Lieben Sie Tschaikowski?

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John Wein

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Lieben Sie Tschaikowski?

Alfred liebte Mozart. Tschaikowski, das war für ihn Ballett, Tanz, Theater und Oper in Personalunion, noch dazu ohne Sprache oder Gesang. Natürlich gab es auch die Symphonischen Werke, aber insgesamt war es nicht seine musikalische Welt. Jetzt ausgerechnet Schwanensee! Allein der verstaubte und aus der Zeit gefallenen Titel verlieh dem Stück, wie die Sachertorte, wienerische Melange. Die beiden Karten der Deutschen Oper am Rhein waren das Geschenk der Firma zum 40. Betriebsjubiläum gewesen.

Doch mit Schwanensee verband Alfred auch ein ganz anderes, metaphysisches Geschehnis, nämlich eine Metakognition oder das Hinterfragen einer Erinnerung.

Es war die Zeit jener frühen Jahre, in denen gewöhnlich das Fundament einer eigenen Persönlichkeit angelegt wird. Die traumatischen Wochen vor den Jahres-Abschlussprüfungen der Hindenburgschule standen bevor. Auf dem Lehrplan stand Turnen, man kennt diesen Alptraum am Reck: Aufschwung, Umschwung, Unterschwung, Stand, und zwar in dieser Reihenfolge und nicht umgekehrt. Perfekt geturnt allerdings, setzt es eine trainierte Koordination von Armen und Beinen, sowie einen antrainierten Bizeps des Prüflings voraus.

Hacky, nannten die Schüler ihren Klassenlehrer für Deutsch und Sport. Hoheitliches Sprachorgan, Knickerbocker kleinkariert, fussig und 5 Dioptrien, Herr Specht war ein durchaus Ehrfurcht gebietender Pädagoge alter Schule. Seine gern zitierte Spruchweisheit: ‚Hohlheit beschränkt sich besser im Kopf‘; wie man‘s nimmt!

Das Drama der Proben war nach der letzten Stunde des Unterrichts anberaumt. Hightech Sportwäsche gab damals es noch nicht, Unterhemd und Turnhose begnügten sich mit Kattun und Linnen ohne technischen oder individuellen Schnickschnack. Eventualitäten, denen man heutzutage vorbeugend mit Jockstraps oder Netz ihre Schärfen nimmt, konnten damals schnell die Kalamitäten ihres Innenlebens offenbaren. Deshalb musste der pubertierende Turner, neben physischer Voraussetzung und -Verfassung, auch eine gewisse psychische Stabilität im Umgang mit seiner hormonellen Ausstattung vorweisen können.

Alfred: Hühnerbrust, Spinnenbeine, zarter Flaum und Pickel, war trotz Elvis-Locke nicht wirklich der Typ eines Draufgängers. Als Dritter, mit viel zu weiter Turnhose und im Trägerhemd, stand er in der Reihe der Schlacks hinter Reinhard und Harald. Auf der Hühnerstange links saß die tuschelnde, weibliche Schar mit Stielaugen; eine Ansage! Die Jungfrauen übten sich nebenan unter pädagogischer Obhut Fräulein Rosenbohms, mal mehr oder weniger grazil, mit Hocksprüngen über Bock und Kasten.

Reinhard, schmalbrüstiger, blasser Hühne, Brille und behäbige Körperlichkeit, schaffte den Aufschwung im zweiten Anlauf. Dabei halfen weniger Armkraft und Beinschwung, sondern in erster Linie seine Einssechsundachzig. Beim abschließenden Unterschwung verfehlte sein Kinn nur knapp die Reckstange, er hatte einfach das Glück des Ahnungslosen. Den Stand zum Abschluss der bodenständigen Darbietung knickte er kurz rechts, aber mit zackigem Korrekturstand zog er sich mehr oder weniger auffällig mit einer abwertenden Handbewegung und der Bemerkung: „Meine Fresse!“ aus der Affäre.

„Reinhard vier minus!“, kommentierte Hacky.

Nun also kam Harald, gut bemuskelter Rotschopf, Dauergrinser mit gemeißeltem, nordischem Aussehen. Alfred, trotz zur Schau gestellter und mit billigem Mätzchen gewürzten Lässigkeit, wirkte angespannt. Er war der Übernächste und vor ihm jetzt die Sportkanone Harald Superstar Bendert, junges Talent des Oldenburger TB, ein Manko. Es würde Alfred im Vergleich weitere Abzüge kosten. Er fühlte ein unangenehm kühles Rinnsal unter der Achselhöhle.

