Hallo Bernd,
ein sehr Danke für Deine ausführliche Analyse zu diesem Haiku/Senryu,
und gleich vorab - ob es nun eines ist, oder nicht ? / dazu weiter unten
Habe mir nun für Deine Betrachtungen eine gute Zeit genommen - da Du echt in kleinste Ecken reingeleuchtet hast, und zwar sprachlich, inhaltlich und thematisch - bin begeistert,
und werde hiervon einiges in mein „Theorie-Kästchen“ legen
)
Das Problem bei diesem Gedicht scheint zu sein, dass es eine Mischung von "klassischer" Kunst, dadaistischer Kunst und "postmoderner" Kunst ist.
Es paart dadaistisch-expressionistische Wortschöpfung mit einer Art Jugendstilbilder.
Sehr ungewöhnlich ist diese Form des "kleinen Gedichtes".
Wie Du es sagst, hier war schon das Expressionistische(zu den Sinnenwahrnehmungen) meine Absicht.
Und auch dieser Versuch, gerade solche starken Wahrnehmungs-Momente in ihrem explodierenden Passieren nicht nur einzufangen, sondern nun in einem Kurzgedicht(3Zeiler) umzusetzen.
Hier geht es mir nicht um ein irgendwie Sinnen-Fühlen/Wahrnehmen - sondern um dieses „bestimmte“, einfallende/laufende Wahrnehmen,
also keine heischende Wort-Akrobatik, sondern um ein Klimax-Wahrnehmen - alles Absicht
),
und klar(bei mir),
so etwas fällt sprachlich nicht einfach vom Himmel / obwohl nur 3 Zeilen, oder gerade deswegen
Sinnenschleck und Knall
Ach himmelbeerlich Duft, mein
Lippenschmatz-Likör
Takt-isch und betonend, eben solch einen Knall-Lauf-Moment umzusetzen - für mich brauchte es hierfür Wort-Kreationen - und in dieser Drängung/Dichte sicherlich in die dadaistische Ecke reinschnuppernd
,
und doch die Leser-Erinnerung sprachlich bekannt zu reizen.
Und dann
läuft vielleicht etwas auf seine eigene Art und Weise weiter ab ????
Ich hätte es auch so schreiben können / und sicherlich ein Sinnen-Senryu
)) :
Sinnenexplosion
im Meer der Himmbeer-Düfte
Likör will Lippen
Doch jetzt, und genau „nur so“, wollte ich es nicht
Langsame und plötzliche Bewegungen folgen einander ("Sinnenschleck" - dann "Knall")
Beim Orig soll einerseits die Sinnen-Explosion voll im Laufen sein,
und andererseits nun diese Spitzen assoziativ ins Rollen bringen
)) / diese Drive-Änderungen, diese Intensitäts-Änderungen, diese Überlappungen, die passieren.
Zumindest, ich kann so fühlen, und mich fliegen lassen......., und hierzu meine sprachliche Spiegelung !
Was ein Rezipient hieraus fühlen kann, weiß ich nicht ?????
Duft nach Himbeeren, aber nicht ganz, sondern nur "lich" - ähnlich, gleichartig. Der Duft stammt nicht von Himbeeren, wirkt aber so, als ob.
-------Ist er Lippenstift? Parfüm? ... oder eine Mischung?
-------Der Schmatz, ein besonderer Kuss, der Verbundenheit ausdrückt - flüchtige heiße Begegnung - und hier eine Eigenschaft des Likörs ist, der ihn erzeugt oder bildet.
So kurz es ist, hat es auch eine erotische, wärmende Note.
Bernd,
und wie Du es hier in dieses Bild bringst - so war auch meine zweite Ebene, nun auch die Assoziationen ins leicht erotisierende Küssen zu bringen. Vielleicht vom Leser auch fühlbar, vielleicht nur das eine, oder das andere
)
Aber immer verbleibend im Bild des Fühlens - und nicht in eine plakatierte Handlung übergehend !! / so meine Absicht.
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Nun zum unerschöpflichen Thema : „Ist etwas ein Haiku(Senryu), oder nicht / ins Deutsche übertragen ?“
Wir haben nun hier die sehr feste Form des Haiku bzw. des Senryu.
Wie weit wird das Gedicht diesem Anspruch gerecht?
Klar - nun kann ich nur von meiner Erfahrung/Meinung(z.B. aus Büchern, und lesen, lesen.., und probieren..., und diskutieren..) erzählen.
Mir persönlich geht es inhaltlich einerseits um alte Formen, wie auch um moderne Formen - und gerade bei modern thematisierten Japanern ist die Denke genauso frei !!! / meine Meinung !
Was macht nun für mich ein jap.Kurzgedicht(in Deutsch) aus ?
Und hier beginnt nun genau die schwierige Umsetzung( wie auch immer wieder mir miss-passierend),
zum einen bei einem Wirk-Moment zu bleiben, also explizite, inhaltliche Verzweigungen/Bilder/Wörter zu vermeiden(die einem leicht passieren),
und zum anderen
in einer irgendwie doch Erzählsprache zu bleiben.
Soll heißen,
sprachliche und zeilige Zäsuren, wie auch Inhaltsbrüche eher(nicht immer) bindend zu gestalten - wieder meine Meinung.
Und als Gesamt-Einheit
soll(hoffentlich
) nun aus dem Ist-Bild ein Assoziations-Bild im Leser/Hörer in Gang kommen - und was beim Leser passiert, ist einzig seine Sache
)).
Ich meine, je erzählter ein Haiku ist, desto eher kann ein Leser auch etwas damit anfangen,
und zwar als Eigen-Bild, was einem „plitsch“ in den Sinn kommt
)),
und dann ist es das, was es ist - und, was beginnt zu laufen.
