Lockdown light

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Blauer Jie

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Ich saß im Zug. Ich wollte aber gar nicht im Zug sitzen. Und dennoch musste ich, beruflich wurde ja im Gegensatz zum ersten Lockdown nichts eingeschränkt. Des einen Freud, des anderen Lockdown light. Ich schmunzelte und war stolz auf mein schlechtes Wortspiel. Man musste auch den schlimmsten Lagen etwas Fröhliches abgewinnen. Meine Firma hatte mich zu einem Kundentermin verdonnert, bei dem ich unser neuestes Produkt an den Mann bringen sollte. Und da hatten sie ausgerechnet mich dazu auserkoren. Mir waren sowohl unsere Firma, unser Produkt als auch unser Kunde egal, aber völliges Desinteresse und Apathie wurden mir von Außenstehenden häufig fälschlich als Professionalität attestiert. So traf es eben mich, und was hatte ich mich nicht darüber aufgeregt. Diese ignoranten Idioten, musste das ausgerechnet jetzt, ausgerechnet im Lockdown sein? Musste ich jetzt ehrlich mein Leben aufs Spiel setzen, nur damit mein Chef noch ein wenig mehr Geld verdienen konnte? Das hätte doch sicherlich noch ein paar Wochen warten können, bis der Lockdown wieder vorbei war. Vielleicht hätte sich das mit dem Termin dann sowieso von alleine erledigt, weil dann einige der Beteiligten bereits an der Lungenmaschine hängen würden. Etwas Schlimmeres wünschte ich ihnen ja gar nicht. Was ich mir stattdessen in diesem Augenblick wünschte, war, einen der hirnscheuen Corona-Leugner an meiner Statt entsenden zu dürfen - in der Hoffnung, dass dieser sich dann auch heftigst anstecken möge, damit Darwin und seine angeblich falschen Theorien am Ende wenig überraschend doch Recht behielten. Und uns die Evolution in ihrer charmanten, schonend natürlichen Art auf diesem Wege schleichend zu einer besseren Welt verhälfe. Ganz gleich, ob in Scheiben- oder Kugelform. Ging aber alles nun mal nicht, und deshalb saß ich genervt mit meinem Erste-Klasse-Ticket in meinem Sessel, der alles, nur nicht Luxus ausstrahlte. Ich zückte meine Bahn-App und erledigte den 'Komfort Check-in', der sich mit seinem lächerlichen Namen und dem Deppenleerzeichen als strahlender Galionsfigur scham- und nahtlos einreihte in die endlose Liste der Dinge, die bei der Bahn einfach nicht funktionieren wollten. Als hätte ich es nicht schon geahnt, wackelte keine drei Minuten später ein Schaffner durch den Gang auf mich zu. Ich seufzte. War ja klar.

"Ist hier noch jemand zugestiegen? Der Herr? Hatte ich Ihren Fahrschein schon gesehen?"

"Nein, haben Sie vermutlich nicht, weil ich der Umwelt zuliebe extra ein digitales Ticket erworben habe und in Ihrer völlig unintuitiven App extra den Komfort-Check-in gemacht habe, damit Sie mich nicht extra nach dem Fahrschein fragen müssen. Der Herr."

Der Schaffner, bisher in sein Lesegerät vertieft, das er wie eine digitale Wünschelrute vor sich her trug, schaute hoch, in meine Augen. Ja, so einer war ich. Also pass besser auf und halte vor allem gottverdammt nochmal genügend Abstand. Wenn einer hier im Zug die Seuche hatte, dann doch wohl der, der den ganzen lieben Tag lang den Zug hoch und runter wanderte und dabei begierig die Aerosole des Abschaums aus der zweiten Klasse aufschnupperte. Statt in teure Virenfilter zu investieren hatte die Bahn, pragmatisch und zukunftsorientiert, wie man sie kennt, die Aerosolsituation mit der günstigeren menschlichen Komponente gelöst.

"Ach ja, da hab ich Sie. Alles klar, ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt!"

