Lisi, ich - und Karl, der Große

Marc Hecht1

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1

Lisi sprach zuerst davon – auf ihre Art.
Denn sie hätte also gehört, dass es in Amerika diesen T. C. Boyle gäbe. Und ob ich den kenne?
»Natürlich«, versicherte ich.
Sie nickte. Und der wäre ja wohl ein recht erfolgreicher Schriftsteller?
Auch dem stimmte ich zu.
Ja, und nun hätte sie also gelesen, dass dieser Herr Boyle seine Romane doch tatsächlich in einem Baumhaus schreibe, irgendwo draußen, in der Wildnis.
»Aha?«
»Ja! Ist das zu glauben?« Sie nickte eifrig und erklärte direkt: »Vielleicht brauchst du ja auch ein bisschen mehr Einsamkeit. Für einige Zeit, zumindest.«
Sie sprach also zuerst davon – aber natürlich – auch ich hatte mir Gedanken gemacht, in den vergangenen Wochen. So, wie es war, konnte es jedenfalls nicht weitergehen.
Trotzdem – ich schluckte. Gab ihr jedoch in allem recht, und ja, der Gedanke wäre interessant.
Lisi nickte, fühlte sich offenbar bestätigt. Und hatte dann schnell begonnen, alles zu arrangieren.
Nur wenige Tage später jedenfalls waren wir nach Dahlem gefahren. Sie parkte dort vor einem der schönen Häuser. Wir betraten das Haus – und ein neues Spiel begann.

2

Lisi sah zauberhaft aus an diesem Tag. Sie trug ein Kostüm. Dunkelrot, mit schwarzen Säumen, sehr tailliert und sehr vornehm. Ihr braunes Haar war aufgesteckt, Lisi war schön und unnahbar zugleich. Sie sah an diesem Morgen aus wie die junge Jacqueline Kennedy.
Es war eine große Wohnung. Ich zählte später 34 Schritte längs und 24 quer, um sie einmal zu durchschreiten. Und sie war unfassbar günstig. 700 Mark – das war nichts! Wir mussten den Vermieter also unbedingt auf unsere Seite bringen.
Lisi, in ihrem hübschen Kostüm, umgarnte ihn dann aber nicht, sondern ließ sich schnell von ihm hofieren. Wie sie es gewohnt war. Der Vermieter war ein grauhaariger Mann, und vollkommen überfahren von ihrer Schönheit und Eleganz; allein die Möglichkeit, eine so schöne Frau künftig häufiger zu sehen, veranlasste ihn wohl zu allerhand Interesse. Aber er wohne schließlich mit seiner Familie direkt darunter; und ruhig müssten sie deshalb sein, die neuen Mieter, dies sei überhaupt das Allerwichtigste.
Lisi hatte schließlich erklärt, dass ich ein Schriftsteller wäre, der unbedingt Ruhe suche. Und schreibe, immer nur schreibe; der ruhigste Mieter der Welt, sozusagen, den jegliches Geräusch sogar störe bei seiner Arbeit.
»Und Sie leben zusammen?«, hatte der Vermieter gefragt.
»Ja …, aber jetzt eben nicht, weil mein Mann schreiben muss und Ruhe braucht.«
Der Vermieter hatte vorsichtig genickt. Dann hatte er mich angesehen. Seine hellblauen Augen standen ein bisschen hervor. Ich war ihm nicht recht geheuer, das war ganz offensichtlich. Wie konnte man eine Frau wie Lisi allein lassen, um hier im Dachgeschoss zu leben und zu schreiben?
Schließlich überwog aber wohl Lisis Schönheit – und dazu vielleicht auch die Aussicht auf den leisesten Mieter der Welt.
Lisi jedoch hatte damals nicht eher geruht, bis gleich auch eine Art Vertrag unterschrieben war. Sofort und auf der Stelle. Sie hatte sich übers Haar gestrichen und den Vermieter mit ihren braunen Augen fixiert. »Das müssen Sie nun aber verstehen«, hatte sie dabei erklärt, so, als täte sie ihm ohnehin schon einen Gefallen; und der Vermieter hatte selbstverständlich verstanden, hatte uns alles bescheinigt, schriftlich, für ein halbes Jahr – und monatlich 700 Mark – es war ganz unglaublich.

