Hannah Rieth
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Paul
Um diese Zeit war Paul noch nie im Park gewesen. An normalen Tagen kam er gegen Mittag, legte seine Schultasche neben sich auf die Bank, saß einfach da und dachte. Dachte sich all die schweren Gedanken fort, und seine Angst. „Kinder in deinem Alter sitzen nicht auf Bänken, scher’ dich fort!“ hatte einmal eine Frau gezetert. Er war aufgestanden und nach Haus’ gegangen.
Heute würde er nicht gehen.
Zwei Stunden lang saß Paul nun schon und dachte. Dachte an gestern, die Wut, an Angst und an Ringe.
Die Kirchturmuhr schlug sechs Mal. „Noch ist sie nicht zuhause, noch hat sie nicht bemerkt, dass ich gegangen bin.“ Noch war es still.
Um sieben Uhr würde Pauls Mutter die Tür aufschließen und sich wundern, dass die Wohnung dunkel wäre. Sie würde ihre Jacke ausziehen, in die Küche gehen und sehen, dass der Abendbrottisch noch nicht gedeckt wäre. Sie würde ungeduldig nach Paul rufen und keine Antwort erhalten. Dann müsste sie schreien, „Paul!“, müsste sie schreien, aber Paul würde nicht kommen. Würde nie mehr kommen, nie mehr Mamas kleiner Mann sein, wenn ihre Wut mal satt war. Wenn sie ihn zu sich aufs Sofa zog und ihren Kopf in seinen Schoß legte.
Ob sie schon davon wusste? Ob Frau Mirbach ihr schon von der Prügelei erzählt hatte? „Hans lügt!“, dachte Paul. „Ich habe bestimmt einen Vater. Mama ist so wunderschön, ich muss einen Vater haben“.
An ruhigen Tagen beobachtete er sie heimlich vom Flur aus, wenn sie im Schlafzimmer vor dem Spiegel stand und ihre langen, blonden Haare bürstete. Sie war so stolz auf ihre Haare.
Manchmal ertappte sie ihn dabei. Dann fragte sie mit strenger Stimme: „Paul, gehört es sich, wenn ein Mann eine Frau beim Kämmen betrachtet?“ Und lachend: „Lass uns tanzen, kleiner Mann!“
Paul weinte. Er würde sie vermissen. Würde ihr Lachen vermissen, ihre Haare. Wenn sie nur öfter froh, wenn nur die Wut nicht wäre. Die kam fast immer viel zu schnell. Zu schnell um fortzulaufen. Zu schnell um leer zu sein. Zu schnell zu laut.
Paul würde Geld verdienen. Und wenn er genug zusammen hätte, würde er nach Amerika auswandern und in einer Fabrik arbeiten. Er würde Mama jeden Monat etwas Geld schicken. Damit es ihr besser ginge und sie sich schöne Dinge kaufen könnte. Damit sie öfter lachten könnte.
Am Ende des Parks flogen ein paar Tauben auf.
Anna
Anna atmete tief ein. Das tat sie immer, sobald sie das alte Eisentor hinter sich geschlossen hatte. Wenn sie allein war, endlich. Allein mit sich, den Gräbern und den Bäumen. Anna wollte lächeln. Allein und frei von all dem Lärm der letzten Stunden.
Sie fasste das Revers ihres Mantels mit beiden Händen und schlug es enger übereinander. Die Abende waren bereits kalt und der weiße Kittel unter ihrem Mantel wollte nicht mehr wärmen. „Wie könnte er auch?“ dachte Anna.
Sie hasste die Arbeit im Krankenhaus, hasste die Kranken, den Geruch. Und am meisten hasste sie das Sterben. Es war zu kalt, zu laut, so viel zu laut. „Wie sie stinken und wimmern und schreien, wenn sie sterben“, dachte Anna.