"Ja danke, ich Ihnen auch." Es könnte schließlich seine letzte gewesen sein. Er leierte seinen Sermon noch unzählige Male die Reihe weiter runter vor, und ich vernahm seine Stimme immer undeutlicher. Ich blickte mich um, versuchte, die Gefahrenlage einzuschätzen. Direkt vor und hinter mir war frei. Das war gut. Links von mir auch. Sehr gut. Keine unmittelbar drohende Gefahr. Nun zum erweiterten Gefahrenkreis. Direkt schräg links vor mir saß ein etwa Zwölfjähriger auf einem Einzelsitz, er hatte ein iPad auf dem Tischchen vor sich aufgestellt und schaute über Kopfhörer verbunden Videos. Sonst konnte ich in den drei, vier Reihen vor und hinter mir niemanden erkennen. Ich atmete erleichtert durch. So gut ich das konnte mit meiner FFP3-Maske, durch die ich wie ein Fisch schnappend kaum Luft bekam. Ja, es war eine FFP3-Maske, also die Kategorie, die man aus Anstandsgründen dem Fachpersonal hätte überlassen sollen. Ich wartete ständig darauf, dass sich irgendein blassfleischiger Sittenwächter vor den Kopf gestoßen fühlte. Hatte eigentlich schon damit gerechnet, dass mich der Schaffner darauf hinweisen würde, dass Masken mit Filter kein zulässiger Mund-Nasen-Schutz waren. Doch die Konfrontation blieb aus, vermutlich war er entweder froh, dass überhaupt irgendeine Form von Maske getragen wurde oder aber er kannte dieses Detail noch gar nicht. Worauf ich natürlich gesetzt hatte. Sündhaft teuer war das Ding gewesen, ich hatte es nachts um halb Zwei bei einem dubiosen Internet-Shop erstanden. Vermutlich der Art von Internet-Shop, wo vor Mitternacht die Seite gar nicht erreichbar war. Noch bevor ich den blauen PayPal-Button zum Bezahlen gedrückt hatte, dämmerte mir, dass diese Maske ziemlich sicher ihren Ursprung in einer verschollenen LKW-Ladung hatte. Wer brauchte schon das Darknet, wenn es TüV-geprüfte Online-Shops
mit 99,4% zufriedenen Kunden gab. Spezialisiert auf 'Schutzkleidung'. Ihrem Sortiment nach wohl eher auf Schutzgeld.

Ich weiß, ich weiß, an anderer Stelle musste nun eine arme Krankenhauspflegerin erkranken, weil der gute FFP3-Stoff dank zahlungskräftiger Gewissenloser wie mir ausblieb. Selber schuld. Hättest halt was Anständiges lernen sollen. Naja, so richtig geheuer war mir das ja auch nicht. Aber angeblich war es nun mal das Einzige, was einem nachweislich vor einer Infektion schützen würde. Wahrscheinlich würden mich am Ende die China-Chemikalien, die ich dank der Maske schnappatmend in mich einsog, viel eher unter die Erde bringen als Corona. Egal. Was mit Geld an Schutz käuflich zu erwerben war, musste ich haben. Eine Art medizinischer Ablasshandel, ohne den erkauften Schutz hätte ich mich niemals in diesen Zug getraut.

Zu Hause hatte ich nämlich bestens vorgesorgt. Da waren ein Fünferpack FFP3-Masken (vier für mich, eine für meine Frau), dann ein Gefahrenanzug aus dem umweltschädlichsten Plastik, das man sich vorstellen konnte, eine riesige Gefahrenbrille, die ich notfalls zum Tauchen nutzen konnte, und verschiedene Sortimente von Schutzhandschuhen, von gefühlsecht bis extra sicher. Und Toilettenpapier und Raviolidosen bis zum Abwinken. Einen Schutzbunker hatte ich im Garten zu graben begonnen. Fast hüfthoch war das Loch schon, dann kam meine Frau schreiend die Treppe runtergerannt. Über einen Waffenschein dachte ich auch nach. Einen Kosenamen für meine Schrotflinte hatte ich mir dazu bereits überlegt: Leugnerbüchse. Der Postbote durfte meine Amazon-Päckchen nur noch durch die Hundeklappe durchreichen, Unterschriften erledigten wir auch auf diesem Wege, nachdem ich das Gerät zum Unterschreiben eine Minute lang mit grauenhaft stinkendem Desinfektionsspray grundgereinigt hatte. Ich schickte meine Frau maximal einmal alle zwei Wochen einkaufen, und wenn es etwas zu feiern gab - mich zum Beispiel - durfte sie auf dem Rückweg noch etwas von McDonald's mitbringen. Aber nur aus dem McDrive, versteht sich. Die Freunde meiner Frau durften uns ab sofort nicht mehr besuchen, allenfalls mittels Skype. Meine Freunde... Ja, genau. Wir, also ich, waren uns darüber einig, dass das für alle Beteiligten so am besten war, die meisten vertrugen sich eh nicht sonderlich gut mit unserem Dackel, der auf Fremde eher gereizt reagierte. Allen voran auf die Scherers mit ihren zwei kleinen immerlauten Superspreadern. Gott, was war ich froh, dass ich diese Sippschaft
fürs Erste einmal los war.

