Robert A. Berwitz
Mitglied
Vorausgesetzt meine Erinnerung trügt mich nicht, jährt sich heute zum zweiten Mal der Tag, an dem er verschwand, ohne auch nur einem von uns ein Wort des Abschieds zu sagen.
Mit eng an den Körper gezogenen Beinen sitze ich tief vergraben in dem zerschlissenen Ledersessel, den er, kaum dass er das erste Mal bei uns aufgetaucht war, die Treppen hochgewuchtet und in die Nische neben den Holzofen in unserer Küche gestellt hat, nippe an einem Glas des eigentümlich herben roten Weins, den zu mögen er mich im Verlauf unserer nächtelangen Gespräche lehrte, und frage mich einmal mehr, von welcher Art das Geheimnis, das ihn umtrieb, gewesen sein mochte.
Nicht einmal ein halbes Jahr lang hat er bei uns gelebt, und es trotzdem fertiggebracht, zum unumstrittenen Mittelpunkt unserer kleinen Gemeinschaft zu werden, obwohl weder er selbst noch wir jemals auf die Idee verfallen wären, ihn als einen von uns zu sehen.
Als wir einmal darüber gesprochen hatten, welche Beweggründe uns veranlassten, ihn in unserer Mitte zu dulden, hatten alle außer mir die Ansicht vertreten, es läge an nichts anderem als den ausgezeichneten Mahlzeiten, die er uns einen jeden Abend auf den Tisch zu stellen pflegte. Ich hingegen war der festen Überzeugung, dass diese Erklärung allzu oberflächlich sei, und insofern absolut unzutreffend. Selbstverständlich hatten wir alle es sehr zu schätzen gewusst, uns nicht mehr von den faden Fertiggerichten ernähren zu müssen, die wir vordem, waren wir hungrig, lustlos aufgekocht und geradeso lustlos hinuntergeschlungen hatten. Dass wir uns aber, zumal wir zu jener Zeit noch ungemein stolz darauf waren, gegen sämtliche nicht selbst aufgestellte Regeln und Normen zu rebellieren, so rasch daran gewöhnt hatten, kein einziges gemeinsames Mahl mehr auszulassen, war wohl eher auf die Atmosphäre zurückzuführen, die er um sich herum zu erzeugen verstand, als auf das, was er uns auf den Tisch stellte.
Während mit andächtigem Genuss gespeist und dabei einmal mehr, einmal weniger hitzig über alle möglichen wissenschaftlichen oder politischen Themen debattiert wurde, saß er mit seinem nur angedeuteten Lächeln schweigend auf dem Platz, den ihn vom ersten Tag an keiner mehr streitig zu machen gewagt hatte, kraulte unserem Kater, der nur noch zu ihm auf den Schoß klettern mochte, hinter den Ohren, und senkte verlegen den Blick, wurde er gefragt, welcher Standpunkt zu dem soeben behandelten Gesprächsgegenstand der seine sei.
Nicht ein einziges Mal hat er bei Tisch das Wort ergriffen; selbst dann nicht, flehte man ihn nachgerade darum an. Ich glaube jedoch keineswegs, dass er nichts zu sagen gewusst hatte. Ziehe ich seine in unglaublich kurzer Zeit zusammengetragene Sammlung seltener belletristischer, philosophischer und historischer Werke in Betracht, muss ich sogar vom Gegenteil ausgehen. Vermutlich war es ihm schlichtweg nicht mehr von Bedeutung, sich zu Gegebenheiten zu äußern, die sich seinem Einfluss entzogen. Kurioserweise war ihm durch diese Weltsicht eine sonderbare, ein wenig auf uns alle ausstrahlende Harmonie zu eigen, die sich nach meinem Dafürhalten im Wesentlichen darauf gründete, dass er seine Ziele, vorausgesetzt er hatte überhaupt noch welche, darauf beschränkte, Begonnenes fortzusetzen, ohne sich der, wie auch ich mittlerweile denke, irrigen Vorstellung anheim zu geben, damit einem tieferen Sinn zu folgen.
