. "Wann war die letzte Ebbe? Vor 15 oder 16 Stunden?"
"Ungefähr", bestätigte Rudi. "Wir wissen aber nicht, ob der Mord am vor oder nach dem Tiefststand stattfand."

Den jungen Mann nahmen sie mit auf die Wache, um seine Aussage aufzunehmen.
Wow! Das ging jetzt schnell. Du lässt dem Leser keine Zeit, sich in die Szene mit der Leiche einzufühlen, niemand der Anwesenden bekommt die Chance, etwas zu tun. Gefühle oder Stimmung findet nicht statt. Und: Wenn du so überhaupt nichts über die Leiche oder die Auffindesituation sagen willst, dann schreib nicht ausgerechnet eine Szene mit der Leiche in Auffindesituatuion.

„Ich traf sie auf der Tanzveranstaltung dort im Strandzelt. Wir hatten uns sehr nett unterhalten. Dann war sie auf einmal fort. Und sie kam auch nicht zurück“, sagte er schluchzend. „Sie war so wunderbar.“
Und "Wusch!" sind sie auch schon in der Wache, haben sich die Jacken ausgezogen, Kaffee geholt, Tonbandgerät oder so geholt, sich gesetzt und den Zeugen gefragt. (PS: Warum fragen sie erst jetzt?? Warum nicht schon am Strand?)
Unglaubhafte Rede. Das ist irgendwo rausgelöst. Was findet wirklich statt? Sowas vermutlich:
"Nehmen Sie Platz", bat Rudi und rückte einen Stuhl neben seinen Schreibtisch.
Der junge Mann wirkte noch immer bleich. Er setzte sich.
"Geht es Ihnen gut?", erkundigte sich Sabrina. "Wollen Sie etwas zu trinken, Herr …?"
"… König. Julius König. Nein danke. Es ist nur …" Er stockte.
"Was nur?"
"Ich kannte sie."
"Ach!", entfuhr es Rudi. "Gut?"
"Nein." Julius Becker schniefte. "Eigentlich gar nicht. Also ich habe sie gestern beim Tanz in Strandzelt getroffen. Wir haben uns unterhalten und …"
"Und?"
"Ich fand sie nett. Toll irgendwie. Heiß, wenn Sie wissen, was ich meine."
Und: Wieso schluchzt er plötzlich - die ganze Zeit (er war ja offenbar in der Nähe) hat er keinen Ton von sich gegeben und ist durch keine Regung aufgefallen. Nichtmal auf dem Weg zur Wache.

Tipp: Nimm dir viel mehr Zeit, in die Szene einzutauchen! Alternative: Schreibe viel weniger szenisch, sondern mehr erzählend.

Es gibt zwei Pole: Szene und Erzählen. Meist kommen beide Formen zum Einsatz, in individueller Wichtung. Eine Szene bildet gewissermaßen das ab, was passiert, was im Film zu sehen ist. Beim Erzählen wird … nunja: eben erzählt, was passiert bzw passiert ist.
Die Szene von eben (wie sich Becker setzt und das "Verhör" beginnt) würde erzählt vielleicht so aussehen:
Rudi bat den jungen Mann, Platz zu nehmen. Sabrina bot ihm etwas zu trinken an, er lehnte ab. Julius Becker - so der Name des jungen Mannes - begann stockend davon zu erzählen, wie er das späteres Opfer kennengelernt hatte. Er wirkt ehrlich betroffen.


So viel für den Moment. Hilft dir das?


LG von jon
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo jon,
ich bin für jeden Hinweis dankbar. Deine Beispiele haben mir schon sehr gut aufgezeigt, woran ich noch arbeiten muss. Da das eine meiner ersten komplexeren Geschichten ist, habe ich da bei den Inquit-Formeln schon korrigiert (diesen Tipp habe ich schon von anderer Seite erhalten), habe aber wohl nicht bei allen erkannt, dass es besser geht.
Ich weiß, ich muss noch einige Dinge einfach verinnerlichen, um sie in Zukunft besser machen zu können. Und mit jedem Hinweis lerne ich dazu. Darum sage ich gerne Danke.
Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 

jon

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Ich mach mal weiter - nicht so detailliert wie oben, sondern mit Konzentration auf die wichtigsten Stolperstellen