Also zu Hause konnte wirklich nichts passieren, absolut virensicher, unser Heim. Der einzige Grund, dass ich jetzt nicht in voller Montur hier im Zug saß, war meine Frau. Sie schäme sich, wenn ich im Virenanzug aus dem Haus gehe, sagt sie. Ich konnte sie noch so sehr mit Details und Fachwissen aufklären, sie wollte partout nicht einsehen, wie absolut ernst die Lage bereits war und noch werden würde. Sie machte mir Sorgen. Stichprobenartige Stippvisiten in ihrem WhatsApp-Account hatten zumindest nichts Verdächtiges erkennen lassen. Keine Kontakte zu erwiesenen Leugnern, auch keine abfälligen Kommentare über den Lockdown oder die Schutzmaßnahmen im Allgemeinen. Die Wörter 'übertrieben' oder 'verhältnismäßig' kamen (noch) nicht in ihrem Wortschatz vor. Sie konnte ja nicht ahnen, wie dünn der seidene Faden war, an dem sie hing, wie dünn das Eis, auf dem sie sich bewegte - aber sie war viel zu blauäugig und nahm die Sache mit Corona für meinen Geschmack einfach nicht ernst genug. Ich hatte lange darüber nachgedacht, letztendlich aber den Entschluss gefasst, ja fassen müssen, dass, wenn es hart auf hart kam - und das würde es - ich sie für den Dackel opfern würde. Der Dackel machte wesentlich bessere Fortschritte, behielt sein Schutzmäntelchen brav an und auf das Kommando 'Schutzabstand' reagierte er mittlerweile blind und ohne zu zögern. Gut, falls ich mich weiterhin nicht bei meiner Frau würde durchsetzen können und die ganzen Schutzmaterialien langsam im Keller versauern sollten, könnte man sie bestimmt noch als Karnevalskostüm umfunktionieren... Eben - als ob ich ein Karnevalstyp wäre. Und als ob es jemals wieder so etwas wie Karneval geben würde. Die setzten mir alle viel zu große Hoffnung in einen Impfstoff. Beim Lancet hatte ich schon Preprints von Studien gelesen, die da eine eher düstere Zukunft zeichneten. Lauterbach sah das auch so. Und wenn einer was von Corona verstand, dann doch er. Wie gesagt. Geht vom Schlimmsten aus, dann kann es nur noch positive Überraschungen geben.

Ich hatte mir extra für die Fahrt eine Studie im Lancet zum Infektionsrisiko am Arbeitsplatz aufgehoben. Die hatte auch Lauterbach bei Lanz schon erwähnt, musste wirklich Hand und Fuß haben. Ich dachte immer, Lanz sei ein eitler Pfau mit seiner Silberlocke, aber seit Corona gefiel er mir richtig gut, der stellte die richtigen Fragen. Wirklich guter investigativer Journalismus. Hut ab dafür. Und ebenfalls Chapeau, dass er Lauterbach so oft eine Bühne bot, damit der mit dem gemeinen Volk Tacheles reden und ihm so die Augen öffnen konnte. Die restlichen Leugnerfressen hätte sich Lanz allerdings sparen können, die nahmen Lauterbach im Endeffekt nur kostbare Sendezeit weg mit ihrem Geheule über Freiheit und Verhältnismäßigkeit. Ich erhoffte mir, in dem von Lauterbach empfohlenen Paper ein paar triftige Gründe aufzuschnappen, wie ich das Kundentreffen auf den letzten Drücker vielleicht doch noch absagen konnte. Daher wählte ich mich ins ICE-WLAN ein, öffnete den Browser auf meinem 800-Euro-Handy, und tippte mit ungeschnittenen, nicht wirklich weißen Fingernägeln www.thelancet.com ein. Ich gehörte noch zu der Generation, die das 'www' immer brav mit eintippte. Es tat sich nichts. Das WLAN war aber verbunden. Na prima. Danke, Deutsche Bahn. Da ihr ja immer ausnahmslos pünktlich seid, drücke ich natürlich gerne ein Auge zu, wenn ab und an, wirklich nur ganz, ganz selten einmal, die Klimaanlage oder das WLAN ausfällt. Super. Und jetzt?