3

Und dann standen wir wieder auf der Straße. Sie zog die Haarnadeln heraus und schüttelte ihr Haar: »Zufrieden?«
»Tja …«, sagte ich, etwas zu lapidar und lässig; natürlich war es großartig – auf der einen Seite. Aber ich wollte die Situation klein halten und nicht so feierlich machen.
»Hör mal, Elisabeth ...«, ich wollte sie in den Arm nehmen, aber sie wehrte das ab, sah mich konzentriert an: »Der Mietvertrag war erst einmal das Wichtigste«, hatte sie erklärt, „der Rest ist jetzt nur noch ein Kinderspiel.“
Ich nickte. Und sie war plötzlich in Eile: »So, ich muss! Geh feiern und amüsier dich!«
»Mich amüsieren?« Ich hielt das für eine Schnapsidee. Aber Lisi ging bereits auf ihr Auto zu, blieb noch einmal stehen und kramte in ihrer Tasche nach dem Schriftsatz des Vermieters. »Hier«, sagte sie knapp, »den brauchst du. Dann fiel sie mir noch einmal um den Hals: »Es ist alles richtig und gut …, und du wirst es glänzend machen«, sagte sie, küsste mich, stieg ins Auto und fuhr davon.
Ich blickte ihr nach, mit meinem Vertrag in der Hand, und alles war still. Es war eine ruhige Straße. Ich stand da, eine Amsel sang von der Laterne herab und ich begriff erst in diesem Moment, wie sehr die Sache sich beschleunigt hatte.
Furios hatte Lisi das organisiert. Ganz auf die Schnelle. Durch ihre Quellen, über ihre Verehrer. Eine großartige Wohnung hatte sie mir besorgt, einen Auftritt hingelegt – und den Vermieter verzaubert.
Ich blickte auf den Vertrag. Handschriftlich, alles bestätigt. Für ein halbes Jahr hatte ich jetzt eine neue Wohnung. Himmel, das ging schnell!
Ich marschierte los und fühlte mich frei wie ein Vogel. Eine neue Wohnung in Dahlem! Der vornehmsten Gegend überhaupt in Berlin – aber dafür auch ziemlich abgelegen.
Es wurde Herbst, gelbe Punkte leuchteten in den Birken. Ich spazierte durch ruhige Straßen, an Bungalows und Villen vorbei, die hinter prächtigen Steinmauern lagen, mit Eingangsportalen und breiten Wegen, die wie kleine Alleen zwischen Birken und Rhododendren verschwanden.
Beruhigend war das – und wenn ich damals auch nicht viel von meiner Zukunft wusste – Ruhe wollte ich, langsam in einen gleichmäßigen Rhythmus kommen wollte ich, früh aufstehen, ruhig leben.

4

Ich wollte mich damals vergraben. Abtauchen. Für eine Zeit. Um dann, in völliger Einsamkeit, gesammelt und ausgeruht, endlich zu schreiben. Richtig zu schreiben.
Ein verrückter Plan, natürlich. An Verrücktheit eigentlich gar nicht zu überbieten.
Und trotzdem: Lisi, meine Frau, hatte mich damals vom ersten Moment unterstützt, bestärkt, ja, war Feuer und Flamme für diesen Plan. Seit Jahren hatte ich schon davon gesprochen – und nun war es eben so weit.
Natürlich – Lisi und ich hatten bereits eine Wohnung. In Berlin-Mitte. Die Sängerin und der Journalist – wir waren damals Yuppies. Die Wohnung hatte 120 Quadratmeter, man kann nicht sagen, dass wir unter Platznot litten.
Aber das Schreiben ist eine mühselige Sache.
Und Lisi klimperte unentwegt am Piano. Oder sie sang sich ein. Do, re, mi, fa ..., jeden Tag ging das so. Es kamen regelmäßig Gesangslehrerinnen ins Haus – und dann wurde eisenhart geübt. Härter könnte es in einem Box-Camp nicht zugehen.
Lisi brachte es damals manchmal fertig, stundenlang immer nur fünf Töne zu singen. Von oben und von unten. Mi mi mi mi mi – ma ma ma ma ma. Unerträglich war das! Und ich brauchte Ruhe, vor allem Ruhe. Ich war kein Caféhaus-Schreiber, der umherzog und unter Leute ging, mit Zetteln und Bleistift. Ich brauchte einen Schreibtisch mit Computer, meine Bücher - aber eben vor allem viel Ruhe. Um in Schwung zu kommen, mit der Schreiberei.
Das Thema stand also schnell im Raum. Denn auch Lisi mochte es nicht, wenn jemand ihr bei den täglichen Übungen zuhörte, selbst bei mir war sie komisch. Die Menschen sollten allein das Ergebnis dieses vielen Übens hören. Auf der großen Bühne, mit Orchester.
Jahrelang hatte ich kaum etwas von all der Überei mitbekommen. Ich war morgens aus der Wohnung gegangen und am späten Abend, oft erst in der Nacht, zurückgekehrt. Ich war Redakteur. Für eine große Zeitung hatte ich gearbeitet. In ein gläsernes Verlagshaus war ich marschiert, in mein Büro mit Blick über die Hauptstadt. So hatte ich meine Tage verbracht. Mit Meetings, Konferenzen, Terminen. Oder schreibend am Schreibtisch. Mein Dunstkreis war das Regierungsviertel. Hier war ich über Jahre zu Hause, besuchte Pressesprecher in den Ministerien, Staatssekretäre, manchmal auch die Minister selbst. Speiste mit Verbandspräsidenten, frühstückte mit Bundestagsabgeordneten, trank Kaffee mit Lobbyisten, war drin, im politischen Betrieb der Hauptstadt.
Eine tolle Sache, von Anfang an.
Als wir uns damals kennengelernt hatten, war sie schon eine kleine Berühmtheit. Die zauberhafte Sopranistin mit der glockenhellen Stimme. Wir waren stets ein überaus interessantes Paar, gern und viel eingeladen auf Partys. Besser ging es eigentlich gar nicht.
Doch ich war damals noch keine 40. Und ich wusste immer, dass ich irgendwann schreiben will. Richtig schreiben. In meinem Größenwahn hatte ich die Höhen, die ich in meinem Beruf bis dahin erklommen hatte, stets nur als Etappen zum großen Achttausender, zum Mount Everest, zum wirklichen Schreiben gehalten. »Korrespondent? Chefredaktion? Ja, hübsch – doch irgendwann werde ich richtig schreiben.« So in etwa war ich damals durchs Leben gegangen.
Und schließlich hatte ich gekündigt. Und alle waren ganz außer sich. Denn mein einziger Grund war: »Ich will schreiben.«
Man war allgemein konsterniert. Mir wurden viele Vorhaltungen gemacht, Ratschläge erteilt. Vorgetragen stets in der erkennbaren Überzeugung, dass man es mit einem vorübergehend Verrückten zu tun hätte. Den man wieder auf die richtigen Gleise stellen müsse. Entsprechend wimmelte es von »nun sei doch mal vernünftig«. Oder: »Schlaf doch einfach noch mal drüber.« Oder: „Schreiben kann man doch auch nebenbei!“
Nein, wirklich Verständnis hatte damals im Verlag niemand, es herrschte vielmehr die Überzeugung vor, dass ich einen sicheren und gut dotierten Job aufgeben wollte – um dafür Unsicherheit und vermutlich irgendwann Armut einzutauschen.
»Vorübergehend verrückt. Spielt den armen Poeten.« So etwa war die allgemeine Stimmung – und mein Chefredakteur hatte am Ende gar erklärt: »Wenn ich einen Stein nehme und durch Berlin werfe, treffe ich garantiert einen arbeitslosen Journalisten. Und Sie werfen Ihren Job einfach so weg!«
Ich aber war entschlossen, felsenfest. Ich wollte Schriftsteller werden. Mit Haut und Haaren. Vielleicht würde ich später wieder als Redakteur arbeiten, hatte ich gedacht, aber jetzt erst einmal nicht mehr. Für mich gab es nicht den kleinsten Hauch eines Zweifels. Mein künftiger Weg schien golden und glasklar vor mir zu liegen.

