Liebe wie ein Wimpernschlag

Ozznik

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Niemals werde ich vergessen können, wie du in mein Leben getreten bist. Nein, zu sagen, dass du in mein Leben getreten bist, wäre eine grobe Untertreibung. Du bist in meinem Leben eingeschlagen wie ein Meteorit, hast es auf den Kopf gestellt wie ein Wirbelsturm und mich verzaubert. Ich weiß noch, wie ich dir zum ersten Mal begegnet bin: Es war mal wieder eine langweilige Mathestunde bei Herrn Köhler. Ich erinnere mich noch genau daran, wie angenehm warm es an dem Tag in unserem Klassenraum im dritten Stock war, obwohl wir erst Januar hatten. Während der ersten warmen Frühlingstage und in der Sommerzeit, staute sich die Wärme in dem obersten Stock des alten Schulgebäudes, was im Sommer zwar die Hölle, in den kalten Tagen aber durchaus von Vorteil war. Ich saß wie immer neben einem der großen Fenster, dass ich immer prompt zu Beginn jeder Stunde öffnete, um der Hitze einen Fluchtweg nach draußen zu geben. Es war einer der ersten warmen Tage dieses Jahres, der Frühling hielt langsam seinen Einzug und Herr Köhler erzählte mal wieder irgendetwas über Stochastik und wiederholte dabei immer wieder dieselben Phrasen drüber, wie wichtig das doch alles für die Abiturprüfung sei und dass wir nächstes Jahr um diese Zeit schon in den Hörsälen sitzen oder mit beiden Beinen fest im Berufsleben stehen werden. Mein Geist wandte sich desinteressiert von den Formeln und Gleichungen an der Wand, aber vor allem von dem inhaltslosen Gerede des dicklichen Mannes ab und ich starrte aus dem offenen Fenster. Verträumt blickte ich in die über das Land ziehenden Wolken, schaute den Vögeln beim Fliegen zu und dachte mich an einen fernen Ort. Jeder Ort war mir lieber als in einem Klassenzimmer mit Herrn Köhler zu sein. Und während ich in meiner kleinen Realitätsflucht versunken war, betratst Du ganz ungefragt die Bühne und hast mit deiner reinen Anwesenheit mein Innenleben in ein emotionales Chaos gestoßen. Ich war auf den ersten Blick in dich verliebt. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so etwas gefühlt. Ein emotionaler Ozean aus Begehren, Verlangen, Lust, Verwunderung und Angst schoss mir mit einem Mal in die Brust und ich drohte in den Wellen dieses Ozeans zu ertrinken. Gänsehaut verteilte sich in einem lauffeuerartigen Schauer überall an meinem Körper und ein heißer Schweiß bildete sich an jeder Pore. In meinem Kopf hallte nur eine Frage wider: Wer ist dieses Mädchen?

Deine langen schwarzen Haare tanzten im Wind und zogen mich in ihren Bann, dein Gesicht ließ mein Herz höherschlagen und als deine tränenunterlaufenen smaragdgrünen Augen in das kalte Grau der meinen schauten, war ich dir vollkommen verfallen. Ich bildete mir sogar ein, ein Lächeln zu erkennen, als sich unsere Blicke trafen. Ab diesem Moment stand die Zeit für mich still. Vor meinem inneren Auge malte ich mir in rasanter Geschwindigkeit mein ganzes Leben zusammen mit dir aus, mir war klar: Das ist die Frau, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen will.

Nach der Mathestunde würde ich hastig meine Sachen zusammenpacken, die Treppen runterrennen und dich in der Pause ansprechen, dich nach deinem Namen und deiner Nummer fragen und ob du Lust hättest mit mir mal auf einen Film ins Kino zu gehen oder ob du mich für ein erstes Kennenlernen in das kleine Café bei den Linden am Fluss auf ein Stück Kuchen begleiten wollen würdest. Ich stellte mir vor, wie der Funke zwischen uns zu einem Feuer wird, wie wir uns in den Armen liegend unsere Liebe gestehen und wie viele erste Male ich mit dir haben würde. Das erste Mal küssen, lieben, streiten, lachen und zusammen weinen. So viele erste Male wollte ich mit dir haben, ich wusste gar nicht wohin mit all den mir fremden Gefühlen. Ich wollte um deine Hand anhalten, dir sagen wie viel du mir bedeutest und dich am liebsten auf der Stelle heiraten. Mit dem Mädchen mit den smaragdgrünen Augen und dem wunderschönen schwarzen Haar wollte ich ein Haus bauen, Kinder kriegen und zusammen alt werden. Wie sah es bei dir aus? Hättest Du dir vorstellen können, mit mir, dem Tagträumer, dem Jungen, der immer in der Schule auf dem Tisch schläft, oder liest, etwas anfangen zu können? Wäre ich dein Typ gewesen oder hättest du mich langweilig gefunden? Was wären deine Antworten auf alle meine vielen, vielen Fragen gewesen?