Ich blickte auf das iPad des Pubertierenden links von mir. Der Knilch war clever und hatte sich seine Videos vorab heruntergeladen. Gerade lief YouTube, ein Minecraft-Video von einem Let's-Player. Für all diejenigen, für die das spanische Dörfer waren: Ein mit primitivsten Mitteln selbst erstelltes Video von einem sackdämlichen Computerspiel, vorgetragen und kommentiert von einem übertrieben fuchtelnden Hartz-IV-Empfänger um die Dreißig mit wahlweise blauen, roten oder grünen Haaren. Eine gescheiterte Existenz, immer knapp am Rande der völligen Selbstaufgabe, die aus Not Computer spielte und selbst das gar nicht mal so gut. Dabei markige Sprüche mit hohem Fremdschämpotenzial klopfend, um so bei den Stimmbrüchigen gut anzukommen und sich dadurch den Regelsatz mehr schlecht als recht mit ein paar lächerlichen Werbeeinnahmen aufzubessern. Sie schimpften sich Influencer, und waren ähnlich wie das lautverwandte Wort einfach nur eine lästige Plage, eine Seuche, die sich ungefähr so rapide wie Corona ausbreitete. Und ganz ähnlich wie Corona konnten auch sie bleibende Schäden im Gehirn hinterlassen. Ich schaute mir den Zwölfjahrigen genauer an. Fand die zumindest teilweise Erklärung für seine Affinität zu Computerspielen und dreißigjährigen Scharlatanen, die das Versprechen einer besseren Welt mit sich brachten, das sie selbst nur allzu gerne einlösen würden. Das Gesicht des Jungen würde das RKI ziemlich sicher als Aknekrisengebiet einstufen, mit einer erschreckend hohen Inzidenzzahl von weit mehr als 50 Infektionen pro Quadratzentimeter. Er trug das Social Distancing in seinen Genen, Sicherheitsabstand zu wahren war für ihn die Norm. Arme Wurst, Akne gepaart mit Minecraft bedeutete unweigerlich, dass es bis zum ersten Mal wohl noch ein paar Jährchen, Tendenz steigend, dauern würde. Er tat mir aus zweierlei Gründen leid. Erstens hatte er vorbildlich eine Maske mit Filter auf - ich schätzte FFP2, für FFP3 fehlte ihm sicher noch das nötige Kleingeld - und zweitens erinnerte er mich doch sehr an mein jüngeres Ich. Nur nicht verzagen, mein junger eGamer, ist dies doch schließlich das Zeitalter der Nerds. Wenn ich und Jeff Bezos es schaffen konnten, einen Platz in der Gesellschaft, dicke Kohle und vor allem eine Frau zu finden, dann wirst du das sicher auch einmal können.

Die Bremsen am Zug quietschten und nach kurzer Zeit kam der Zug zum Stehen.

"Meine Damen und Herren, es kommt zu einem außerplanmäßigen Halt unseres Zuges aufgrund einer Systemstörung. Wir bitten Sie, die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen, die Weiterfahrt verzögert sich um voraussichtlich dreißig Minuten. Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass in unseren Zügen grundsätzlich die Pflicht besteht, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, bitte behalten Sie daher während der gesamten Fahrt Ihre Mund-Nasen-Bedeckung auf. Diese muss dabei ihrem Namen entsprechend Mund und Nase vollständig bedecken. Sollten Sie keine Maske bei sich haben, so können Sie im Bordbistro in Wagen 21 eine solche Maske käuflich erwerben. Wir wünschen Ihnen auch weiterhin eine angenehme Fahrt."