5

Ich war eingezogen, in Dahlem. Ein schöner Blick war es, auf die ruhigen Gärten und auf die Bäume.
Es waren große Fenster, sehr groß. Ich sah hinaus, immer wieder hinaus auf die vielen Bäume. Ein großer Unterschied war es, ob man auf Straßen und andere Mietshäuser blickt, oder auf Gärten und einen Wald im Hintergrund; ganz kolossal anders, hier strahlte eine andere, eine tiefere Ruhe herein.
Zwei Tage verbrachte ich vornehmlich damit, bewundernd auf- und abzugehen. Ich rückte hier noch etwas zurecht, sortierte da noch etwas ein, die letzten Bücher – und einen halben Tag verwendete ich allein darauf, ein Bild aufzuhängen. Ein Selbstbildnis von Corinth. Das Bild war großartig, es zeigte jede Empfindung. Schmerz, Hoffnung, Entschlossenheit, alles konnte man ablesen in diesem Gesicht. Ich wollte so stark wie er werden, so streng, als Künstler. Lange ging ich hin und her und überlegte, dass er mich ablenken könnte, mit seinem strengen Blick. Suchte und suchte nach einem geeigneten Platz für das Bild – bis ich es schließlich doch genau über meinem Schreibtisch aufhängte.
Es wurde schlagartig ruhig um mich. Stille Tage waren es, im gleichmäßigen Rhythmus. Ich stand früh auf, ging früh schlafen. Und genoss es. Glaubte damals, mich so am besten auf meine große Aufgabe vorbereiten zu können.
Ganz eigene Regeln hatte ich damals, sehr eigen: Bereits zwei Stunden vor Sonnenaufgang stand ich auf. Dann setzte ich mich mit schwarzem Kaffee an den Schreibtisch.
Die frühen Morgenstunden, davon bin ich bis heute überzeugt, sind die besten. Die Zeit, in der es Tag wird.
Ich konnte dann ganz wunderbar konzentriert arbeiten. Wenn aus der Nachtruhe der erste Vogel zwitscherte; ein zweiter antwortete, noch verschlafen. Wenn das Konzert anschwoll, vielstimmig wurde, um den neuen Morgen zu begrüßen; und wenn dann das erste Licht die Konturen der Bäume und des Gartens aufzeigte. Das war eine schöne Tageszeit, in der ich gut vorankam.
Ich schrieb damals immerhin regelmäßig. Jeden Tag pünktlich, zwei Stunden vor Sonnenaufgang. Und dann später noch einmal zwei Stunden – insgesamt vier Stunden pro Tag, länger selten.
Anfangs hatte ich gedacht, dass es acht Stunden sein müssten, mindestens, wie in jedem anderen Beruf auch, wenn man es ernst mit ihm meinte. Aber ich hatte schnell gelernt: Vier Stunden waren ideal. Damit konnte man die dicksten Romane schreiben – wenn es nur stetig und gleichmäßig war.
Es waren großartige Tage. Mit dem Sonnenaufgang, nachdem ich bereits zwei Stunden gearbeitet hatte, zog ich los. Sah die alten Bäume in Dahlem, die Kastanien und die teuren chinesischen Kirschblütenbäume im ersten Tageslicht. Von Steglitz fuhr ich dann mit der U-Bahn bis zum Hansaplatz und marschierte durch den Tiergarten. Die grüne Pracht der Hauptstadt! Es rüttelte mich auf, die frische Luft, das frühe Licht, manchmal wollte ich mich kneifen – ob es nicht doch nur ein schöner Traum wäre.
Und ich war mächtig Boheme, in dieser Zeit. Trug weiße Schals und eine Baskenmütze, setzte mich nach meinen Spaziergängen in schicke Bistros, direkt auf dem Kurfürstendamm, las Mark Twain und trank schon am Mittag Sherry und tschechisches Bier. Und fühlte mich fabelhaft.
Himmel, war das ein Leben! Hier zu sitzen, ausschließlich zum Plaisier, hehe! Ich war jetzt ein Schriftsteller! In der Hauptstadt! Der mittags auf dem Ku`damm frühstückt.