Und einen Rezipienten-Fehler kann es hierbei kaum geben - meine Meinung !
Ebenso glaube ich, dass ein Haiku/Senryu nicht jedermanns/fraus Sache ist - denn hierzu brauchts ja auch die freie Disposition im Leser/Hörer, sofort in einen Moment gestoßen zu werden/ werden zu wollen
)
Und gleichermaßen ist es mir bis heute auch nicht klar,
ob es zu heutigen Haikus/Senryus tatsächlich noch eine muss-stringente Aufteilung gibt/geben muss.
Zumindest kenne ich genügend viele(beides), die einzig als Haikus fungieren.
Und warum sollte der Rezipient aus reiner Natur-Darstellung nicht sofort ein Bild in die Vermenschlichung bekommen ?
Macht dann der Leser einen Fehler
))))))))))))))) / Klar, Kokolores !!!!!!!!!!!!!!!!!!,
wie es auch genauso umgekehrt passieren kann, von einem quasi Nicht-Naturbild in ein Naturbild zu assoziieren.
Gerade die
„ur-intensionale Absicht des Haiku“ ist es doch,
Ereignis-Momente(welcher Art auch immer) in ihrer immanenten Lebendigkeit und Weite zum Ausdruck zu bringen.
Doch wohl das Funktionalum eines solchen Japanischen Kurzgedichts !!!
Dieser Kurzgedicht Typus will erzählen, und zwar mit dieser intensionalen Absicht,
dass nun der Rezipient beginnt,
sich die seine eigene Geschichte mit der Gedichts-Vorgabe/Signal weiter auf seine Weise zu erzählen - es passiert, und es passiert auf des Rezipienten eigene Art !
Das ist für mich die Bedeutung solcher Kurzgedichte - meine Meinung, die so ist
))
Bernd, habe auch gleich mal in Deinen
Haiku-Ordner, hier stelle ich Haikühe rein (18.01.2001 / Feste Formen) zum hier Anklicken(in Deinem Kommentar) !,
reingeschaut - und echt, da sind schon einige sehr gelungene(mMn) drin !!!
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Hier nun aus meinem Haiku-Gedichts-Faden „Bachlauf“ ein für mich sehr bedeutender Kommentar von
Ivor Joseph :
Das 5-7-5 Schema ruiniert die meisten Haiku,
denn im Japanischen gibt es vieles nicht, was wir an Grammatik
benötigen.
Selbst ins Englische lassen sich Haiku viel leichter übersetzen
wie ins Deutsche, da es dort Verkürzungen gibt, die uns
kaum möglich sind.
Hier zum Beispiel ein in seiner Prägnanz (neun Worte!) unübersetzbarer Satz (ohne gekünstelt zu wirken). Es geht um die Gedanken eines Liebespaares, an Board eines Ozeankreuzers:
[ 8]She made him think, he made her love him.
Es gibt aber auch Texte, die sind nicht ganz Haiku,
und doch nicht sehr weit davon entfernt.
Um beim Wasserlauf zu bleiben, hier ein Beispiel von Toyotama Tsuno (alias Manfred Hausmann):
[ 4]Weil in der Stille des Tempelgartens
[ 4]das Quellwasser
[ 4]aus dem Munde eines bronzenen Drachen
[ 4]in ein Steinbecken fällt
[ 4]gibt es Zeit.
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Zurück zu Deinem Kommentar, Bernd :
Wie ist es beim Inhalt?
Wenn man es als Metapher betrachtet, so entfernt es sich von der japanischen Form,soweit ich sie heute verstehe. Sie erzeugt ein Bild direkt, ohne Metapher. und das macht das Gedicht.
Bernd - der hier von Dir geführte Gedankengang ist für mich ein
besonderer und grundlegender - derart,
inwieweit tatsächlich ein Haiku mit einer Metapher spielen und initiieren muss,
oder nicht
doch gerade anders herum,
dass ein gesprachtes Bild(in seiner selbst und Klarheit, oder provozierten Klarheit) nun dem Rezipienten,
in seiner Assoziation,
eine eigene Metapher-Weite erschließt, die nun der Empfänger eigen beschreitet ?????
(Natürlich auch sekundär sämtliche andere Variationen....
)
Ich persönlich vertrete mehr die zweite Möglichkeit,
dass die/eine initiierte Metaphorik und Weite
erst im und mit dem Leser passieren sollte
)) – und das Haiku sich primär erzählt.
Es wirkt offensichtlich aber auch polarisierend in der Lyrik-Gemeinschaft. Viele lehnen es ab, von einigen erhält es Zuspruch. Es ist, und das kann man mit Blick auf die Bewertung ---sagen, kein Mittelmaß.
Wie Du es sagst - dieses, wie auch andere meinige Haikus/Versuche polarisieren hier in der LL derart, als gäbe es hierzu nur ein Ja, oder Nein !!
)
Es ist so ! - und ich bleibe weiterhin auf meinem offenen Ohr und Auge Weg, es besser für den Leser (und für mich) zu machen(habe dafür ja viele Jahre Zeit
),
aber,
und vorausetzend : immer mit meiner Denke und Gefühlen !!
Auch davon bin ich überzeugt, dass ein Japanisches Kurzgedicht mindestens immer die eigene ICH-Ebene des Autors einfordert
))))))
Bernd,
und nun nochmal zusammen - vielen Dank für Deine ausführliche Analyse und fragenden Gedanken,
,
hat mir zu dieser Thematik viel gebracht !
und heute mal ein Jacko-Haiku-Tschüss
--