Nur ein einziges Mal würde ich gerne Bahn fahren, ohne dass es zu einer Verspätung kommt. Eine Systemstörung. Was zum Teufel sollte das sein? Das Wort Systemstörung hätte ich eher im Lager der Corona-Leugner verortet. Aber gut. Meine Theorie war, dass die Ausbildung zum Schaffner oder zur Schaffnerin ganz einfach darin bestand, dass man über mehrere Jahre Ausreden für Verspätungen eingetrichtert bekam, die möglichst so abstrakt klingen sollten, dass einem die Fahrgäste diese nicht persönlich zum Vorwurf machen konnten. Ein Ast auf den Gleisen, ein defektes Bauteil, falsch abgebogen - so etwas konnte man persönlich nehmen. Aber eine Systemstörung? Da waren höhere Mächte am Werk. Da traf niemanden die Schuld, was sollte man dagegen denn bitteschön ausrichten können? Durch den Zug war lautes, aufgebrachtes Murmeln zu hören. Frust. Interessanterweise war immer unmittelbar nach solchen Hiobsbotschaften weit und breit kein Schaffner mehr zu sehen. Ich malte mir aus, wie sie sich alle im Bordbistro in Wagen 21 unter der Bartheke versteckten. Und zitterten und horchten, wie außen der wütende Mob vorbeizog, bis nach ein paar Minuten der Unmut verflogen und die Luft wieder rein war. Falls ihnen trotzdem ein Wutbürger auf die Schliche kam und sie unter der Theke kauernd ertappte, würden sie die Aggressoren um Gnade winselnd mit kostenlosem Mund-Nasen-Schutz zu bestechen versuchen. Sie waren absolut nicht um ihren Job zu beneiden, aber ich kann es an dieser Stelle nur noch einmal wiederholen: Leute, lernt doch bitte etwas Anständiges! Denkt doch bitte auch nur einmal vorher darüber nach, bevor ihr euch zu solch einer Schnapsidee überreden lasst.

Immer wenn es zu solchen ungeplanten Wartezeiten kam, meldete sich meine Blase, danach konnte ich mir die Uhr stellen. Bereits in Prä-Corona-Zeiten wäre mir aber im Traum nicht eingefallen, auf eines der versifften Zugklos zu gehen. Zumal all diese Klos potenziell auch von Zweite-Klasse-Reisenden besucht werden konnten. Ich war immer schon dafür, dass man Toiletten bereitstellte, die ausschließlich für Gäste der ersten Klasse ausgewiesen würden. Ich überlegte, ob ich die Zeit nicht sinnvoll nutzen sollte, um meinen Vorschlag als Email an die Bahn zu schicken. Dann fiel mir aber wieder ein, dass das WLAN ausgefallen war. Was für ein Sauladen. Systemstörung, in der Tat.

Die Verspätungen an sich wären im Grunde genommen noch zu verschmerzen gewesen. Wenn die Zeitangaben der Bahn auch nur einmal im Entferntesten realistisch geblieben wären. Aber nein, aus übertriebener Angst, die Gäste nur noch mehr zu verprellen, untertrieb man die Angaben immer hoffnungslos und setzte sie unverschämt tief an. Im Ergebnis lag die tatsächliche Verzögerung dann am Schluss natürlich immer drastisch über dem anfänglichen Wert. Als Beispiel: Die für uns angekündigten 30 Minuten würden nach exakt 29 Minuten zu 45 Minuten korrigiert werden, nach genau 44 Minuten zu 50, und danach dann gar nicht mehr korrigiert werden, weil alle Beteiligten sich viel zu sehr schämten, die magischen Wörter 'eine Stunde' in den Mund zu nehmen.

Ich seufzte. Tief und mehrfach. Immer die gleiche alte Leier. Ist das denn so schwer? Ihr macht doch tagein, tagaus immer haargenau das Gleiche. Ich meine, Respekt vor eurer Lebensleistung und euer Berufsstand in allen Ehren, aber bleiben wir auf dem Teppich, es ist doch kein Raumschiff. Es ist ein gottverdammter Zug. Der auf Schienen fährt. Von alleine. Und trotzdem kriegt ihr es nicht ein einziges Mal auch nur ansatzweise richtig hin. Wenn die Seuche die Bahn wirklich ruinieren sollte, ich wüsste ehrlich gesagt nicht, ob das tatsächlich das Schlimmste wäre. Manchmal ist es klüger, von Grund auf neu zu beginnen. Es täte mir leid um das arme Personal, das immer den Frust der Gäste abbekam, ohne letztlich für das Chaos verantwortlich zu sein. Doch hatte dieses in seiner Rolle als Corona-Wegschnaufer schon eindrücklich bewiesen, dass es sich sehr wohl um vielseitig qualifiziertes Personal handelte. Somit stünde zumindest der Zweitkarriere als menschlicher Raumluftfilter nichts mehr im Wege.

