Locke down

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Maribu

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"Na, schon im Stress?" fragte ich Paul und nahm in 'seinem' für mich reservierten Friseurstuhl Platz.
Links und rechts waren seine beiden Kollegen hektisch am Schneiden und Föhnen und hatten für mich
nur ein Kopfnicken übrig.
Vor zwei Jahren hatte ich zu diesem Friseurgeschäft gewechselt, da war er noch im letzten Lehrjahr.
Seine lustige Art gefiel mir. Obwohl er wesentlich jünger ist als ich, hatte er mir das "Du" angeboten.
Im hinteren Teil saßen zwei Männer mit gleichen Standardmasken, getrennt durch einen kleinen
Turm aufgestapelter Stühle, und schauten stoisch aneinander vorbei.
"Nee", antwortete er lächelnd. "Mehr als Arbeiten kann ich ja nicht! Du hast ja Glück, dass dein
vierwöchiger Termin zufällig auf unseren letzten Tag fällt. Mindestens zehn Leute stehen draußen
noch in der Schlange"

"Ja, die meckerten und wollten mich nicht vorbeilassen. Einer nahm sogar seinen Mundschutz
ab und schrie, dass ich mich hinten anstellen solle."

"Ja, das ist wie Hysterie! Obwohl wir gestern bis zehn Uhr abends gearbeitet haben, hat der Chef
heute anstatt um acht bereits um sieben den Laden geöffnet. Das hat sich aber nicht gelohnt,
weil die Stammkunden einen späteren Termin haben."

"Wer konnte auch mit einer erneuten Schließung rechnen?"

"Gestern waren viele ältere Unbekannte dabei, deren Haare vor Monaten einen Friseur gesehen
hatten."

"Die hatten bestimmt Angst, mit Corona ungepflegt im Intensivbett zu liegen! - Entschuldige-
dass ist mir so spontan herausgerutscht - darüber macht man ja keine Witze!"

Er fand es auch nicht komisch und sagte: "Bei mir flenzte sich als erster ein Typ in den Sessel,
den ich am liebsten nicht bedient hätte. Er hatte es so eilig, dass er noch nicht mal seine
Jacke ausgezogen hat. Er trug eine schwarze Ganzgesichtsmaske wie ein Bankräuber oder
zu Halloween. Ich wollte mir aber nichts anmerken lassen und fragte spaßig: 'Rasieren oder
Locke down'?" Er antwortete aber nicht und muschelte mit einer Hand in seinem Haar, das
zwar lang, aber nicht lockig war. Ich verpasste ihm einen normalen Maschinenschnitt."

"Hat er denn wenigstens bezahlt?"

"Er schmiss zwanzig Dollar auf den Tresen und verließ schnell, fast fluchtartig, unseren Laden."

Ich musste lachen. "Vielleicht wurde er tatsächlich von der Polizei gesucht ! - Und wie bist du auf
Locke down gekommen?"

"Ich mache mich darüber lustig! Ich habe das gegoogelt. Es heißt ja ursprünglich Ausgangssperre.
Und jetzt bezieht sich das auch schon auf die Schließung von Geschäften. Bald haben wir keine
deutsche Sprache mehr! Denke nur mal an 'Sale', 'Date' und 'Coffee to go'!"

"Wem sagst du das? Und so ein schlaues Bürschchen geht aber Morgen in Kurzarbeit. - Kann
man denn davon leben?"

"Mein Trinkgeld im Monat Dezember wäre höher gewesen.,"

"Wird das bei der Berechnung nicht berücksichtigt?"

"Ich weiß es nicht, vielleicht als Pauschale. Aber ich war clever und hatte mich vor ein paar Tagen
im Supermarkt in unserer Straße beworben. Ab morgen kann ich da drei Stunden täglich als
Desinfekteur arbeiten."

"Nur drei Stunden? - Ach so, deswegen heißt es Kurzarbeit. Und was machst du da? Gibt es dafür keine deutsche
Bezeichnung?"

"Ich besprühe draußen die Einkaufswagen mit einer Lösung und wische sie danach wieder trocken."

"Damit nimmst du Kleinrentnern doch den Arbeitsplatz weg!"

"Ich mache das nur bis kurz vor Weihnachten. Danach bin ich privat ausgebucht. Meinen Neffen
schenke ich dieses Jahr einen Haarschnitt anstatt Süßigkeiten oder anderen Schnickschnack.
Freunde und Bekannte wollten den normalen Preis bezahlen. Das habe ich aber abgelehnt und gesagt,
dass Trinkgeld genügt."

Er war mit meinem Haarschnitt fertig. Ich stand auf und antwortete: "Das wären dann auch keine fröhlichen
Weihnachten . Für Schwarzarbeit gibts es den 'Lock-in'!"

Er hatte aber schon den nächsten Kunden in seinen Stuhl gewinkt und fragte: "Rasieren oder Locke down?"
 



 
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