Harald ging nicht, nein, er schritt! Er wusste um seine Fähigkeiten. Der Kraftprotz verstrahlte ungeheure Lässigkeit, gepaart mit einem in seinen Genen fest verankerten Selbstbewusstsein. So einen Auftritt hat man bei der Geburt in die Wiegegelegt bekommen. Alfred fühlte Mattigkeit in den Knien und einen unwillkürlichen Schluckreflex in der Kehle. Alle weiblichen Augenpaare hatten ihren Fluchtpunkt in Haralds perfekten Körpermaßen. Rotschopf und Marineblau seiner Turnhose, die Farben Oldenburgs, unterstrichen die Aura männlicher Schönheit gepaart mit Kraft in vollkommener Harmonie.

Love me tender, love me sweet
Never let me go
You have made my life complete

Phöbe Schnipfinger, ein atemberaubend gutaussehendes Geschöpf, blühte auf! Mit ihrem anmutigen Gesichtsausdruck, thronte sie auf der Bank, in der absoluten Gewissheit, der einzige Schwan Ententeich zu sein. Allein Harald galt ihre Gunst in der Jungmänner Riege der Klasse. Niemand Geringerer als er durfte sich Chancen ausrechnen und umgekehrt hätte auch keine ihrer Konkurrentinnen auf diesem Feld mitmischen dürfen. Von irgendwo her, wie aus dem Nichts, erklang die leise, zärtliche Melodie einer Piccoloflöte.

Harald turnte und verwies alles, was bis dahin im Zuge einer Jahres-Abschlussprüfung geturnt worden war, in den Schatten der Bedeutungslosigkeit. Ein Hüft-Aufschwung aus dem Stand, so was hatte man vorher noch nicht gesehen. Seine muskelbepackten Bizepse kamen im Stütz voll zur Geltung. Er schwang nach vorn und dann kräftig und kerzengerade mit Schwung und angelegten Beinen folgte der Umschwung. Alfred fühlte sich unvermittelt zum Zwerg degradiert. Der Umschwung saß perfekt mit der Hüfte an der Stange geturnt, und mit einer Leichtigkeit, die nahezu mühelos wirkte, gelang Harald die Drehung erneut in den Stützstand. Dann, wollte man es beschreiben, reicht das Wort Sensation nicht aus. Genügend Schwung genommen, drehte sich der Könner um die Reckstange wie ein Kickermännchen, noch einmal, ein drittes Mal, holte dann mit gestreckten Armen zum Unterschwung aus und flog eine ganze Drehung um die Stange. Es war eine Demonstration, sensationell! Abschließend der Abgang automatisch und wie aus dem Effeff geturnt, ließ er die Stange los, nutzte den Schwung für einen Salto rückwärts und landete vollkommen sicher, wie der Adler auf seinem Horst, in den Stand.

Der Begriff Begeisterungssturm beschreibt es nur unzureichend, wie Harald die tobende und johlende Meute in Brand gesetzt hatte. Krakeelend fiel man sich in die Arme und es wollte kein Ende nehmen mit dem Herzen und Schulterklopfen der Klassenkameraden. Da fehlte jetzt nur noch der Tusch!

Alfred schaute mit einem resignierenden Blick, der sein ganzes bisheriges Leben zusammenfasste, in eine imaginäre Ferne. Was konnte er noch bieten, außer Magerkost aus dem Bioladen. Mit schlotternden Knien und Flaute im Magen trabte zum Turngerät. Er würde scheitern, es schien ihm und allen gewiss. Vor seinem inneren Auge sah er den Versager vom Gerät purzeln, verlacht und verhöhnt von der Klasse und von Hackys mitleidigen Blicken gedemütigt. Man wartete geradezu auf eine missglückende Vorstellung.

Mit dem Umgriff fasste Alfred die Stange und holte mit dem rechten Bein zum Aufschwung aus, und plötzlich geschah das Merkwürdige und es überraschte ihn noch mehr als seine Zuschauer. Das war so unvermittelt und automatisch, dass er es sich selbst nicht erklären konnte. Sein zweites Bein folgte beim Aufschwung dem ersten wie ein Schatten, zeitlupenhaft und federleicht.

Das Raum-Zeit-Kontinuum bezeichnet eine gemeinsame Darstellung des dreidimensionalen Raums und der eindimensionalen Zeit in einer vierdimensionalen, mathematischen Struktur. Hier in der Halle wurde Reales plötzlich relativ und bestätigte Einsteins Relativitätstheorie, der Einheit von Zeit und Raum. Jede Betrachtung einer Lage im Raum unterliegt dem Faktor Zeit und so betrachtet ist das Reale im Grunde ein Relativ.

Geigen setzten ein, und ein Orchester spielte den Walzer aus Schwanensee. Alfred wäre unter normalen Umständen vom Reck gepurzelt. Doch nun so plötzlich unterlag er nicht mehr den irdischen Schwerkräften, die Physik schien ausgehebelt. Ohne jegliche Anstrengung schwebend, sein Gesichtsausdruck schien völlig entspannt, drückte er sich lächelnd in den Hüftstand. Die einleitenden Takte des Walzers waren verklungen. Alle hatten sich mittlerweile erhoben und starrten, staunend mit geöffneten Mündern ungläubig auf das Schauspiel, das sich ihren Augen bot. Es gibt doch tatsächlich noch eine andere Welt!