Da mir außer mich zu Echauffieren nichts Besseres mehr einfiel, um die leidige Warterei zu überbrücken, machte ich Gebrauch von einer Gabe, die ich seit meiner Kindheit besaß. Immer, wenn mir eine Situation über den Kopf wuchs, schloss ich meine Augen und schlief ein. Es war ein unruhiger, von Albträumen geplagter Schlaf. Ich träumte, dass mich zwei Schaffner auf meinem Platz fixierten und meine Arme festhielten, um mir so einen Komfort-Check-in zu verpassen, während eine dritte Schaffnerin mir die Maske vom Gesicht riss und mir mit rasselnder Lunge ins Gesicht hustete.

Ich wand mich unruhig auf meinem Platz hin und her und wachte auf. Schweißtropfen standen auf meiner Stirn. Es schien, als hätte ich längere Zeit geschlafen, der Zug hatte sich mittlerweile wieder in Bewegung gesetzt. Mehr noch, wir mussten einen Zwischenhalt gemacht haben, da sich nun weitere Personen im Abteil befanden. Mein Puls schnellte nach oben, und sofort prüfte ich die unmittelbare Gefahrenlage. Vor mir, hinter mir, links von mir war weiterhin alles frei. Offenbar war die Menschheit doch noch nicht völlig verblödet und zumindest einige Wenige hatten das Prinzip Abstand verinnerlicht. Der pickelige Gamer schien auch ausgestiegen zu sein. Wehmütig wünschte ich ihm im Geiste alles Gute, auf dass auch er noch seine Bestimmung finden würde. Dann widmete ich mich der Analyse der erweiterten Gefahrenlage und schaute mich nervös im Abteil um. Schließlich gab es auch in der ersten Klasse immer wieder ausreichend Gesindel, vor dem man sich gar nicht gut genug schützen konnte.

Da vorne war so einer. Der Rentner zwei Bänke vor mir schräg gegenüber. Er saß mit dem Gesicht mir zugewandt und hustete an einer Tour. Also gut, zum zweiten Mal, seitdem ich aufgewacht war, gute zehn bis zwanzig Minuten war das her. Dennoch, immerhin. Dabei erdreistete er sich auch noch, es so gut er konnte zu unterdrücken, als ob es dann niemandem mehr auffiele. Und viel schlimmer noch: Der verdammte Virensohn hatte auch gar keine Maske auf. Vermutlich war das so einer, der es sich leicht machen wollte, und mitleidheischend angab, dass er aus gesundheitlichen Gründen keine tragen könne, die faule Sau. Aber dann natürlich wieder gesund genug sein zum Zugfahren. Man sah deutlich, dass er kaum noch Zähne besaß. Hatte er vermutlich alle ausgehustet. Wie hatte sich so jemand in die erste Klasse verirrt? Wenn er gerade einmal nicht hustete, klapperten die Lippen in seinem eingefallenen Mund willkürlich aufeinander und er gab dabei seltsame hypnotische Laute von sich, ganz so, als habe er eine Art Kiefer-Tourette. Bei jedem Schnappen seiner Lippen zuckte ich innerlich zusammen, es war kaum auszuhalten. Es war widerlich. Er war der geborene Mund-Nasen-Schütze. Das leibhaftige Aerosol, von den Toten auferstanden. Und sein unablässiges unterdrücktes Husten machte mich - ehrlich gesagt - wahnsinnig. Nur, wer eine Krankheit zu verbergen hatte, hustete so saudämlich unterdrückt. Falls er jetzt demnächst schon wieder husten würde, müsste ich ehrlich etwas zu ihm sagen. Ich meine, es war schließlich nur Zivilcourage. Außer mir traute sich ja wieder keiner. Wäre doch auch im Interesse der drei oder vier weiteren Gäste im Abteil. Von denen hatte sicher auch keiner Lust darauf, dass der verdammte Hustenopa - eh schon Risikogruppe - uns am Ende alle mit ins Grab riss. Unverschämter zahnloser Virenterrorist. Geh verdammt nochmal in die zweite Klasse mit deiner Seuche und huste denen dein Lied, aber steck bitte uns hier nicht an. Beknackte Rentner, kaum waren sie 60, glaubten sie, sich alles rausnehmen zu dürfen. Ich verfluchte meinen Chef, dass er die Reise nicht verschoben hatte. In vier bis sechs Wochen hätte sich das Problem mit dem Rentner vielleicht auf natürlichem Wege erledigt gehabt. Das ließ mich wieder an Darwin denken und ich beruhigte mich langsam.