Sie setzte einen Fuß vor den anderen und versuchte, den Boden unter ihren Sohlen zu spüren. Manchmal gab er ihr Halt, manchmal gelang es ihr, sich mit ihm verbunden zu fühlen. „Verbunden,“ dachte Anna. Die Einsamkeit schreit lauter als der Tod. Einmal hatte sie sich mit einem Menschen verbunden gefühlt, einmal war ein Mann ihr Boden gewesen. Vor acht Jahren, bevor der Krieg begann. Emil hatte sie in einem Café angesprochen und gefragt, ob er sie einladen dürfte. Sie hatte den Kopf etwas zur Seite geneigt und einfach „ja“ gesagt.
Elf Monate später war er tot gewesen, elf Monate später hatte er sie mit ihrer Einsamkeit, der Last allein gelassen. Manchmal liebte Anna diese Last, manchmal erfüllte sie sie sogar mit Stolz. Doch meist war sie zu nah. Sie ließ sie oft an Emil denken.
Anna, Paul
Als Anna sich der letzten Biegung näherte, bemerkte sie, dass etwas anders war als sonst. Sie spürte, dass da Leben war.
Paul hörte ein Knacken und erschrak. Da waren Schritte, da kam was auf ihn zu. Im Dunkeln wird die Stille Angst. Paul musste aufspringen, musste rennen. Weit weg, weit weg. Wohin?
Anna war nun fast da. Sie hörte ein Rascheln, sah einen Schatten zwischen den Bäumen verschwinden. Ein Reh?
„Was immer das war, es ist weg“, dachte sie. Und glücklich fast: „Da ist sie, meine Bank.“ Ein paar Augenblicke später ließ sie sich sinken, die Tasche neben sich.
Um kurz vor halb sieben öffnete Paul die Wohnungstür und machte Licht. Es ist zu still im Dunkeln. Er ging in die Küche, nahm ein Streichholz und entzündete das Feuer. Im Dunkeln wird die Stille Angst. Dann griff er zum Topf, füllte ihn mit Wasser und setzte ihn auf den Herd.
Paul
Um diese Zeit war Paul noch nie im Park gewesen. An normalen Tagen kam er gegen Mittag, legte seine Schultasche neben sich auf die Bank, saß einfach da und dachte. Dachte sich all die schweren Gedanken fort, und seine Angst. „Kinder in deinem Alter sitzen nicht auf Bänken, scher’ dich fort!“ hatte einmal eine Frau gezetert. Er war aufgestanden und nach Haus’ gegangen.
Heute würde er nicht gehen.
Zwei Stunden lang saß Paul nun schon und dachte. Dachte an gestern, die Wut, an Angst und an Ringe.
Die Kirchturmuhr schlug sechs Mal. „Noch ist sie nicht zuhause, noch hat sie nicht bemerkt, dass ich gegangen bin.“ Noch war es still.
Um sieben Uhr würde Pauls Mutter die Tür aufschließen und sich wundern, dass die Wohnung dunkel wäre. Sie würde ihre Jacke ausziehen, in die Küche gehen und sehen, dass der Abendbrottisch noch nicht gedeckt wäre. Sie würde ungeduldig nach Paul rufen und keine Antwort erhalten. Dann müsste sie schreien, „Paul!“, müsste sie schreien, aber Paul würde nicht kommen. Würde nie mehr kommen, nie mehr Mamas kleiner Mann sein, wenn ihre Wut mal satt war. Wenn sie ihn zu sich aufs Sofa zog und ihren Kopf in seinen Schoß legte.
Ob sie schon davon wusste? Ob Frau Mirbach ihr schon von der Prügelei erzählt hatte? „Hans lügt!“, dachte Paul. „Ich habe bestimmt einen Vater. Mama ist so wunderschön, ich muss einen Vater haben“.
An ruhigen Tagen beobachtete er sie heimlich vom Flur aus, wenn sie im Schlafzimmer vor dem Spiegel stand und ihre langen, blonden Haare bürstete. Sie war so stolz auf ihre Haare.