„Ich traf sie auf der Tanzveranstaltung dort im Strandzelt. Wir hatten uns sehr nett unterhalten. Dann war sie auf einmal fort. Und sie kam auch nicht zurück“, sagte er schluchzend. „Sie war so wunderbar.“
Hatte ich oben schon mal erwähnt: Dieser Gefühlsausbruch kommt zu plötzlich. Und mir erscheint er auch zu heftig: So nett Ramona auch war - für diese Erschütterung standen sie und der junge Mann sich bei Weitem nicht nahe genug.
An diesem Beispiel mal, warum dieses Rede nicht "echt" klingt: Welcher junge Mann sagt "Tanzveranstaltung"? Und um jemanden "so wunderbar" zu finden, muss man sich wohl auch besser kennengelernt haben.

„Ja, sicher. Aber ich habe sie nicht mehr gefunden. Ich war bitter enttäuscht.“
Ein junger Mann, der "bitte enttäuscht" sagt? Unwahrscheinlich. Das würde funktionieren, wenn du ihn als "Kauz" zeigst, also jemanden, der halt nicht der gewohnte junge Mann ist, sondern der ein bisschen anders wirkt. Verstehst du, was ich meine?

„Ok, vielen Dank, Herr König“, sagte Sabrina bedrückt. „Das Leben ist manchmal grausam und ungerecht. Geht es denn so, oder soll Sie jemand heimfahren?“
Das passt zwar vorn, aber hinten gar nicht. Erstens: Es ist nicht plausibel, dass Sabrina bedrückt sein sollte. Der Satz mit dem grausamen Leben passt weder zu dem, was König vorher sagte, noch erklärt er sich aus Sabrinas Situation. Und dass es dem flüchtigen Bekannte der Toten so extrem schlecht gehen könnte, dass Sabrina sich um sein Heimkommen sorgt, ist auch nicht nachvollziehbar.

„Das geht schon so. Ich muss den Kopf wieder frei bekommen. Danke.“ Seine Stimme klang traurig.
Den Kopf frei bekommen? Wovon? Und: Zu dick und zu plakativ das mit dem "traurig".

Dann bemerkte Sabrina das Ehepaar an der Information. Sie gab Rudi ein Zeichen. Auch er schaute hinüber. Dann nickte er und presste die Lippen zusammen. Das sind wohl die Eltern, dachte er, ich hasse diese Gespräche.
Wieso ist die "Information" räumlich so gelegen, dass sie vom Büro der Kriminalisten aus einsehbar ist?
Woher weiß sie, dass es ein Ehepaar ist?
Warum gibt sie Rudi ein Zeichen? Wenn der Beamte am Schalter denkt, die beiden wären zuständig, wird er das Paar schon zu ihnen schicken.
Warum denkt Rudi, das wären die Eltern?
Die wörtlichen Gedanken passen nicht zur bisherigen Erzählperspektive und -haltung. Bis hierhin sieht man praktisch das, was eine übliche Kamera auch sehen würde. Jetzt kann man plötzlich in eine Figur reinhören. Da du das mit den Gedanken beibehalten willst, solltest du oben etwas näher an die Figuren heranrückien.

Manfred von der Information führte die Eheleute zu Sabrina und Rudi in den Besprechungsraum.
Moment mal bitte! Also sind Sabrina und Rudi gar nicht in ihrem Büro, sondern in einem abgetrennten Besprechungsraum? Warum konnten sie die "Information" sehen?
Warum tut Manfred das? Woher weiß er, dass die beiden Mordermittler großes Interesse an einer Vermisstenmeldung haben könnten? Er hat die Leiche nicht gesehen, kann sie auf dem Foto also nicht erkannt haben.

Sabrina sah gleich, dass es das tote Mädchen sein musste. Diese kupferroten Haare und die rehbraunen Augen fielen ihr sofort auf. Oh, mein Gott, dachte sie, schluckte verkrampft und kniff die Augen zusammen, weil sie die Tränen unterdrücken musste.
Viel zu dick: Wieso um Himmels willen weint sie (fast)??

Rudi griff zum Telefon und rief die Psychologin hinzu.
Wieso??