6

Lisi hatte mich nur einmal besucht in dieser ersten Zeit. Ich wollte sie sofort ins Schlafzimmer tragen, aber sie ließ es nicht zu. Nein, sie war ganz und gar nur zu Besuch. Ging im großen Zimmer umher, inspizierte die Küche, das Badezimmer, alles fand sie zauberhaft, zu allem nickte sie freundlich, das Schlafzimmer betrat sie gar nicht, sondern warf nur einen kurzen Blick hinein – und dann saßen wir in der Küche.
Ich kochte Kaffee, wir saßen uns gegenüber am kleinen Tisch und ich blickte ihr in die Augen. Aber sie ließ nicht einmal das zu, heute nicht, sie war nur zu Besuch. Sah umher, knabberte an einem Keks und parlierte, ein angenehmer Gast, freundlich, dankbar für den Kaffee.
Wir waren damals seit Jahren schon ein Paar, ich kannte das. Lisi hatte die neue Situation damals noch nicht verarbeitet, das war offensichtlich. Sie wollte aber auch nicht darüber sprechen, hielt sich das Thema vom Leib, auf ihre Art. So machte sie es immer, sie plauderte dann, aufreizend divenhaft, endlos und belanglos, über die unmöglichsten Dinge. Über eine neue Blütentee-Mischung etwa, von der sie gerade gelesen hätte, oder über die Vorzüge der russischen Klavierausbildung; sie erklärte, dozierte, und konnte mit diesem Gehabe unglaubliche Mauern aufbauen.
Früher war das manchmal ein Spiel zwischen uns, ich hörte dann übertrieben aufmerksam zu, fragte interessiert nach und machte eine tolle Sache aus ihrem Blütentee: »Wirklich? … Eine neue Sorte?« Das wäre ja nachgerade eine Sensation. Wo doch sonst auf dieser Welt schon alles entdeckt wäre …
Sie musste dann lachen und die Mauer fiel, so war es früher.
Bei ihrem ersten Besuch jedoch, in meiner neuen Wohnung, fiel die Mauer nicht. Lisi war belangloser denn je, ganz Diva, sie nippte am Kaffee und erklärte schließlich ernsthaft: »Ruhe und Abgeschiedenheit sind jedenfalls überhaupt das Allerwichtigste für einen Schriftsteller.«
Ich hatte es auf die alte Art versucht: Oh, das hätte sie jetzt aber sehr treffend formuliert. Aus diesem Blickwinkel hätte ich es noch gar nicht betrachtet …
Sie sah auf, wütend, ihre Augen funkelten: »Du nimmst es nicht ernst!«
Ich schwieg, betroffen, ärgerlich über meinen kleinen Witz.
Aber dann blickte sie wieder vornehm und lächelte freundlich und knabberte an ihrem Keks, nur für einen kurzen Moment war sie hilflos geworden. Ich liebte sie sehr dafür, ja, ein warmes Gefühl der Freude schoss mir durchs Herz.
Nach zwei Stunden fuhr Lisi wieder davon. Sie hatte mich nur einmal geküsst, flüchtig, beim Abschied. Ich saß auf ihrem Platz in der Küche. »Du nimmst es nicht ernst«, hatte sie gesagt, und es war im Grunde das Schlimmste, was sie überhaupt sagen konnte. In dieser Frage durfte ich keinesfalls noch einmal in schiefes Fahrwasser geraten.
Schließlich hatte ich Lisi, meine Frau, verlassen, um zu schreiben. Und sie hatte es verständnisvoll und klaglos hingenommen; hatte den Weg sogar ganz maßgeblich bereitet, sich um diese Wohnung gekümmert. »Sie darf nie wieder denken, dass ich die Sache nicht ernst nehme«, schwor ich mir.

