Lost in Diaries

Languedoc

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Lost in Diaries

Einen Tag vor ihrem fünfzigsten Geburtstag war das Tagebuch bis zum letzten Blatt beschrieben. Sie notierte die fortlaufende Nummer einhundertneunundvierzig auf der Innenseite des Kartonumschlags, umzirkelte sorgfältig die hübsch gemalten Ziffern eins-vier-neun – ihre Lieblingsziffern übrigens –, und vermerkte darunter das Datum des Anfangs- und des Schlusseintrages. Dann steckte sie die Kladde zu den einhundertachtundvierzig anderen Kladden, die sich nach Jahrgang eingeschlichtet und verteilt in mehreren Aluminium-Pilotenkoffern befanden. Diese Koffer wiederum stapelten sich im Abstellraum des Hauskellers.

Sie holte ein jungfräuliches Notizbuch aus der Kommodenschublade, das sie vorsorglich im China-Shop eingekauft hatte, wie immer DIN-A5-formatig und im maximalen Umfang von einhundertzweiundneunzig Blatt. In etwa zwei Monaten würde es mit Wörtern und mit Sätzen vollgekrakelt sein. Statistisch über die Jahre gesehen schaffte sie durchschnittlich drei Seiten Text pro Tag. Das tägliche Schreibvolumen variierte jedoch stark. Es konnten mehrere Seiten sein, oder lediglich ein paar Zeilen. Es gab freilich keinen Tag ganz ohne einen Eintrag, wovon nur jene Zeit in ihren frühen Zwanzigern ausgenommen war, in der sie sich manchmal wochenlang fernhielt von Papier und Tintenkuli, was sich im Nachhinein aber bloß als ein erratisches Ereignis herausstellen sollte.

Sie war etwa dreizehn Jahre alt gewesen, als sie das erste Mal dem Papier anvertraute, was sie stumm bewegte und keinem Menschen erzählen konnte und wollte: die romantische Schwärmerei für einen älteren Schüler, wovon niemand wissen durfte, natürlich auch nicht der angebetete junge Mann. Seine heimliche Verehrerin schrieb auf blassblaue, grobkörnige Bögen mit zerfransten Rändern, was sie innerlich bewegte und wie sie sich verzehrte in namenlosem Sehnen und Begehren. Sie dekorierte ihre rundlichen, schulmädchenhaften Buchstaben mit Herzchen und diversen Blümchen und versenkte die blauen Blätter, gebündelt mit glänzendem Ringelband, in den Tiefen ihres Kleiderschrankes, zu dem sie, und nur sie, den Schlüssel hatte. Jahre später zerriss sie den Packen zu ungezählten Zettelschnipseln, die sie in das Feuer des Küchenherdes ihrer Mutter warf.

Mit vierzehn Jahren kam sie ins Gymnasium und begann, ihren Tagesablauf in einem jener Kalender zu dokumentieren, die die Banken damals ihren Kunden zu schenken pflegten. Das waren umfängliche, solide gebundene Bücher, die für jeden Tag des Jahres eine Papierseite vordruckten, für jede Stunde eine Linie mit Angabe der Uhrzeiten, und in den Kopf- und Fußzeilen nützliche Lebensweisheiten mitlieferten: Edel sei der Mensch / hilfreich und gut! – Und neues Leben blüht aus den Ruinen. – Spare in der Zeit / dann hast Du in der Not! – und dergleichen Goethe, Schiller, Bankbotschaften mehr, dreihundertfünfundsechzig Sentenzen, und eine jede davon schien der nach der großen weiten Welt strebenden Jugendlichen wertvoll und bedeutungsschwanger. Mittels dieses Werbegeschenkes der Bank – an ihren Vater, nicht an sie – organisierte sie ihr Schularbeitsprogramm und garnierte die Termineinträge mit persönlichen Kommentaren und Statusbefindlichkeiten, stets auf den Punkt gebracht, nüchtern und knapp. Diese Kalender bewahrte sie auf.

Nach dem Abitur benutzte sie für ihre Tagesprotokolle die Kladden aus dem China-Shop, die sie ebenfalls aufbewahrte. Irgendwann würde sie nachschlagen und lesen, was einst de facto passiert war, Tag für Tag und Jahr um Jahr, dachte sie und sie dachte an jene ersten intimen, jene verbrannten Aufzeichnungen auf blassblauem Grund. Nur diese hätten sie wirklich interessiert. Das tatsächlich vorhandene Archiv der Kladden und Kalender hingegen nannte sie „mein altes Schwurbelzeugs“; und war ein fertig geschriebenes Notizbuch erst im Pilotenkoffer verschwunden, sah sie es sich nie mehr an.