Noch stand die Zeit still und es fühlte sich so an, als ob eine Ewigkeit seit meinem letzten Atemzug vergangen war, ich traute mich nicht zu blinzeln, aus Angst, du könntest nach einem Wimpernschlag fort sein. Was sich für mich wie eine Ewigkeit anfühlte, waren nur Sekunden, aber ich wollte trotzdem alles von dir aufsaugen, es unauslöschlich in meine Erinnerungen brennen. Aber die Zeit verschont niemanden, auch uns nicht. Es ist unausweichlich, sich der Realität zu stellen, da führt kein Weg dran vorbei, egal wie sehr wir es uns auch gewünscht hätten. Ja, zu sagen, dass du wie ein Meteorit oder ein Wirbelsturm in mein Leben einschlagen bist, trifft es sehr gut. Eher warst du wie eine explosive Mischung aus den Beiden, denn du hinterlässt einen gigantischen Krater in meiner Seele und so schnell wie du auf die Bühne meines Lebens getreten bist, dich selbst zum Protagonisten erklärtest und alles auf den Kopf gestellt hast, so schnell hast du dich auch wieder verabschiedet, wie ein Wirbelsturm. Ich blinzle und du bist vor dem Fenster verschwunden, einen Moment lang hielt ich dich für eine Tagträumerei, einen Geist oder Hirngespinst und zweifelte daran, dass du überhaupt außerhalb meiner Fantasie existiertest. Dann hörte ich den dumpfen Aufprall deines Körpers auf dem asphaltierten Parkplatz unserer kleinen Dorfschule durch das offene Fenster. Mein Herz zersprang in meiner Brust und mit einem Mal brachen all die aufgestauten Emotionen aus mir hervor. Ich sprang so heftig von meinem Tisch auf, dass der hölzerne Stuhl gegen die Schränke hinter mir katapultiert wurde und ein tiefer, alles in mir verzehrender Schrei bahnte sich seinen Weg aus meiner Kehle und drohte mir meine Stimmbänder zu zerreißen. Im Klassenraum wurde es schlagartig still, alle Augen waren auf mich gerichtet, aber es war mir egal. Ich durchlebte gerade alle Emotionen die ich kannte in einem schwindelerregenden Tempo. Mir wurde schwarz vor Augen, ich musste mich an meinem Tisch abstützen und mir war, als ob ich mich gleich übergeben müsste. Hatte dich denn keiner gesehen? War ich wirklich der Einzige, der dich in deinen letzten Momenten gesehen hat? Plötzlich hörte man einen weiteren Schrei die Stille zerschneiden, dieses Mal vom Parkplatz und ich realisierte, dass Du wirklich da warst. Ich traute mich nicht aus dem Fenster nach unten zu sehen, ich fürchtete mich zu sehr vor den Narben die der Anblick auf meiner Seele hinterlassen würde. Meine Beine gaben unter mir nach, ich sank zu Boden und begann, obwohl ich dich doch gar nicht kannte, bitterlich zu weinen. Ich weinte um eine Liebe die in Sekunden wie die schönste Blume aufblühte, nur um dann gleich wieder zu verwelken. Weinte um eine Zukunft die nicht einmal die Chance bekam Realität zu werden und um das junge Leben, welches gerade sein jähes Ende auf dem Asphalt gefunden hat. Und während die Menschen um mich herum realisierten, warum ich gerade so geschrien hatte, blieb ich mit meinen Fragen allein zurück: Warum hast du getan, was du getan hast? Wie konnte es nur so weit kommen? Während meine Tränen eine kleine Pfütze auf dem kalten Linoleumboden bildeten, wiederholte sich irgendwann nur noch eine Frage in Endlosschleife in meinem Inneren: Wer war dieses Mädchen mit den smaragdgrünen Augen, dass ich so sehr liebte und doch gar nicht kannte?
 



 
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