7

Und doch – reibungslos verlief mein Start damals nicht, ganz und gar nicht. Es war verrückt. Ich hatte meinen Job schließlich nicht verloren, ich war nicht abgewickelt worden – ich hatte meinen Beruf vielmehr abgegeben. An der Garderobe, sozusagen. Um richtig zu schreiben.
Aber die Wochen vergingen – und ich spürte, wie sehr ich meiner Vergangenheit, eben diesem Journalistenleben, noch verhaftet war. Vielleicht war der Sprung doch zu abrupt gewesen, hatte ich damals oft gedacht, jahrelang war ich in diesem Leben, diesem bunten und schnellen Leben, immer in Hektik, immer im Kampf gegen die Uhr, jeder Tag war anders. Ich hatte jetzt keine täglichen Konferenzen mehr, kein ständiges Durchkauen der aktuellen Meldungen, keinen Meinungsaustausch. Kein Mensch wollte hören, wie man jetzt diese oder jene Geschichte anpacken könnte, was ich hiervon oder davon halte – ich war draußen.
Und jetzt waren alle Tage gleich.
Aber genau dies hatte ich mir ja auch so sehnlichst gewünscht, so heiß herbeigesehnt.
Trotzdem – der Stillstand machte mir nun doch zu schaffen. Ich ging spazieren, auch an trüben Tagen. Es war bereits später Herbst geworden und Berlin konnte recht grau und abweisend sein, an solchen Tagen, mit seinen breiten Straßen, den vielen Autos und Menschen, den Ampeln und den nicht endenwollenden Häuserschluchten.
Kreuz und quer ging ich damals durch die Stadt, hatte mir ausgefallene und lange Routen ausgedacht. Vom Alexanderplatz bis nach Pankow, von der Jannowitzbrücke bis runter zum Russischen Ehrenmal in Treptow, an der Spree entlang; ich legte mir alle möglichen Wege fest und wanderte sie ab.
Oft ging ich damals zum Dorotheenstädtischen Friedhof. Brecht und Heinrich Mann, Fichte und Hegel, Zweig, Becher, Anna Seghers – sie alle lagen hier in ihren Gräbern. Auf einem uralten Friedhof, 250 Jahre alt, mitten in der Stadt.
Wie ein Gral erschien mir der Friedhof – obwohl er doch nur durch eine Mauer getrennt war, von der lauten und hauptstädtischen Chausseestraße. Und man verließ den Friedhof, tauchte sofort wieder ein in die Großstadt, und nur ein paar Baumwipfel hinter der Mauer erinnerten an den Gral.
Lisi war viel unterwegs. Sie wurde gebucht, gab Konzerte, es lief großartig bei ihr. Ihre Erfolge nahmen zu, sie eroberte die Herzen mit ihrem Gesang.
Für den gesamten Dezember war sie schon ausgebucht, für Weihnachtskonzerte und Galas, mit ihrer wundervollen Stimme. Lisi, die zauberhafte Sopranistin. Jeden Tag hatte sie jetzt einen Auftritt. Irgendwo in Deutschland.
Meist rief sie mich spät am Abend an, nach dem Konzert aus ihrem Hotelzimmer – und erzählte. Von besonders viel oder nicht so viel Applaus, von kleinen Pannen mit dem Licht oder mit dem Orchester, Lisi fiel oft in ein Loch, an diesen Abenden; eben wurde sie noch gefeiert, unter Beifall und Blumen war sie umjubelt von der Bühne geschwebt – und dann saß sie abends allein in ihrem Hotelzimmer, in einer fremden Stadt. Und ich fehle ihr so. Und ob es denn wenigstens voranginge, mit dem Schreiben?
Ich log stets feurig drauflos und beruhigte sie und brachte sie sozusagen telefonisch ins Bett, deckte sie zu, gab ihr einen Gute-Nacht-Kuss – und sie schlief ein, manchmal legte sie nicht einmal mehr den Hörer auf.