Meine Atmung hatte sich zwischenzeitlich beschleunigt, was in Anbetracht der erhöhten Virenlast im Raum meiner Gesundheit auf keinen Fall zuträglich war. Die Luft in meiner Maske roch nach Schweißfuß, ich rätselte, ob dies an dem China-Chemikalienmix oder einfach nur an meinem Mundgeruch lag. Ohne das Ventil an meiner Maske, das verhinderte, dass sie allzu feucht wurde, wäre ich vermutlich längst erstickt. Dass das ungefilterte Ausatmen durch das Ventil meine Mitmenschen prinzipiell eher gefährdete, als wenn ich den volksüblichen Mund-Nasen-Schutz aufgesetzt hätte, störte mich... sagen wir mal: Am Rande. Der senilen Virenschleuder war es sicher auch schnuppe. Machen wir uns nichts vor: Solange ich mich nicht ansteckte, konnte ich durch meine Ausluft auch niemand Anderen anstecken. Win-Win. Kein Grund, sich in irgendeiner Form etwas vorzuwerfen. All die innere Aufruhr brachte meine Nase zum Laufen. Komischerweise nur auf einem Nasenloch. Warum das jetzt? Ich stand vor einer folgenschweren Entscheidung. Setzte ich die Maske ab, um die Triefnase zu bekämpfen, würde ich auf der Stelle sofort elend verrecken - dafür hatte der Hustenzombie schon gesorgt. Die Alternative war, dass ich einfach laufen ließ. Alleine die Vorstellung jagte mir kaltwarme Schauer, im Wechsel Ekel und verstörende Erregung, über den Rücken. Wann sonst könnte man ohne Reue genüsslich in der ersten Klasse thronen, während einem der Schnodder über das Gesicht lief? Corona hatte auch seine guten Seiten. Aber der Reiz meines seltsamen Tagtraumes verflog so schnell wieder, wie er gekommen war. Und so fasste ich mir todesmutig ein Herz und holte tief China-Luft. Ich hielt den Atem an, zog die Maske etwas von meinem Gesicht weg und putzte den störenden Ausfluss mit einem bereits benutzten Taschentuch weg. Ich ließ die Maske schnellen, atmete dann keuchend aus und schnappte nach China-Luft. Ich lebte noch. Unbemerkt ließ ich das zerknüllte Taschentuch auf den Boden fallen und trat es mit meiner Fußspitze in Richtung des Alten. Und lächelte. Nimm das, du hässlicher, alter Hustenteufel.

"Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir Mannheim Hauptbahnhof. Sie haben von dort aus Anschlussmöglichkeiten..."

Was, erst in Mannheim? Ich schaute auf die Uhr. Wir hatten wohl noch viel länger als nur eine Stunde gestanden. Der Zug war hoffnungslos verspätet. Ich grinste. So würde das nichts mehr werden mit dem Treffen, ich würde es leider, leider absagen müssen. Ich schnappte meine Tasche und wartete, bis die Luft rein war, so dass ich ohne Feindkontakt meinen Weg in Richtung eines Ausgangs starten konnte. Ich schaffte es tatsächlich, ohne dass mir jemand dabei in die Quere kam. Im Ausgangsbereich des Wagens stand bereits eine junge Frau mit Koffern und einem Kind. Der erste Eindruck ließ bei mir sofort die Alarmglocken läuten. Zweite-Klasse-Gast, alleinerziehend mit Koffern und Göre am Hals: Das roch eindeutig nach sozialer Schwäche und die sozial Schwachen waren ja bekanntlich viel häufiger Corona-infiziert als... sagen wir mal: Leute wie ich. Die schwach Sozialen. Ich hielt gebührenden Abstand, indem ich die Tür zum Ausgangsbereich geschlossen ließ und mich von der Tür selbst auch noch gute Einmeterfünfzig entfernt aufhielt. Hätte ja sein können, dass das Kind oder die sozialschwache Mutter ebenfalls durch diese Tür gekommen waren und somit Glas und Griffe gegebenenfalls verseucht waren. Die Bremsen quietschten, der Bahnhof war nun auch in den Fenstern des Zuges zu erkennen. Als er hielt, wartete ich, bis die Sozialschwache samt ungewollter Schwangerschaft verschwunden war, öffnete die Tür mit meinem Ellbogen und hielt die Luft an, bis ich durch die Zugtür hindurch im Freien angelangt war.

