Lucy

Heinrich VII

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Die Dämmerung war bereits vorbei, es war schon richtig dunkel geworden. Im tiefsten Keller des Schlosses, im Herzen Transsylvaniens, flog ein Deckel auf. Wie eine an Fäden gezogene Marionette erhob sich Graf Sarcula, kletterte aus dem Sarg und klappte ihn wieder zu. Im Sarg nebenan, der noch geschlossen war, lag seine Frau Lucy. „Immer das Gleiche!“, fluchte Sarcula und hämmerte mit beiden Fäusten auf den Deckel.
„Lucy, es ist dunkel. Anständige Vampire stehen um diese Zeit auf und beginnen ihr Nachtwerk.“
Als nichts geschah, riss Sarcula den Deckel auf und sah in das blinzelnde, verschlafene Gesicht von Lucy.
„Lass mich noch was liegen, Sarcu, nur fünf Minuten.“
„Aber wir wollten doch zusammen auf die Jagd gehen. Das war so abgemacht. Wir brauchen das Blut doch, muss ich dir das ständig in Erinnerung rufen?“
„Wenn ich schlafe, brauche ich kein Blut“, antwortete Lucy und machte keinerlei Anstalten aufzustehen. Im Gegenteil, sie drehte sich auf die andere Seite und schloss die Augen.
Zwischen Sarculas Augenbrauen bildete sich eine scharfe Falte. Das passierte immer, wenn es in ihm brodelte.
„Wir sind bald tot, wenn wir kein Blut trinken.“
„Nicht tot – wir wären endlich erlöst“, murmelte Lucy im Halbschlaf.
Ungläubig blickte ihr Mann auf sie herunter und schüttelte den Kopf.
„Wie kann man nur, dem Teufel so die Nacht stehlen?“
Lucy antwortete nicht. Sie tat, als würde sie fest schlafen.
Einen Moment noch blieb Sarcula stehen und nahm ihre tiefen, gleichmäßigen Atemzüge in sich auf. Sie sah sehr schön aus, wie sie so da lag.
Aber ihre Sturheit verärgerte ihn mal wieder über Gebühr.
„Eines sag ich dir“, rief er, „wenn ich einen gefangen habe, kriegst du keinen Tropfen ab.“
Lucy hatte es gehört, reagierte aber nicht. Sie wusste, dass er ihr dennoch etwas abgeben würde. Er liebte sie und er würde es nicht lange aushalten,
sie hungern zu lassen.
Sarcula verwandelte sich in eine Fledermaus und wollte nach draußen fliegen. Sollte Lucy doch sehen, was sie davon hat. Seine Sensoren schienen aber zu versagen, vielleicht war es noch zu früh in der Nacht. Er knallte mit dem Kopf gegen den Türrahmen. Benommen fand er sich auf dem Boden wieder, nahm menschliche Gestalt an und rieb sich fluchend die Beule an der Stirn. Er stand auf und warf einen erneuten Blick in Lucys Sarg. Sie lag noch immer nach links gedreht da und schlief den Schlaf der Gerechten. „Nur noch fünf Minuten“, von wegen, die waren längst um.
Einen Moment war Sarcula versucht, sie wach zu rütteln. Aber was hätte das gebracht? Sie würde ihn vermutlich nur anschnauzen, sich auf die rechte Seite legen und weiter schlafen. Er musste etwas anderes finden, etwas wirksames, auf das sie ganz sicher reagieren würde. Aber was? Eine Weile stand der Graf ratlos neben Lucys Sarg und zerbrach sich den Kopf darüber. Dann verwandelte er sich wieder in eine Fledermaus und flog, diesmal ohne an den Türrahmen zu stoßen, nach draußen.