8

Mein altes Leben ließ mich nicht los. Nicht so schnell, jedenfalls. Nicht so schnell, wie ich es eigentlich erwartet hatte
Manchmal schlich ich um das Verlagsgebäude herum, auf meinen Wanderungen durch die Stadt. Es zog mich dorthin, in die vertraute Umgebung, ich schlenderte die Kochstraße auf und ab, setzte mich in Cafés Unter den Linden, trieb mich im Regierungsviertel herum, hoffte, ein paar Bekannte zu treffen, Kollegen.
Manchmal traf ich welche, stets jedoch war es so, als wenn sie ein bisschen peinlich berührt wären. Immerhin hatte ich damals einfach so gekündigt. Ein Donnerschlag war das gewesen. Und jetzt schlich ich hier herum. Sie glaubten mir wohl nicht den Zufall, den ich ihnen vorspielte, den Zufall, sie hier zu treffen. Meist fühlte ich mich schlecht nach solchen Begegnungen.
Einmal traf ich auf diesen Streifzügen Deewee. Er kam mir entgegen, auf der Friedrichstraße. Deewee – Dietrich Wilken, der seine Artikel stets mit »dw« kennzeichnete, und waren es auch nur Zehnzeiler. Niemand in der Redaktion war je so eitel wie Deewee, so eitel, noch die kleinste Meldung mit dem eigenen Kürzel zu versehen. Aber deshalb hieß er eben auch Deewee.
In der Redaktion ging er allen stets nach kurzer Zeit auf die Nerven. Weil er alle halbe Minute den Kopf hob – und jeden bei der Arbeit störte: »Heißt es: Residiert im Schloss oder auf dem Schloss? Heißt es: Trotz dem Regen oder trotz des Regens? Was ist besser – demzufolge oder dem zur Folge?« Deewee war nervig.
Doch im Grunde war er in Ordnung. Er war jetzt schon in den 50ern. Trotzdem trug er noch lange Haare, früher dunkel, jetzt überall schon silbrig. Und seine Haare waren immer unordentlich.
Deewee war, schlicht gesagt, ein bisschen verrückt. Sein Blick war immer noch der eines Kindes, das gerade zum ersten Mal etwas verstanden hat, voller Verwunderung.
In der DDR war er wohl jemand, damals. Deewee, der große Schreiber. Einmal hatte er es wohl fertiggebracht, in einer großen Reportage über eine Schwimm-Weltmeisterschaft nicht ein einziges Mal das Wort Wasser zu benutzen. Stattdessen wimmelte es von kühlem Nass, nassem Element und blauen Fluten.
Mit der Einheit begann dann Deewees Abstieg. Sein blumiger Stil wurde lächerlich. Er war damals eigentlich nur noch ein Relikt.
Und dann kam er mir also entgegen. Es hatte geschneit, eine dünne Schneeschicht bedeckte den Gehweg. Deewee freute sich ehrlich. Und fragte unvermittelt: »Wie lang ist eigentlich ein Atemzug? Einmal ein- und ausatmen?«
Ich sah ihn überrascht an. »Na, so fünf Sekunden vielleicht, warum?«
»Ich brauche das für eine Berechnung. Also, fünf Sekunden. Sind zwölf pro Minute, mal 60 – 720 pro Stunde – mal 24 pro Tag und mal 365 pro Jahr. Wie kriegt man das jetzt raus?«
»Ist es wichtig?«
»Ja.«
Ich nahm also einen Stift aus der Tasche, fing in die Knie und schrieb in die dünne Schneedecke auf der Friedrichstraße 720 x 24, kam auf 17.280 und multiplizierte das im Schnee mit 365. Heraus kam irgendetwas um sechs Millionen.
Deewee war begeistert: »Klasse Idee, hätte ich auch selbst machen können.«
»Wofür brauchst du es denn?«
»Ich schreibe gerade über einen Geschäftsmann, der in einem Jahr knapp zwölf Millionen verdient hat. Bei sechs Millionen Atemzügen pro Jahr sind das also zwei Mark pro Atemzug.«
»Ach so.«
Wir waren jetzt beide vollgeschneit, verabschiedeten uns – und jeder ging seinen Weg. Und ich beneidete Deewee dafür, dass er sich mit solchen Sachen beschäftigen durfte. Und auch noch Geld dafür bekam. Deewee war eben noch immer ein Redakteur. Er war noch in der Karawane, die ohne mich weitergezogen war.


9

Immerhin, mit meinem Roman hatte ich schwungvoll begonnen. Die ersten Seiten, die ersten Kapitel.
Aber dann steckte ich doch schnell fest. Weil ich unglaublich viele Dinge überhaupt nicht bedacht hatte.
Und ich schämte mich bald sogar dafür, dass ich so unvorbereitet in dieses Abenteuer gestürzt war. Bekam jetzt erst eine Ahnung davon, wie unglaublich blauäugig und schlecht vorbereitet ich in dieses Projekt marschiert war. Ich war losgesprintet wie beim Hundertmeterlauf, aber ein Roman ist nun einmal ein mühseliger Marathon.
Schnell dümpelte ich auf der Stelle, ja, schien bald vom eigentlichen vagen Ziel eher wegzutreiben. Es gab so unendlich viele Dinge, die ich noch bedenken musste, sollte das Ganze dann wirklich mal irgendwann rund werden.
Und jedenfalls - ich lenkte mich auch ausgiebig ab in dieser Zeit. Saß in Cafés herum, manchmal in einem halben Dutzend Cafés, an einem Tag. Mit einem Buch von Sherwood Anderson oder von Stephen Crane. Nur, um am Ende des Tages festzustellen, dass eine so reine und klare Sprache im Deutschen sowieso nicht herzustellen wäre.
Am nächsten Tag nahm ich ein paar deutsche Schriftsteller, zog wieder los, um mir das Gegenteil zu beweisen.