Manchmal ertappte sie ihn dabei. Dann fragte sie mit strenger Stimme: „Paul, gehört es sich, wenn ein Mann eine Frau beim Kämmen betrachtet?“ Und lachend: „Lass uns tanzen, kleiner Mann!“
Paul weinte. Er würde sie vermissen. Würde ihr Lachen vermissen, ihre Haare. Wenn sie nur öfter froh, wenn nur die Wut nicht wäre. Die kam fast immer viel zu schnell. Zu schnell um fortzulaufen. Zu schnell um leer zu sein. Zu schnell zu laut.
Paul würde Geld verdienen. Und wenn er genug zusammen hätte, würde er nach Amerika auswandern und in einer Fabrik arbeiten. Er würde Mama jeden Monat etwas Geld schicken. Damit es ihr besser ginge und sie sich schöne Dinge kaufen könnte. Damit sie öfter lachten könnte.
Am Ende des Parks flogen ein paar Tauben auf.
Anna
Anna atmete tief ein. Das tat sie immer, sobald sie das alte Eisentor hinter sich geschlossen hatte. Wenn sie allein war, endlich. Allein mit sich, den Gräbern und den Bäumen. Anna wollte lächeln. Allein und frei von all dem Lärm der letzten Stunden.
Sie fasste das Revers ihres Mantels mit beiden Händen und schlug es enger übereinander. Die Abende waren bereits kalt und der weiße Kittel unter ihrem Mantel wollte nicht mehr wärmen. „Wie könnte er auch?“ dachte Anna.
Sie hasste die Arbeit im Krankenhaus, hasste die Kranken, den Geruch. Und am meisten hasste sie das Sterben. Es war zu kalt, zu laut, so viel zu laut. „Wie sie stinken und wimmern und schreien, wenn sie sterben“, dachte Anna.
Sie setzte einen Fuß vor den anderen und versuchte, den Boden unter ihren Sohlen zu spüren. Manchmal gab er ihr Halt, manchmal gelang es ihr, sich mit ihm verbunden zu fühlen. „Verbunden,“ dachte Anna. Die Einsamkeit schreit lauter als der Tod. Einmal hatte sie sich mit einem Menschen verbunden gefühlt, einmal war ein Mann ihr Boden gewesen. Vor acht Jahren, bevor der Krieg begann. Emil hatte sie in einem Café angesprochen und gefragt, ob er sie einladen dürfte. Sie hatte den Kopf etwas zur Seite geneigt und einfach „ja“ gesagt.
Elf Monate später war er tot gewesen, elf Monate später hatte er sie mit ihrer Einsamkeit, der Last allein gelassen. Manchmal liebte Anna diese Last, manchmal erfüllte sie sie sogar mit Stolz. Doch meist war sie zu nah. Sie ließ sie oft an Emil denken.
Anna, Paul
Als Anna sich der letzten Biegung näherte, bemerkte sie, dass etwas anders war als sonst. Sie spürte, dass da Leben war.
Paul hörte ein Knacken und erschrak. Da waren Schritte, da kam was auf ihn zu. Im Dunkeln wird die Stille Angst. Paul musste aufspringen, musste rennen. Weit weg, weit weg. Wohin?
Anna war nun fast da. Sie hörte ein Rascheln, sah einen Schatten zwischen den Bäumen verschwinden. Ein Reh?
„Was immer das war, es ist weg“, dachte sie. Und glücklich fast: „Da ist sie, meine Bank.“ Ein paar Augenblicke später ließ sie sich sinken, die Tasche neben sich.
Um kurz vor halb sieben öffnete Paul die Wohnungstür und machte Licht. Es ist zu still im Dunkeln. Er ging in die Küche, nahm ein Streichholz und entzündete das Feuer. Im Dunkeln wird die Stille Angst. Dann griff er zum Topf, füllte ihn mit Wasser und setzte ihn auf den Herd.