Wenige Tage vor seinem Verschwinden, er und ich hatten bis tief in die Nacht hinein ein paar wer weiß wo von ihm aufgetriebene Flaschen hervorragenden Weins geleert, war ich, jedenfalls glaube ich das noch heute, ganz dicht daran gewesen, ihn zu veranlassen, sein Geheimnis, über das wir alle miteinander ständig gerätselt hatten, preiszugeben. Ich hatte mit ihm über die mir damals grässlich erscheinende Alternative gesprochen, der ich mich nach dem keineswegs in weiter Ferne liegenden Abschluss meiner Ausbildung würde stellen müssen: Entweder mich des Lebensunterhaltes wegen in das Kampfgetümmel um einen Arbeitsplatz zu werfen, der, hätte ich ihn denn, mich nach und nach meiner Persönlichkeit berauben würde, oder mich gleich in das Heer derjenigen einzureihen, deren materielles Sein auf regelmäßiger staatlicher Zuwendung fußt, was, so sah ich das seinerzeit jedenfalls, der Wahrung der menschlichen Würde auch nicht unbedingt zuträglich wäre.
Während meiner Ausführungen hatte er die ganze Zeit über mit dem Kopf genickt, als wisse er nur zu genau, was ich ihm zu erklären suchte; zugleich konnte ich beobachten, dass sich ein Zug der Verbitterung über seinen gemeinhin eher heiteren Gesichtsausdruck legte. Dann, was ich bei ihm vorher noch nie beobachtet hatte, brach es aus ihm in immer wieder stockenden Sätzen hervor, auch er kenne das nur zu gut, sich zwischen dieser Form der Selbstvernichtung oder jener entscheiden zu müssen. Lange, viel zu lange habe er auf seinem Weg nach ganz oben durchgehalten, und viel zu viele derer, die zu gleicher Zeit das selbe Ziel verfolgt hätten wie er, dabei aus der Bahn geworfen. Manchmal habe er das sogar mit Lust getan, hatte er nach einigem Zögern noch hinzugefügt, ehe er sich auf die Lippen gebissen und für den Rest des Abends eisern geschwiegen hatte.
Doch im Morgengrauen war er plötzlich in mein Zimmer gekommen, hatte mich wachgerüttelt, und mir, nachdem ich mich aufgesetzt hatte, mehrmals aufgeregt mit dem Zeigefinger der rechten Hand gegen die Brust gestoßen und gesagt, ich solle Wittgenstein lesen. Man müsse bloß Wittgenstein lesen, wolle man ein für alle Mal wissen, was ein Mensch, der ein Mensch bleiben wolle, unter keinen Umständen zu wissen brauche. Verstünde man, was einer wie Wittgenstein sage, wiederholte er gleich mehrfach, und noch einmal als er bereits wieder in der Türöffnung stand, habe man nichts von der Welt und dem, was auf ihr vorgehe, verstanden. Wittgenstein sei der Testfall, ob man über Verstand verfüge oder bloß den Unfug nachplappere, den andere sich aus den Fingern gesogen hätten, um ihre Beamtenbezüge zu rechtfertigen, die nur solange flössen, wie vermieden wurde, sich mit den gerade herrschenden Machteliten anzulegen.
In den nächsten Tagen hatte er sich mir gegenüber verhalten, als sei nichts vorgefallen. Ich aber hatte den Eindruck, dass er mir aus dem Weg zu gehen trachtete.
Kurz darauf war er verschwunden; absolut wortlos. Alles, was nicht in den verschlissenen Rucksack, den er immer trug, ging er einkaufen, hineingepasst hatte, war dageblieben.
In manchen Stunden, in denen mir in der gespenstisch leeren Wohnung, aus der mittlerweile alle außer mir ausgezogen sind, die Decke auf den Kopf zu fallen droht, gehe ich in die bescheidene Kammer hinüber, in der er gewohnt hat, berühre nachdenklich das wenige, liebevoll von ihm selbst aufgearbeitete, inzwischen dick von Spinnweben und Staub überzogene Mobiliar, und nehme das eine oder andere seiner Bücher zur Hand, wodurch sich mir jedes Mal das Gefühl vermittelt, dass er nicht wirklich weg ist, sondern sich womöglich kraft eines nur ihm zugänglichen Wissens zwischen die Buchstaben geschmuggelt hat.
In der Regel hole ich mir dann etwas von dem Wein, lese ziellos in diesem Buch eine Seite und in jenem einen Absatz, und vermeine zu spüren, dass er mir heute um vieles näher ist als zu der Zeit, in der er bei uns gelebt hat.
Erst kürzlich fiel mir auf, dass ich begann, die Dinge, die er dagelassen hat, als Ausdruck unserer kurzen gemeinsamen Geschichte zu lieben. Wenngleich ich ihn auch gar nicht so gut habe kennen lernen dürfen, dass ich mit Sicherheit sagen könnte, er hätte es verabscheut, Dinge zu lieben, stelle ich mir das aber trotzdem so vor. Und gerade weil ich mir das so vorstelle, liebe ich die Dinge – jedenfalls diejenigen, die er mir hinterlassen hat – und hoffe zugleich, er möge nie mehr wiederkommen.