Julia Bremer war eine alte Schulfreundin von Sabrina. Sie kam nach dem Studium ebenfalls zur Polizei. Wenige Augenblicke später war sie da.
Zeitfehler: war ebenfalls zur Polizei gekommen
Nicht einfach über Zeitspannen wegschlittert: Selbst wenn Julia tatsächlich auf Abruf bereit steht - in den wenigen Augenblicken erstarren die Eltern (und die Ermittler) ja nicht zu Salzsäulen, die erst mit Julias Ankunft ihr Leben wieder aufnehmen.

Das Gespräch dauerte nur zehn Minuten, da waren die Eltern schon nicht mehr in der Lage, noch einen klaren Gedanken zu fassen oder gar zu sprechen. Zur Identifizierung wurden sie in die Gerichtsmedizin geführt. Dort brach die Mutter weinend zusammen.
Zehn Minuten sind sehr lang - worüber haben die geredet?
Zur Identifizierung: Nein, so wird das nicht gemacht.

Es war wirklich kein schöner Anblick. Sand und Salzwasser hatten dem geschundenen Körper schon gut zugesetzt, der ansonsten, außer ein paar Kratzern, die auf einen Kampf hinwiesen, keine größeren Verletzungen aufwies. Aber umso grausamer war der Anblick des Gesichtes, das mit weit aufgerissenem Mund und ebensolchen Augen die Todesangst dieses einst bildhübschen Mädchens manifestierte.
"gut zugesetzt"? Das ist eine extrem unpassende Formulierung an dieser Stelle.
Wie nun: Sah der Körper geschunden aus oder hatte er nur ein paar Kratzer?
Ich bezweifle, dass jetzt noch der "Todesausdruck" auf dem Gesicht sichtbar ist. Die Gesichtsmuskeln erlahmen früher oder später - und das hier ist deutliche "später" (der Mord ist einen halben Tag her, die Leiche ist inzwischen von der Flut und später von den Leich-Transporteuren bewegt worden.

Am Nachmittag kam Dietrich Brong, der Gerichtsmediziner, in Rudis Büro.
Was haben Sabrina und Rudi bis dahin gemacht?

„Sag lieber nichts, Dietrich. Das war offensichtlich. Sexualdelikt, nicht wahr?“
„Eins von der ganz grausamen Sorte, ja. Der muss ein Mordskaliber haben. Innere Verletzungen und Blutergüsse an den entsprechenden Stellen kommen nicht von ungefähr, wenn Du verstehst.“
Wieso war das offensichtlich???
Also wie grausam ein Sexualdelikt ist, hängt von der Schwanzdicke des Täters ab?? "Kommen nicht von ungefähr" - das kann (mit erhelblicher Wahrscheinlichkeit!) auch was anderes als der Penis des Täters gewesen sein, irgendein Gegenstand nämlich.
Das ist eine verdammt unsachliche und vage Aussage des Gerichtsmediziners! Überreicht er wenigstens dabei den Bericht, in dem die Befunden ordentlich notiert sind?

„Sie ist ertrunken, ja?“ Rudis Worte drückten eine gewisse Hoffnung aus, dass das Opfer nicht zu sehr gelitten haben möge.
Wieso sollte sie da weniger gelitten haben??

„Vermutlich danach. Aber sie ist wohl grausam erstickt, als er ...“
Sie erstickte erst und ertrank dann???? Wie soll das gegangen sein?!?

„Sei still!!“, schrie Rudi. „Das ist ja widerlich!“
Wieso tickt er so aus?
Auch wenn das jetzt sexistisch ist: Das ist doch jungmädchenhaft - nicht die Reaktion eines (erfahrenen) Oberkommissars der Mordkommission.


„Grausamer geht es kaum. Aber das Wasser in Magen und Lunge kam mit ziemlicher Sicherheit erst später dazu. Abscheulich, Rudi. DNA-Spuren haben wir allerdings reichlich.“
Wie soll das Wasser dahin gelangt sein, wenn sie schon tot war, also nicht mehr schlucken und atmen konnte???
Die ständige Betonung, dass es grausam ist, vermittelt nicht, dass es grausam ist. Damit der Leser es als grausam empfindet, muss er erfahren, was passiert ist.

