Lieber Noel!
Dieser Eintrag ist in der Tat aller Ehren wert, daher auch die höchstmögliche Lupenstrafe für gute Texte, die Zehn. Diese vergebe ich sehr selten.
Allerdings ist zum Kommentar Einiges zu bemerken:
(1) Was "Biedermeier" ist und was nicht, ist Endpunkt einer literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einem Text. Ich sehe hier weniger Biedermeier-Texte als Gebrauchs- und Alltagslyrik. Und diese hat ihren berechtigten Platz, weil sie - Autoren und denen, für sie geschrieben wurde - Freude schenkt. Das eine oder andere davon ist durchaus auch vom Können her interessant genug, aufmerksam betrachtet werden.
Schließlich ist Volksmusik ebenfalls nicht jedermanns Geschmack, nachdenklich machen sollte jedoch, dass sie allemal mehr Kundschaft hat und mehr Zustimmung erfährt als moderne Zwölftonmusik. Und wenn wir alle auch ein wenig für's Publikum schreiben, dann sollten wir ein wenig bescheidener werden angesichts der Wirklichkeit und uns nicht in unserer manchmal fast unverständlichen Schreiberei, die man ohne ein Sprachenstudium kaum mehr entschlüsseln kann, zu sehr über Volkes Stimme und den Geschmack erheben. Wer studiert hat, ist deshalb noch lang kein besserer Mensch.
(2) Es ist nachdenklich stimmend, wie wenig moderne Lyrik rezipiert wird und wie wenig sie außerhalb eingeweihter Kreise Zuspruch und Leserschaft erfährt. Vielmehr ist es so, dass eine Lyrik breite Kreise - und die jungen Menschen - erreicht, die hier wahrscheinlich unter Biedermeier und nicht künstlerisch wertvoll eingeordnet würde.
In der Tat zeigt sich, dass gereimte und rhythmisch unterlegte Verse, mit Musik unterlegt, daher kommt unsere Lyrik, die ihre Wurzeln im Liedtext hat, in deutscher Sprache auf einmal junge Menschen an das Spiel mit derselben heranführen, dass Poetry Slams, ebenfalls zumeist in Reimen, klassisch also, die Zuhörer begeistern und die im Bachmann-Wettbewerb Ausgezeichneten am Tage nach der Ehrung in der Versenkung verschwinden.
Wer sich mit den Lyrikbeständen der deutschen Durchschnittsbuchhandlung beschäftigt, der wird feststellen, dass außer Klassikern und den üblichen Verdächtigen nichts in der Auslage liegt, Ausnahmen bestätigen die Regel. Es besteht also kein Anlass, die eigene Künstlichkeit in die Himmel zu erheben, den Schlüssel zur Dechiffrierung wegzuwerfen und dann den Konsumstreik zu beklagen.
Kurz: Ich mag diese Pauschalisierungen über Biedermeier, Kitsch und Banalität nicht mehr, die zumeist vom eigenen Unvermögen ablenken sollen, ein Publikum zu erreichen und die es damit ermöglichen, sich auf einen Podest zu stellen, der einem vielleicht gar nicht zusteht. Denn ungelesene Schreibkunst ist keine Kunst, sie ist für den Papierkorb geschrieben, da sie niemand ernsthaft zur Kenntnis nimmt.
(3) Wir sollten uns also den Standpunkt eigen machen, der Lyrik einmal leserzentriert begreift. Das könnte die Augen öffnen und manche Sprachspielerei als das entlarven, was sie ist: l’art pour l’art, geistige Onanie, Selbstbeweihräucherung, und das war’s dann auch schon. Auch diese Texte haben ihre Berechtigung, Gott bewahre. Der Künstler darf – und muss das wohl auch – sich stilisieren. Er darf – und muss das wohl auch – seine überlegenen Fähigkeiten vorführen, mit denen er seinen Werkstoff – in diesem Falle: die Sprache – beherrscht. Er darf sich nur sich zu ernst nehmen. Und meinen, er sei das – auf jeden Fall unerreicht tolle – Zentrum des – in diesem Falle: literarischen! - Universums.
So. Und jetzt geht’s mir schon viel besser. Denn das musste einmal gesagt sein. Wirklich.
Frohe Pfingsten und liebe Grüße
W.