Mit eng an den Körper gezogenen Beinen sitze ich tief vergraben in dem zerschlissenen Ledersessel, den er, kaum dass er das erste Mal bei uns aufgetaucht war, die Treppen hochgewuchtet und in die Nische neben den Holzofen in unserer Küche gestellt hat, nippe an einem Glas des eigentümlich herben roten Weins, den zu mögen er mich im Verlauf unserer nächtelangen Gespräche lehrte, und frage mich einmal mehr, von welcher Art das Geheimnis, das ihn umtrieb, gewesen sein mochte.
Nicht einmal ein halbes Jahr lang hat er bei uns gelebt, und es trotzdem fertiggebracht, zum unumstrittenen Mittelpunkt unserer kleinen Gemeinschaft zu werden, obwohl weder er selbst noch wir jemals auf die Idee verfallen wären, ihn als einen von uns zu sehen.
Als wir einmal darüber gesprochen hatten, welche Beweggründe uns veranlassten, ihn in unserer Mitte zu dulden, hatten alle außer mir die Ansicht vertreten, es läge an nichts anderem als den ausgezeichneten Mahlzeiten, die er uns einen jeden Abend auf den Tisch zu stellen pflegte. Ich hingegen war der festen Überzeugung, dass diese Erklärung allzu oberflächlich sei, und insofern absolut unzutreffend. Selbstverständlich hatten wir alle es sehr zu schätzen gewusst, uns nicht mehr von den faden Fertiggerichten ernähren zu müssen, die wir vordem, waren wir hungrig, lustlos aufgekocht und geradeso lustlos hinuntergeschlungen hatten. Dass wir uns aber, zumal wir zu jener Zeit noch ungemein stolz darauf waren, gegen sämtliche nicht selbst aufgestellte Regeln und Normen zu rebellieren, so rasch daran gewöhnt hatten, kein einziges gemeinsames Mahl mehr auszulassen, war wohl eher auf die Atmosphäre zurückzuführen, die er um sich herum zu erzeugen verstand, als auf das, was er uns auf den Tisch stellte.
Während mit andächtigem Genuss gespeist und dabei einmal mehr, einmal weniger hitzig über alle möglichen wissenschaftlichen oder politischen Themen debattiert wurde, saß er mit seinem nur angedeuteten Lächeln schweigend auf dem Platz, den ihn vom ersten Tag an keiner mehr streitig zu machen gewagt hatte, kraulte unserem Kater, der nur noch zu ihm auf den Schoß klettern mochte, hinter den Ohren, und senkte verlegen den Blick, wurde er gefragt, welcher Standpunkt zu dem soeben behandelten Gesprächsgegenstand der seine sei.
Nicht ein einziges Mal hat er bei Tisch das Wort ergriffen; selbst dann nicht, flehte man ihn nachgerade darum an. Ich glaube jedoch keineswegs, dass er nichts zu sagen gewusst hatte. Ziehe ich seine in unglaublich kurzer Zeit zusammengetragene Sammlung seltener belletristischer, philosophischer und historischer Werke in Betracht, muss ich sogar vom Gegenteil ausgehen. Vermutlich war es ihm schlichtweg nicht mehr von Bedeutung, sich zu Gegebenheiten zu äußern, die sich seinem Einfluss entzogen. Kurioserweise war ihm durch diese Weltsicht eine sonderbare, ein wenig auf uns alle ausstrahlende Harmonie zu eigen, die sich nach meinem Dafürhalten im Wesentlichen darauf gründete, dass er seine Ziele, vorausgesetzt er hatte überhaupt noch welche, darauf beschränkte, Begonnenes fortzusetzen, ohne sich der, wie auch ich mittlerweile denke, irrigen Vorstellung anheim zu geben, damit einem tieferen Sinn zu folgen.
Wenige Tage vor seinem Verschwinden, er und ich hatten bis tief in die Nacht hinein ein paar wer weiß wo von ihm aufgetriebene Flaschen hervorragenden Weins geleert, war ich, jedenfalls glaube ich das noch heute, ganz dicht daran gewesen, ihn zu veranlassen, sein Geheimnis, über das wir alle miteinander ständig gerätselt hatten, preiszugeben. Ich hatte mit ihm über die mir damals grässlich erscheinende Alternative gesprochen, der ich mich nach dem keineswegs in weiter Ferne liegenden Abschluss meiner Ausbildung würde stellen müssen: Entweder mich des Lebensunterhaltes wegen in das Kampfgetümmel um einen Arbeitsplatz zu werfen, der, hätte ich ihn denn, mich nach und nach meiner Persönlichkeit berauben würde, oder mich gleich in das Heer derjenigen einzureihen, deren materielles Sein auf regelmäßiger staatlicher Zuwendung fußt, was, so sah ich das seinerzeit jedenfalls, der Wahrung der menschlichen Würde auch nicht unbedingt zuträglich wäre.