„Ein wildes Tier ist barmherziger. Das tötet zuerst, bevor es weiter macht.“
Diese Bemerkung ist vielfacher Hinsicht (sorry) Unfug: Ein wildes Tier vögelt Leichen??? Sexualstraftäter töten nie vor dem Sex (es sei denn, sie sind nekrophil) - warum sollte also ausgerechnet dieser das machen? Auch diese sehr, sehr emotionale Reaktion ist nicht verständlich: Weder hat Rudi Ramona gekannt, noch tatsächlich gesehen, wie sie zugerichtet wurde (das hat offenbar nur Dietrich), noch halbwegs konkrete Infos von Dietrich über die Verletzungen (und die vermuteten Ursachen) bekommen.
Anmerkung: Ich verstehe nach deiner Erklärung, dass in dir solche Gefühle herrschen, weil du diese Infos hast. Aber weder Rudi noch der Leser sind du …

„Den schriftlichen Bericht hast Du morgen früh. Entschuldige, dass ich Dir den Feierabend verdorben habe.“
Oha! Also den Bericht hat er nicht mitgebracht. Also dann: Das, was er Rudi gesagt hat, ist weitgehen nutzlos - kein Todeszeitpunkt, keine vorläufigen Angaben zum Tathergang, nichts zum Täter (außer, dass er einen zaunspfahlähnlichen Penis haben muss - also fordert Rudi erstmal jeden verdächtigen auf, seinen Schwanz zu präsentieren?).


Am nächsten Morgen besuchten Sabrina und Rudi die Schule, auf der Ramona kurz vor dem Abitur stand. Auch Julia hatten sie dazu gebeten. Sie sollte nur beobachten.
Ich bezweifle, dass in diesem Stadium eine Psychologin hinzugezogen wird. Wozu auch? Es gibt ja nicht die geringsten Anhaltspunkte, dass der Täter zum Schulumfeld gehört.

„Ich wage ja gar nicht zu fragen, aber ...“, ergriff Stefan das Wort.
Ein 17-, 18-Jähriger, der so redet? Nee.

„Wie Ihr alle erkennt, ist Ramona heute nicht hier“, sagte der Direktor und schluckte schwer. „Sie ...“, setzte er an, doch dann brach ihm die Stimme weg, er wandte sich ab.
Mein je, sind die alle zart besaitet …

„Ramona wird nicht wiederkommen“, brachte Rudi unter seelischen Schmerzen über die Lippen.
Viiieel zu dick aufgetragen.

„Sie ist das Mädchen, das am Strand getötet worden ist“, ergänzte Sabrina schwermütig. „Wir wollen Euch ein paar Fragen stellen, um vielleicht ein paar Hintergrundinformationen zu bekommen, die uns weiterhelfen könnten, den Mörder zu finden.“
Wieso schwermütig???

(Fortsetzung folgt)
 
Hallo jon,
oh, oh, was habe ich Dir angetan? Ich sehe schon, so ganz gut kann ich mich in eine solche Situation nicht hineinversetzen. Ich lasse mich zu sehr von meinen eigenen Emotionen leiten und schreibe dann auch so. Ich ahne, dass Du mir sagen willst, dass ich ganz sachlich, pragmatisch, nüchtern an die Sache gehen muss, um eine realistische Atmosphäre zu schaffen.
Ich finde es ganz lieb von Dir, dass Du Dir diese Mühe machst. Danke.
Liebe Grüße,
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Ich ahne, dass Du mir sagen willst, dass ich ganz sachlich, pragmatisch, nüchtern an die Sache gehen muss, um eine realistische Atmosphäre zu schaffen.
Eigentlich wollte ich das nicht sagen, aber es stimmt insofern, als Sprache das Werkzeug und zugleich Material für den Schriftsteller ist, er sie also "sachbezogen" und dem Ziel dienend einsetzen muss.