Dennoch warf sie „das alte Schwurbelzeugs“ nicht fort. Bei jedem Umzug wanderten die Pilotenkoffer in den Abstellraum der neuen Wohnung. Sie trennte sich von ihnen und ihren Inhalten so wenig wie von ihrem Haarzopf, der seit Gedenken den knochigen Rücken hinunter bis zur Hüfte baumelte. Mitunter ärgerte sie die fade Flechte und sie spürte den Impuls, zur Schere zu greifen und sie ritsch-ratsch abzuschneiden und in die Tonne zu befördern auf Nimmerwiedersehen. Bis dato hatte sie das allerdings nicht getan.

Manchmal sagten freundliche Zeitgenossen zu ihr: „Du hast wahnsinnig tolle lange Haare!“

Ja, lang sind sie wohl, aber toll? Sie hatte kein Empfinden dafür, dass ihre langen Haare toll sein sollten. Bloß ordentlich verräumt wollte sie sie wissen, das war alles.

Bei Gelegenheit sagten die Leute: „Das ist ja fantastisch, dass du seit fast vierzig Jahren Tagebuch schreibst! Wie interessant!“ Sie hingegen fand das überhaupt nicht interessant, weder für sich selber, noch für andere. Was hieße das schon, etwas Interessantes geschrieben zu haben. Sie war überzeugt, dass ein beliebiger Leser, der sie nicht kannte und der als Figur in den Tagebüchern nicht vorkam, keinen Bezug zu den Texten haben könne und in ihnen ein banales, ein völlig substanzloses Machwerk sehen würde. Und jene Bekannte und Verwandte, die dort konkret erwähnt waren, würden nach Passagen über ihre Person forschen und solche Aussagen danach beurteilen, wie sie in den vorgefertigten Rahmen für das Selbstbild hineinpassten. Man fühlte sich entweder geschmeichelt oder empörend falsch eingeschätzt.

Sie schrieb, weil sie nichts anderes konnte als das.

Und weil sie nicht anders konnte.

Es war stärker als eine simple Gewohnheit, es war ein Zwang, eine blöde Sucht, die sie hin zum Tagebuch trieb, und die untrennbar verknüpft war mit dem Rauchen von Zigaretten. Sie konnte nämlich nur schreiben, wenn sie in der linken Hand einen Glimmstängel zwischen Zeige- und Mittelfinger klemmte und nach jedem Satzende an der Kippe sog. Sie musste sich mit Nikotinschwaden einnebeln, um den Schreibfluss in Gang zu bringen und in der Spur zu halten. Nach jenem ersten frühen Liebeskummer hatte sie mit dem Laster begonnen und nie damit aufgehört. Mittlerweile hatte sie hunderttausende, ja Millionen Zigaretten auf diese Weise abgefackelt. Dabei grauste ihr eigentlich vor dem Rauchen. Sie hasste den pampigen Geschmack im Mund. Deshalb küsste sie nie.

Die Wohninnenräume durften keinesfalls mit dem Qualm verpestet werden. Daher ging sie zum Rauchen und Schreiben immer auf die Terrasse oder den Balkon. Sie mietete stets Wohnungen mit Terrasse oder Balkon, wo man ein kleines Tischchen hinstellen konnte mit einer praktischen Sitzgelegenheit, meist ein simpler Hocker. Dort saß sie dann sommers wie winters. Sie fror schnell, deshalb vermummte sie sich beim leisesten Anhauch von Kühle in eine Decke und zog Handschuhe über die Finger, bevor diese hätten klamm und steif werden können.

Vor etwa zehn Jahren begannen ihre Schlafschwierigkeiten. Sie wurde häufig gegen ein Uhr nachts munter und konnte nicht wieder einschlafen. Um dem sinnlosen Herumwälzen auf der Matratze zu entkommen, verließ sie das Bett, setzte sich mit Tagebuch und Zigaretten in die überdachte Terrasse, zückte den Kuli und schrieb. Damals fing sie an, Wein zu trinken, in der Hoffnung, nach der Sitzung im Freien mit Hilfe eines Rausches ins Reich der Träume hinübergleiten zu können. Sie mochte nur herben Weißwein, der eiskalt sein musste. So trank sie, rauchte und schrieb im fahlen Schein der Terrassenleuchte. In den Winternächten trug sie einen dicken Daunenoverall und steckte ihre ewigkalten Füße in Classic Moonboots. Gott sei Dank wohnte sie in einem Land, wo die Zitronen blühen und die Lufttemperatur so gut wie nie unter die Nullgradgrenze sinkt.

Vor einigen Monaten stellte sie bei einer Gewichtskontrolle auf der Waage fest, dass sie offenbar unmerklich zugenommen hatte. Sie beschloss, ihre Kalorienzufuhr zu drosseln und das Frühstücksbrot zu streichen. Fortan aß sie morgens nichts mehr, sondern trank bloß schwarzen Kaffee. Mit dieser Tasse bitterer Brühe vor sich auf dem Tischchen hockte sie in der Terrasse, rauchte, und schrieb in ihr Tagebuch.