Leise Panik stieg in mir hoch in Anbetracht der quälenden Menschenmassen rings um mich herum. Ich versuchte, flach und gleichmäßig zu atmen, so dass ich im Ernstfall die kleinstmögliche Viruslast in meinem Rachen aufnehmen würde. Das reduziere die Gefahr eines schweren Verlaufs, sagte Lauterbach. Mangelnde Sauerstoffzufuhr und meine hastigen, nach Raum greifenden Schritte taten ihr Übriges und ließen den Schweiß in Rinnsalen auf meiner Stirn ausbrechen. Ich nahm meine Umwelt kaum wahr, meine Augen waren nur auf den Ausgang fixiert. So schnell wie möglich raus hier, aus diesem Sündenpfuhl, dieser lauten, wuselnden, menschgewordenen Verweigerung jedweder Kontaktnachverfolgung. Ich hatte es schon fast geschafft. Eine letzte Tür, die ich sorgfältig nur mit meinem Ellbogen aufstieß und dann: Freiheit. Stopp, noch nicht ganz. Ich kramte in meiner Tasche und fischte das Desinfektionsspray heraus. Besprühte großflächig meine Hände, meine Kleidung, meine Tasche und mein Handy. Nächste Phase: Ablegen der Maske. Dazu: Luftanhalten, Maske mit Fingerspitzen abnehmen, Maske in einer Plastiktüte verstauen und diese luftdicht verschließen. Danach die Tüte in der Tasche unterbringen und die Tasche verschließen. Aufgrund möglicher Kontamination durch die Außenfläche der Maske zum Abschluss erneut die Hände desinfizieren. So, geschafft. Diesmal wirklich geschafft. Ich sog echte, unbelastete, frische Luft in meine Lungen. Und atmete gefühlt minutenlang aus. Ich wählte auf meinem Handy und hielt es ans Ohr. Meine Frau ging erst nach dem zehnten Mal klingeln ran. Wo steckte sie denn schon wieder?

"Hallo Lisa? Warum hat das denn so lange gedauert? Bist Du denn nicht zu Hause?"

Sie antwortete, ihr Tonfall gereizt, ich konnte sie aber wegen des Lärms um mich herum nicht verstehen. "Hör zu, Schatz, das Meeting ist ausgefallen, weil mein Zug Verspätung hatte. Ich bin hier in Mannheim gestrandet. Du hättest nicht zufällig Lust, mich hier abzuholen? Und falls du tanken musst, denk dran, immer nur an den Tankstellen, wo du direkt an der Tanksäule mit Karte bezahlen kannst. Danke, Schatz, hast auch etwas gut bei mir... McDrive, fragst Du?
Das wäre lieb, mach das... Ja, genau, ich dich auch. Bis später!"
 
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Als Satire hat es mir der Methode und dem Geist nach recht gut gefallen, Blauer Jie, besonders, wie der Ich-Erzähler sich selbst inszeniert und ironisiert. Beim Lesen habe ich mich meistens durchaus amüsiert. Nur ist, wohl infolge sehr reichlich sprudelnder Einfälle, der Text insgesamt zu lang geraten. Daher habe ich bei meiner Bewertung einen Punkt abgezogen. Ich würde z.B. folgende Details wesentlich kürzer darstellen: die Passage mit dem Computerspiel, die Erörterungen zur "Systemstörung", die Besessenheit bei häuslicher Vorsorge (an sich gut, nur zu viele Einfälle, das ist ja ein Nebenschauplatz).

In Zeile 5 müsste es heißen: "Mir waren ..." Angesichts der Länge des Textes und auch durch die vielen amüsanten Einfälle abgelenkt habe ich danach auf solche Kleinigkeiten nicht mehr geachtet. Insgesamt scheinen Fehler dieser Art kaum vorzukommen, erfreulich.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

Blauer Jie

Mitglied
Vielen Dank für das Feedback, Arno und Roger. Das freut mich sehr, dass es euch gefällt! Die Vorschläge zum Kürzen finde ich gut, das schaue ich mir noch mal an. Den Fehler in Zeile 5 habe ich verbessert, danke!
 



 
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