Was ich meine ist: Beim Geschichtenerzählen kommt es darauf an, dass du dem Leser das zeigst, was du siehst, damit er fühlen kann, was du fühlst. Dazu musst du innerlich die Position eines Regisseurs einnehmen, dessen professionelle Seite sachlich betrachtet, wie die Szene im Kopf-Kino-Film aussieht bzw. aussehen soll.
Beim Schreiben musst du zugleich die Position der Schauspieler einnehmen: Wie würden sie die Figur spielen? Dazu muss ein Schauspieler wissen, wie sich die Figur fühlt, was sie antreibt. Er muss nicht wissen und darstellen, wie sich der Regisseur fühlt. Oder der spätere Zuschauer. Oder - in dem Fall - der Erfinder der Geschichte.
 

ahorn

Mitglied
Hallo Rainer Zufall,

Du mir sagen willst, dass ich ganz sachlich, pragmatisch, nüchtern an die Sache gehen muss, um eine realistische Atmosphäre zu schaffen
Ich glaube nicht, dass dies jon meint. ;)
Eher:
Menschlich mit Logik an die Sache gehen, um eine realistische Atmosphäre zu schaffen.

Ich lasse mich zu sehr von meinen eigenen Emotionen leiten und schreibe dann auch so.
Emotionen??? Emotionalbelegte Wörter ja.
Ein Tipp von Anfänger zu Anfänger.
Eine gute Geschichte ist eine glaubhafte Geschichte - alte Weisheit.
Wann ist etwas glaubwürdig, wenn es autentisch ist.
Wann ist sie autentisch, wenn du nicht allein über Kommissar Rainer schreibst, was er sagt, sondern du Kommissar Rainer bist, wie er denkt, wie er sieht, wie er hört.
Jetzt der Tipp:
Schreibe die Geschichte in der ersten Person. Die Ich-Form zwingt dich zum Protargonisten zu werden. Wenn du ein Gefühl für ihn gewonnen hast, schreibst du den Text in die dritte Person um und verfeinerst diesen mit Dialogen.

Gruß
Ahorn
 
Sie sind beide arbeitslos. Was sollen sie denn machen? Aber mein Vater ist ein Psychopath! Er schlägt meine Mutter! Wer weiß, wozu er noch fähig wäre“, erhob Dietmar einen versteckten Vorwurf.
Hallo Rainer Zufall,

zu den Inquit-Formeln wurde ja schon etwas von Jon geschrieben. Hier sind die letzten Worte z. B. absolut überflüssig, du kannst sie einfach weglassen, nur den Dialog schreiben. Davon abgesehen ist das, was Dietmar sagt, sicher kein "versteckter" Vorwurf.

Noch etwas anderes: Mich stört es auch, dass die Ermittler (Oberkommissare) so zart besaitet sind. Dann ist der Beruf wirklich nichts für sie....

LG SilberneDelfine
 
Hallo ahorn, hallo SilberneDelfine,
diese Geschichte habe ich schon vor einiger Zeit geschrieben. Da hatte ich noch keine echten Ambitionen, sie auch mal jemandem vorzustellen. Ich habe sie zwar nach den ersten Anregungen, die ich hier in der LL zu meinen anderen Geschichten bekommen habe, noch einmal überarbeitet, aber an der Technik muss ich wahrlich noch feilen. Manches gelingt halt besser, manches weniger gut. Diese ist dann wohl weniger gut gelungen.
Aber ich bin für alles offen. Ich werde weiter daran arbeiten, vielleicht erstmal im Kleinen, bevor ich mich wieder an diese Geschichte heranwage, weil da sicher noch eine Menge Arbeit drinsteckt, nicht allein wegen des harten Themas. Aber wie schon gesagt, ich bin dankbar für jede Form der Kritik. Ich bin in Sachen Schreiben eben Anfänger und muss noch einiges lernen. Ich habe noch einige Geschichten auf Vorrat, die ich entsprechend fokussiert noch einige Male wirken lassen werde, um die Feinheiten zu erkennen, die besser zu machen sind - hoffentlich ;)
Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 
G