An jenem Morgen, einen Tag vor ihrem fünfzigsten Geburtstag, packte sie das neue Buch Nummer einhundertfünfzig, wog es zärtlich in ihren Händen und erschnupperte den muffigen Geruch des China-Shops. Sodann falzte sie das erste Blatt und notierte in ihrer inzwischen fast unleserlichen Klaue: „Bin wieder da. Datum, Stunde, Minute.“ Sie zündete sich eine Zigarette an und sah mit trüben Augen dem blässlich grauen Rauchgekräusel nach, das dem Dämmerstreif im Osten sanft entgegenstrebte.

Als man sie schließlich fand, war sie bereits zwanzig Tage tot.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Langeudoc,

äußerlich gibt es an deiner Geschichte nichts zu bemängeln.

Inhaltlich schon:

Du erzählst sehr langatmig die Chronologie des Tagebuchschreibens, hier könntest du etwas streichen.

Ab hier


Sie schrieb, weil sie nichts anderes konnte als das.

Und weil sie nicht anders konnte.

Es war stärker als eine simple Gewohnheit, es war ein Zwang, eine blöde Sucht, die sie hin zum Tagebuch trieb, und die untrennbar verknüpft war mit dem Rauchen von Zigaretten.
wird die Geschichte erst wirklich interessant.

Der Schluss ist unbefriedigend. Wieso stirbt sie plötzlich (auch wenn sie erst später gefunden wird)? Ist ihr Lebenswandel dafür verantwortlich? Oder stirbt sie gar nicht plötzlich, sondern sie hat noch jahrelang Tagebuch geschrieben?

Das ist mir alles zu unklar und nicht plausibel genug.

Gruß DS
 

Languedoc

Mitglied
Hallo DocSchneider,
Danke für die Rückmeldung. Meine Idee zu diesem Text ist nicht ausgereift, das merk ich selber. Ich hatte vor, eine Figur zu entwerfen, die an ihrer Art der Kommunikation scheitert. Das scheint nicht recht gelungen. Vielleicht hab ich mich am Thema verhoben.
Liebe Grüße
Languedoc
 

rainer Genuss

Mitglied
Hallo Languedoc
ich fand Deinen Stil, dieses seltsame, verschlossene Wesen zu beschreiben sehr kurzweilig und spannend. Du hast die Isolation dieser Person und ihre Gräben, die sie nicht überspringen kann, ausgesprochen gut geschrieben.

Das Ende, der letzte Satz ist leider ein wahrer GuteGeschichteKiller. Wenn Du ihn entfernst bleibt eine faszinierende Persönlichkeitsbeschreibung.
Lass Dir Zeit für eine Eingebung.
Die wünsche ich Dir
LG Rainer
 

Languedoc

Mitglied
Hallo Rainer,

Danke für Deine wohlwollende Betrachtung und den guten Wunsch.
„Verstorben an Einsamkeit“ steht bestimmt auf keinem Totenschein. Also unter Plausibilitätsgesichtspunkten passt mein Schlusssatz nicht zur Geschichte.
Aber so ganz leicht nehm ich ihn jetzt nicht raus. Dazu müsste mir erst einfallen, wie ich sonst die Brutalität von Einsamkeit und Isolation in diese Figur kriege.

Liebe Grüße
Languedoc
 

Ji Rina

Mitglied
Liebe Languedoc,
Für mich macht das Ende Sinn ( auch wenn 49/50 heutzutage arg jung zum Sterben ist). Du beschreibst eine Frau, die ihr Leben nur mit einem Tagebuch teilt. Dazu zählst du sehr detailliert auf, wie sie vorgeht: Welche Bögen Papier, wieviel Seiten, aus welchen Geschäften die Kladden kommen, in welche Koffer all dies wieder verschwindet, etc....etc... Jedoch erfahre ich ueber diese Frau nichts. Wie tickt sie? was hat sie erlebt? Was hat sie davon abgehalten sich Menschen anzuvertrauen? Überrascht hat mich auch die Zeile:

""""Bei Gelegenheit sagten die Leute: „Das ist ja fantastisch, dass du seit fast vierzig Jahren Tagebuch schreibst! """"

Welche Leute? Hat sie jemanden von ihren Tagebüchern erzählt?

Wie gesagt, für mein Geschmack fehlt hier die Substanz, das was die Geschichte trägt. Die Prot beschreiben, interessant machen. Ich könnte es mir auch mehr als Erzählung vorstellen. Vielleicht schraubst du ja nochmal ein wenig dran. Ich wäre Neugierig: Du beherrschst die Sprache nämlich so gut und schreibst so schön!

Liebe Grüße, Ji
 

Languedoc

Mitglied
Liebe Ji Rina,
Danke für Dein Interesse an der Geschichte, das Kompliment und die Anregungen. Mich spricht Deine Idee an, eine Erzählung aus dem Stoff zu machen, und so das Ganze vielleicht lebendiger gestalten zu können. Für ein solches Projekt muss ich mir allerdings erst den Kopf freischaufeln ...
Eine schöne Zeit wünsche ich Dir!
Liebe Grüße
Languedoc
 



 
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