10

Und dann kam der Tag, an dem ich Charly besucht hatte. Karl, den Großen.
Er war auch raus, längst. Aber zu seiner Zeit war er eine Ikone. Und ich hatte ihn besucht. In meiner Einsamkeit. So, wie ein altes Zirkuspferd sich wieder wiegt, wenn es die Musik hört, wollte ich bei Charly wieder die Reporter-Musik, den alten Geruch der Zeitung erleben. Wollte ich schwelgen mit ihm, in Erinnerungen an die alte Zeit.
Damals, vor 20, 30 Jahren, war Charly ein bekannter Mann gewesen. Seine Artikel und Reportagen, aber auch seine Marotten und seine Spleens, hatten ihn berühmt gemacht.
Einmal hatte er von seinem Verleger einen grünen Schreibtisch gefordert und ein anderes Mal einen Jaguar als Dienstwagen. Und alle fanden es chic. Marotten gehörten damals dazu.
Charly hatte sich früh diesen amerikanischen Stil angewöhnt, knapp und lapidar, als einer der Ersten in Deutschland. Ein bisschen Hemingway, ein bisschen Bukowski, ein bisschen sarkastisch und derb. Verdammt hatte er oft in seinen Reportagen geschrieben, oder verflucht: diese verdammte Sonne ..., der verfluchte Regen.
Sicherlich – viel Geld hatte Charly bestimmt verprasst, in diesen Jahren. Auch ein paar Frauen waren ihm davon gelaufen. Und er war Alkoholiker.
Doch selbst damit war er stets gelassen umgegangen: »Sind wir nicht alle Alkoholiker?«, hatte Charly dann gefragt, vergnügt, in großer Runde. »Irgendwie zumindest, die unterscheiden das ja …, Alpha, Beta, Delta. Ich bin noch Alpha – aber dafür schon lange!«
Und alle hatten geprostet, gelacht – das war eine schöne Zeit. Man konnte sich sonnen in der Gegenwart von Charly. Seine Lokale hatte Charly gehabt, seine Stammplätze, sogar seine Flaschen, mit einem Namensschild daran. In vielen Lokalen, in vielen Städten. Und oft hatte er in jedem Arm eine Frau. Und alle waren glücklich, wenn sie auch an diesen Tischen sitzen durften. Mit Karl, dem Großen.
Ich war noch jung, als ich ihn kennenlernte. Aber er bot mir dann an, ihn Charly zu nennen. Eine große Ehre war das. Ich wurde regelrecht beneidet darum.
Charly konnte fabelhafte Geschichten erzählen. Geschichten, die sich betrunkene Journalisten erzählen. Zynisch und böse. Trotzdem großartig. Einmal hatte er erzählt, wie ein alter Mann in die Redaktion gehumpelt kam, an Krücken. Der alte Mann hätte sich regelrecht hingeschleppt in die Redaktion. Und er wäre sehr erbost gewesen. Denn man hätte ihn für eine Straßenumfrage missbraucht – und so, wie es jetzt in der Zeitung abgedruckt wäre, hätte er dies nie gesagt. Deshalb wolle er die Zeitung also anzeigen. Wegen Verleumdung.
Charly war auf den Mann zugegangen, hatte verständnisvoll genickt und erklärt: »Ja, das kann ich verstehen! Also, wenn Sie die Zeitung jetzt anzeigen wollen: Die Anzeigenabteilung ist im dritten Stock.«
Die Geschichte war ein Klassiker, damals.
Und dann hatte Charly mir die Tür geöffnet. Wir waren verabredet, aber er hatte es offensichtlich vergessen. Im Bademantel stand er vor mir, in einem riesigen, grauweiß gestreiften Bademantel. Und in Pantoffeln. Ein Stück seiner mächtigen Unterschenkel war unter dem Saum zu sehen, käsig-weiße Unterschenkel, mit blauen und roten Adern durchzogen. Verständnislos hatte er mich angesehen. »Marc!«, hatte er gesagt, gedehnt, offensichtlich überrascht, er glotzte mich regelrecht einen Moment lang an.
»Marc!«, sagte er dann noch einmal. Und seine Augen waren wässerig, sein Haar war jetzt fast weiß. Und auch ein bisschen zu lang. Und ein fulminantes Doppelkinn hatte er. Und eine rot geäderte Nase.
Ich starrte ihn an. Wie er dastand, in der Wohnungstür, im Bademantel.
»Komm rein«, sagte er schließlich, und ich folgte ihm. Die Wohnung war nicht eben aufgeräumt, überall lagen Sachen herum. Er blieb dann jedoch nicht im Wohnzimmer, sondern ging weiter ins Schlafzimmer, wortlos. Ich zögerte, blieb an der Tür stehen.
Er drehte sich um. »Was ist?« Spöttisch blickte er mich an: »So ist das nun mal, ich bin jetzt langsam alt!«
Ich nickte.
Er zog sich ungeniert den Bademantel aus und stand in Unterhose, in Unterhemd und Socken vor dem Schrank. Selbst das riesige Unterhemd spannte. Er war jetzt viel zu dick. Übermäßig dick, peinlich, aufsehenerregend dick. Und – seine fleischigen schlaffen Beine, seine dicken Arme, sein gesamter wabbeliger Körper war bleich, weiß fast – furchtbar hässlich.
Er öffnete die Schranktür und suchte ganz offensichtlich. »Nächstes Jahr werde ich siebzig. Wusstest du das?«, fragte er dabei.
Ich schüttelte den Kopf.
»Ja. Und bis dahin will ich auch wieder ein bisschen abnehmen ...«, er suchte weiter in seinen Sachen, doch dann drehte er sich unvermittelt um: »Vor ein paar Wochen, im Restaurant, haben sie mir eine kleine Tischdecke gebracht. Statt einer Serviette! Das war übertrieben, zugegeben, aber sie hatten sich nicht anders zu helfen gewusst. Die Serviette war für mich ein Witz!«