Gelöschtes Mitglied 21684

Gast
Dann will ich ganz kurz meinen Senf auch noch dazu geben.
Grundsätzlich können selbstverständlich zwei Oberkommissare an einem Fall arbeiten. In der Regel besteht eine Mordkommission aus fünf bis sieben Beamten, denen unterschiedliche Aufgaben zufallen.
Und in Berlin, daher kenne ich das recht gut, geht eine Mordkommission bei einem neuen Fall "in Kommission", was heißt, die Ermittler arbeiten 24 Stunden am Tag an diesem Fall. Es gibt im Fernsehen eine Serie, die heißt glaube ich "First Forty-Eight" oder so ähnlich. Es geht darum, dass die ersten 48 Stunden in einem Mordfall die wichtigsten sind.
Da sieht eine Mordkommission ebenso. Daher arbeiten sie die ersten drei, vier Tage tatsächlich fast rund um die Uhr an so einem Fall, beleuchten das Umfeld des Opfers, der Zeugen, die Angehörigen, überprüfen Alibis, verfolgen Spuren. Und sie leisten sich dabei keine Gefühle, sondern bearbeiten den Fall mit professioneller emotionaler Distanz.
Untereinander ohnehin nicht und bei Angehörigen, Zeugen, Freunden wird eben gleich ein Psychologe oder auch ein entsprechend geschulter Notfallseelsorger dazu geholt.
 
Hallo Ben Vart,
vielen Dank für Deine Aufklärungsarbeit. Ich muss zu meiner Schande ja gestehen, dass ich weder damals, als ich diese Geschichte geschrieben habe, noch kürzlich, als ich sie überarbeitet hatte, um sie hier einzustellen, nach solchen Feinheiten der Polizeiarbeit recherchiert hatte. Ich hatte mich wohl eher an "Tatort"-Niveau orientiert, das sicher zuschauertauglich in Szene gesetzt wird.
Das mit den Gefühlen ist natürlich mein Problem. Da muss ich meinen Charakteren mehr Distanz geben, besonders zu den Emotionen, die mich selbst beim Schreiben begleiten. Aber auch das ist eine Sache der Übung.
Schöne Grüße,
Rainer Zufall
 

ahorn

Mitglied
Hallo Rainer Zufall,
es lebe das Internet. Es ist kein Problem, etwas über die 'wahre' Arbeit der Kripo zu erfahren, über Hirachie und Arbeitsweisen zu recherchieren. Dummerweise ist die reele Arbeit im Krimnialdienst eher langweilig, deswegen sind Tatorts, wie sie sind. Wissen sollte es man trotzdem, um nicht ganz abgefahren zu schreiben.
Nebenbei. Du schreibst eine Fiktion und der Leser weis dies.:)

Da muss ich meinen Charakteren mehr Distanz geben, besonders zu den Emotionen, die mich selbst beim Schreiben begleiten.
Warum? Charakterköpfe leben von Emotionen.
Die Frage ist einzig, wie du es herüberbringst. ;)

Gruß
Ahorn.
 
G

Gelöschtes Mitglied 21684

Gast
Es gibt keinen Krimi, in dem die Polizeiarbeit dargestellt ist, wie sie im realen Leben ist. Wäre totlangweilig. Grundsätzlich find ich aber, sollte man wissen wie's im Hintergrund tatsächlich aussieht, um zu wissen, was man wie verbiegen kann und darf, damit's im Buch spannend ist. Und ein flennender Kommissar darf schon mal sein. Vor allem, wenn Kinder betroffen sind, sind die echten Kommissare echt dünnhäutig.
 
Hallo ahorn,
hallo Ben Vart,
klar, bei der mangelhaften Recherche muss ich mich an die eigene Nase fassen.
Natürlich ist es schwer, Emotionen richtig in Szene zu setzen. Sie sollen authentisch wirken. Und jeder Charakter drückt sie anders aus. Darum meinte ich, dass ich mich nicht zu sehr von meinen eigenen Emotionen leiten lassen dürfe, sondern jedem Charakter entsprechende Variationen diesbezüglich angedeihen lassen muss. Dass da aber auch mal einer sehr nah am Wasser gebaut hat, wie man so schön sagt, ist doch absolut menschlich. Da kommen dann vielleicht auch meine Gefühle durch.
Jeder verfasst mal mehr, mal weniger gut gelungene Werke. Aber durch solche Diskussionen kann jeder nur dazu lernen. Und das finde ich wichtig. Niemand ist perfekt, und Kritik ist immer subjektiv. Aber sie regt auch immer zum Nachdenken an. Und das funktioniert hier in diesem Forum. Darum sage ich herzlich Danke.
Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 



 
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