Während meiner Ausführungen hatte er die ganze Zeit über mit dem Kopf genickt, als wisse er nur zu genau, was ich ihm zu erklären suchte; zugleich konnte ich beobachten, dass sich ein Zug der Verbitterung über seinen gemeinhin eher heiteren Gesichtsausdruck legte. Dann, was ich bei ihm vorher noch nie beobachtet hatte, brach es aus ihm in immer wieder stockenden Sätzen hervor, auch er kenne das nur zu gut, sich zwischen dieser Form der Selbstvernichtung oder jener entscheiden zu müssen. Lange, viel zu lange habe er auf seinem Weg nach ganz oben durchgehalten, und viel zu viele derer, die zu gleicher Zeit das selbe Ziel verfolgt hätten wie er, dabei aus der Bahn geworfen. Manchmal habe er das sogar mit Lust getan, hatte er nach einigem Zögern noch hinzugefügt, ehe er sich auf die Lippen gebissen und für den Rest des Abends eisern geschwiegen hatte.
Doch im Morgengrauen war er plötzlich in mein Zimmer gekommen, hatte mich wachgerüttelt, und mir, nachdem ich mich aufgesetzt hatte, mehrmals aufgeregt mit dem Zeigefinger der rechten Hand gegen die Brust gestoßen und gesagt, ich solle Wittgenstein lesen. Man müsse bloß Wittgenstein lesen, wolle man ein für alle Mal wissen, was ein Mensch, der ein Mensch bleiben wolle, unter keinen Umständen zu wissen brauche. Verstünde man, was einer wie Wittgenstein sage, wiederholte er gleich mehrfach, und noch einmal als er bereits wieder in der Türöffnung stand, habe man nichts von der Welt und dem, was auf ihr vorgehe, verstanden. Wittgenstein sei der Testfall, ob man über Verstand verfüge oder bloß den Unfug nachplappere, den andere sich aus den Fingern gesogen hätten, um ihre Beamtenbezüge zu rechtfertigen, die nur solange flössen, wie vermieden wurde, sich mit den gerade herrschenden Machteliten anzulegen.
In den nächsten Tagen hatte er sich mir gegenüber verhalten, als sei nichts vorgefallen. Ich aber hatte den Eindruck, dass er mir aus dem Weg zu gehen trachtete.
Kurz darauf war er verschwunden; absolut wortlos. Alles, was nicht in den verschlissenen Rucksack, den er immer trug, ging er einkaufen, hineingepasst hatte, war dageblieben.
In manchen Stunden, in denen mir in der gespenstisch leeren Wohnung, aus der mittlerweile alle außer mir ausgezogen sind, die Decke auf den Kopf zu fallen droht, gehe ich in die bescheidene Kammer hinüber, in der er gewohnt hat, berühre nachdenklich das wenige, liebevoll von ihm selbst aufgearbeitete, inzwischen dick von Spinnweben und Staub überzogene Mobiliar, und nehme das eine oder andere seiner Bücher zur Hand, wodurch sich mir jedes Mal das Gefühl vermittelt, dass er nicht wirklich weg ist, sondern sich womöglich kraft eines nur ihm zugänglichen Wissens zwischen die Buchstaben geschmuggelt hat.
In der Regel hole ich mir dann etwas von dem Wein, lese ziellos in diesem Buch eine Seite und in jenem einen Absatz, und vermeine zu spüren, dass er mir heute um vieles näher ist als zu der Zeit, in der er bei uns gelebt hat.
Erst kürzlich fiel mir auf, dass ich begann, die Dinge, die er dagelassen hat, als Ausdruck unserer kurzen gemeinsamen Geschichte zu lieben. Wenngleich ich ihn auch gar nicht so gut habe kennen lernen dürfen, dass ich mit Sicherheit sagen könnte, er hätte es verabscheut, Dinge zu lieben, stelle ich mir das aber trotzdem so vor. Und gerade weil ich mir das so vorstelle, liebe ich die Dinge – jedenfalls diejenigen, die er mir hinterlassen hat – und hoffe zugleich, er möge nie mehr wiederkommen.
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