Ich lachte, pflichtschuldig – und er sah mich amüsiert an: »Eine Tischdecke! Ist das zu glauben?«
Schließlich zog er eine Anzughose hervor: »Heute ist ein besonderer Tag für mich. Und ich hatte dich auch, offen gesagt, vollkommen vergessen. Tut mir leid.«
»Macht nichts«, sagte ich, ein bisschen beleidigt.
Er stand da, mit seiner Anzughose in der Hand, sah mir ins Gesicht und blickte dann an sich herunter. »Adonis geht auf Tour!«, sagte er, ironisch, liebenswert.
»Warum ist denn heute ein besonderer Tag«, fragte ich.
Er setzte sich aufs Bett, versenkte seine dicken Beine in die Hose, keuchte dabei ein wenig und stand umständlich wieder auf. Die Hose war eng, eigentlich zu eng. Missmutig blickte er wieder an sich hinunter, konnte von der Hose jedoch offensichtlich nichts erkennen. »Moment«, sagte er und hielt dann die Luft an. Aber er bekam die Hose nicht zu. Und schließlich packte ihn der Trotz: »Die habe ich ja auch schon seit Ewigkeiten nicht mehr getragen, seit Ewigkeiten!«
»Und jetzt willst du sie wieder anziehen?«
»Ja!«
Charly mühte sich weiter mit der Hose und fragte dabei: »Weißt du, wer demnächst vierundachzig geworden wäre?«
Ich sah ihn spöttisch an. Nein, dies wüsste ich nun nicht.
»So, wirklich nicht? Dabei war er einer der Größten! The voice.«
»Sinatra?«
»Genau, Frank Sinatra! In ein paar Tagen wäre er vierundachzig geworden.«
»Aha«, sagte ich, »aber der ist doch gerade erst gestorben.«
Charly zog ein weißes Hemd an und knöpfte es über seinem Bauch zu.
»Na und?«, er blickte listig zu mir herüber: »Bei Frank Sinatra ist jeder Geburtstag ein Ereignis. Und dies ist der erste, den er nicht mehr erlebt!« Charly nahm eine dunkelblaue Krawatte aus dem Schrank.
»Verstehe.«
»Von allein wären sie natürlich nicht darauf gekommen, ich musste sie erst darauf hinweisen. Aber ich treffe mich nachher mit dem Redakteur, damit wir alles absprechen.« Charly klappte den Kragen des Hemdes hoch, um die Krawatte zu binden, »immerhin hatte ich als junger Reporter mit Frankie zu tun, wusstest du das? Zwei Interviews, zwei große Interviews waren das damals. In Kalifornien …, vor fast 40 Jahren.«
»So?«
»Ja. Und nun soll ich also noch einmal einen Abgesang schreiben.«
Ich nickte und betrachtete ihn – von der Tür seines Schlafzimmers. Wie er sich voller Eifer die Krawatte band. Er lächelte, über das Spiegelbild, zu mir zurück, etwas verschlagen.
Es war furchtbar. Ich schluckte. Karl, der Große! Er hatte die Redaktion überredet, einen Artikel schreiben zu dürfen. Früher war es anders herum.
»Wie war er denn so, der Herr Sinatra«, fragte ich, um meine Bestürzung zu überspielen.
Charly winkte weltmännisch ab. »Ava Gardner war dabei, damals. Betrunken. Als Frankie einmal den Raum verließ, hatte sie mir zugezischt: ‘Write it: ‘He’s hung like a horse` – er ist bestückt wie ein Pferd …, hehehe! Natürlich hatte ich das nicht geschrieben – aber die Gardner war schon verrückt.«
Es war sehr traurig. Als ich nach Hause ging, bekam ich das Bild nicht mehr aus dem Kopf. Fett und alt war Charly geworden. So fett, dass sie ihm eine Tischdecke brachten, im Restaurant, statt einer Serviette. Mit trüben Augen und rot geäderter Nase hatte er da gestanden, in seinem Schlafzimmer, käsigweiß und schwabbelig – verlebt, in seiner düsteren und unaufgeräumten Wohnung. Aufgeregt, weil er noch einmal in die Redaktion durfte, um einen Artikel zu schreiben. Seinen besten Anzug hatte er dafür herausgesucht. Obwohl der ihm längst nicht mehr passte.
Charly marschierte jetzt offenbar los, um Redaktionen seine Artikel aufzudrängen. Und demnächst wurde er siebzig Jahre alt. Und früher war er Karl, der Große. Er hatte immer viel verdient – aber es war ihm wohl stets durch die Finger geglitten. Und jetzt stand er da. Wenn das Geld nicht reicht, kann man nicht in Würde alt werden als Journalist, hatte ich überlegt. Dann muss man als alter Mann noch in Redaktionen marschieren. Und alle verdrehen heimlich die Augen. Und als Gnadenbrot nimmt man Charly den Geburtstag von Frank Sinatra ab. Und im kommenden Jahr wird er wohl versuchen, nun auch noch dessen nächsten Geburtstag zu verkaufen …
Es war bereits dunkel und es begann zu schneien, als ich die Bismarckstraße hinab zum Ernst-Reuter-Platz marschierte. Die Lichter der Stadt waren hell und unpersönlich, es war kalt. Für meine eigene Zukunft rann mir ein Schauer über den Rücken.
Ich dachte viel nach, in den nächsten Tagen. Über Karl, den Großen – und über meine Situation. Es war ein bisschen verrückt: Charly hatte mir damals einen Schub verliehen. Einen Arbeits-Schub. Ich wollte schlichtweg nicht enden wie er. Er war jetzt alt. Ich war noch jung. Aber nichts rast ja schneller als die Zeit.
 



 
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