Alfred holte aus, von vorn, die Beine perfekt gestreckt und mit der Eleganz eines Balletttänzers, nahm er neuen Schwung auf. Tschaikowski war nun bei jenen Takten, die nach der Schrittfolge den Walzer in die Drehung versetzen. Er drehte und drehte perfekt im Takt das ein um das andere Mal mit überwältigender Präzision. Es war phantastisch, der Held musste nur wie auf der Schaukel ein wenig Schwung mitnehmen, dann funktionierte es vollkommen mühelos und mühelos sah es auch aus. Schwung, Drehung, Schwung und es fand kein Ende. Es bereitete ihm großen Spaß.

Am Ende aber findet der gängigste Walzer einmal seinen Schlussakkord. Im Rausch benebelt, holte Alfred noch einmal Schwung, ließ von der Stange ab, breitete seine Schwingen aus und segelte schwanengleich über aller Köpfe hinweg durch die Halle und durch das berstende Fenster in die strahlende Sonne.

Rike stand am Fenster und sog die frische, sauerstoffgesättigte Luft tief in ihre Lungen ein.

„Wir könnten mal wieder nach Oldenburg fahren“, wandte sie sich zu Alfred, „was meinst du?“

Alfred, auf der Bettkante, tastete an seinem kahlen Schädel. Er hatte sich an der Lampe gestoßen, eine kleine, blutende Beule an seiner Stirn ohne jede Bedeutung.

„Wie kommst du darauf?“ fragte er ein wenig verwirrt.
 
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Gast
Das Beste, was ich hier seit Langem gelesen habe: Großes Kopfkino!
Rieche die Turnhalle, sitze auf dem Mattenberg wie eine pubertierende Diva (bin per Heftchen, das ich bei der Sportlehrerin abgeben und abzeichnen lassen muss, vom Sport befreit. Man spricht nicht über diese monatliche Auszeit der Mädchen, man lässt sie von der Mutter bescheinigen) und sehe den Jungs dabei zu, wie sie sich zum Vollhorst machen - oder eben auch nicht.
Wenn sie Alfred heißen.
Ich liebe Tschaikowski!
 
Eine schöne kleine Geschichte, auch wenn sie nicht mein Thema ist. Sie erinnert mich dann doch zu stark an meinen eigenen Sportunterricht.
Interessanterweise habe ich bei Deinem gewählten Thema sofort Bilder vom Mommsen-Gymnasium im Kopf mit "Alfred" als Pepe, dem Pausenschreck.
Die Wichtigkeit von Sportveranstaltungen und die an Groupies erinnernden, gaffenden Mädchen kommen ganz gut zur Geltung.
Was mir allerdings ein klein wenig fehlt, ist die tatsächliche, tiefere Aussage der Geschichte. Aber ein gelungener Text.

Freundliche Grüße
 

John Wein

Mitglied
Danke Isbahan, fürs Lesen und Kommentieren,
Es freut mich, dass ich deine Gefühle bez. Sport insbesondere Turnen, wiedererwecken konnte, wenn auch nicht gerade im positiven Sinn. Aber manchmal sollte man sich, so wie ich, in der Erinnerung wiederfinden und über eigene Missliebigkeiten und -Empfindungen von ehemals, schmunzeln können.
Gruß John
 

John Wein

Mitglied
Danke Derufin Denthor Heller,

Fürs Lesen und Kommentieren. Es freut mich, dass der Text deine Gefühle angesprochen hat. Es ist einfach eine fließende, lustige Geschichte ohne tieferen Sinn. Eine Turnstunde zu beschreiben ist zwar einfach, aber ohne lustige Schnörkel wäre der Text eher langweilig. Da ist dann Phantasie gefragt, damit es lustig wird.
Gruß, John


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G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo John,

die Nöte Pubertierender hast Du sehr anschaulich geschildert – und manchmal ist dann doch jemand über sich selbst hinausgewachsen (vielleicht auch nur in der Erinnerung). Zumindest dank neumodischer Outfits dürfte es heute etwas leichter geworden sein, im Sportunterricht eine anständige Figur zu machen. Und Mädchen müssen wahrscheinlich auch nicht mehr zum Gespött der Jungen einmal im Monat auf der Wartebank sitzen.

Nur einen klitzekleinen Einwand habe ich: Müsste das „sie“ (als Höflichkeitsform) im Titel nicht großgeschrieben werden?

Gruß, Ciconia
 

John Wein

Mitglied
Dankeschön Circona,
für Kommentar und Mitturnen! Als Zeitgenosse, der viel Wert auf höflichem Formen legt, erledige ich das umgehend! ;)
 



 
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