Eine Weile flog er kreuz und quer in dem Wald herum, der um das Schloss stand. Einen Menschen zu finden, um diese Zeit, war so gut wie unmöglich. Die Menschen in den angrenzenden Dörfern wussten natürlich, dass im Schloss Vampire hausten. Und sie hatten überall Knoblauchringe vor ihren Fenstern und Türen hängen. Ich könnte ein junges Wildschwein oder ein Reh, vielleicht einen Hasen – dachte Sarcula gerade, als er ein Geräusch hörte. Er setzte sich auf einen Baumast und nahm die Umgebung ins Visier. Wieder knackten Zweige, knackte Buschwerk, waren Schritte zu hören. Sarcula konnte mit den Augen aber nichts erfassen. Diese Augen waren gut, ihnen entging normalerweise nichts. Schließlich hörte er ein Stöhnen – sollte das tatsächlich ein Mensch sein? Sarculas Sinne waren aufs äußerste gespannt, sein ungeheuerer Blutdurst erwachte, so dass er die Zähne bleckte und ihm Speichel aus dem Mund tropfte. Inzwischen hatte er wieder menschliche Gestalt angenommen. Wo ist dieses verrückte Stück Mensch, dachte er, dass sich nachts – entgegen aller Warnungen – hier in den Wald traut?
Dann endlich sah er eine Gestalt. Lautlos ließ er sich vom Baumast auf den Boden gleiten. Mit drei, vier Sprüngen, die einem Känguruh alle Ehre gemacht hätten, war er bei der Gestalt, packte sie von hinten, riss den Mund auf wollte ihr in den Hals beißen. Dazu kam es aber nicht. Die Gestalt drehte sich blitzschnell um, stieß ihn weg und rief: „Sarcu – ich bin es doch!“
„Lucy?“ Sarcula blickte verstört in das Gesicht seiner schönen Frau.
„Was machst du denn hier? Hast du nicht im Sarg gelegen und noch geschlafen?“
Lucy lachte. „Die fünf Minuten Schlaf, um die ich gebeten hatte, sind längst um.“
Sarcula nickte. „Dann jagen wir jetzt zusammen?"
Lucy bejahte: „Da vorne habe ich ein Reh gesehen – das könnten wir …"
„Dann lass uns keine Zeit verlieren“, unterbrach Sarcula sie flüsternd und bedeutete ihr voran zu gehen.
Als sie zu besagter Stelle kamen, war dort kein Reh zu sehen. Ein wütendes Wildschwein, ein Keiler aber, der sich beim Trüffel suchen gestört fühlte. Als er die beiden Vampire sah, die er natürlich für Menschen hielt, senkte er sofort den Kopf und rannte auf sie zu. Nur noch wenige Meter, dann würde er bei den beiden sein und ihnen mit seinen Hauern die Bäuche aufschlitzen. Gegen eine wütende Wildsau konnten selbst Sarkula oder Lucy etwas ausrichten. Sie verwandelten sich beide in Fledermäuse und flogen zum Schloss zurück. Lucy hatte unterwegs den Vorschlag gemacht, noch weiter nach einem blutgefüllten Opfer zu suchen. Aber Sarcula hatte keine Lust mehr auf Jagd. Ihm war es gründlich vergangen. Erst die Gestalt, die sich als seine Frau entpuppte. Und dann das Reh, das ein wütender Keiler war. Der Teufel des Jagdglückes war nicht mit ihnen, in dieser Nacht.

Ernüchtert saßen sie wenig später im Keller, zwischen ihren Särgen auf dem Boden. Kein Blut zu trinken, dachte Sarcula und hätte am liebsten angefangen zu weinen. Lucy saß eine Weile stumm neben ihm. Sollte sie ihren Mann dazu überreden, doch noch mal in den Wald zu fliegen, um nach einem Opfer Ausschau zu halten? Sie sah ihn an. Sah seine Falte auf der Stirn, das mutlos herunter hängende Kinn und die hoffnungslos blickenden Augen. Um irgend etwas zu unternehmen, sagte sie: „Ich stelle eine Falle an dem Loch da drüben auf. Hin und wieder kommt dort eine Ratte raus und leckt das Wasser auf, das von der Decke tropft.“
Sie stand auf, holte die Falle aus dem hinteren Teil des Raumes und stellte sie vorne, genau neben das Loch in der Wand. Sarcula sah ihr zu, ohne etwas zu sagen. Schließlich saß Lucy neben ihm und sie starrten beide gespannt auf die Falle. Lucy legte den Arm um ihren Mann und drückte ihn an sich.
„Morgen Nacht, Sarcu, stehe ich zusammen mit dir auf und dann gehen wir gemeinsam jagen. Dann wird es weder falsche Gestalten noch wütende Keiler geben, die uns aufhalten.“
Sarcula drehte den Kopf und blickte sie an.
„Versprochen?“
„Ja – versprochen.“
Im nächsten Moment hörten sie ein Geräusch und eine fette Ratte schlüpfte tatsächlich aus dem Loch in der Wand. Sie ging zu der Falle und roch an dem Stück Speck, das Lucy als Lockmittel hinein gelegt hatte. Gespannt beobachteten Sarcula und Lucy, was weiter geschah. Die Ratte kam dem Speck immer näher. Schnüffelte, um im nächsten Moment vielleicht danach zu schnappen und … Es kam anders. Die Ratte ließ davon ab, trank nur etwas Wasser aus der Pfütze, sah sich noch einmal um und verschwand in dem Loch. Sarcula hatte einen Moment überlegt, zu ihr zu springen und sie zu packen. Auch Lucy hatte das gedacht. Aber die Ratte war zu nahe am rettenden Loch und die beiden Vampire zu weit weg für so einen Sprung.
Lucy umarmte ihren Mann und beide saßen stumm da. Kein Blut, kein Mut, nicht mal einen Nager. Lucy küsste ihren Mann. Dann rissen sie sich die Kleider vom Leib und liebten sich – die ganze Nacht lang, bis zum Morgengrauen. Erschöpft legten sie sich am nächsten Morgen in die Särge, um den Tag über zu schlafen. Und um in der nächsten Nacht gemeinsam auf die Jagd zu gehen.
 
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