Lyntje

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Mistralgitter

Mitglied
Zwischen Hecken und Himmel, zwischen Wellen und Wolken lagen unsere Dörfer. Du wohntest in der Nähe der Kirche umgeben von Phlox, Rittersporn und Rosenstauden, ich gleich hinter dem Deich, auf dem die Schafe satt wurden. Um dein Haus breitete sich ein geordneter, üppig blühender Garten aus. Zu mir gehörte ein verfallener Zaun, durch den mein bescheidenes Häuschen, zwei verwilderte Forsythiensträucher und ein Kirschbaum lugten.

Heute ist Dienstag. Erinnerst du dich?
Weißt du noch, wie du eines Tages auf dem Fahrrad an meinem Gartenzaun vorbeikamst, während ich versuchte, eine schadhafte Zaunlatte auszuwechseln? Die Steinchen auf dem Kiesweg knirpsten. Ich stand gebückt da, weil ich die neue Latte anschrauben wollte. So sah ich nur deine nackten Füße auf den Pedalen und deine braungebrannten Waden. „Joakim uti Babylon…“ hörte ich dich im Vorbeifahren singen. „… hade en hustru Susanna …“, ergänzte ich unwillkürlich, richtete mich auf und schaute dir verwundert nach. Dein dunkles, langes Haar sah ich. Wie ein leichtes Tuch umspielte es deinen Rücken. Und du kanntest dieses alte schwedische Volkslied, das ich selber sehr mochte wie alles, was aus diesem Land kam.

Du warst noch nicht sehr weit geradelt, da fiel aus deiner Hosentasche ein kleines Schlüsseltäschchen auf den Kiesweg. Das geschah wohl so leise, dass du nichts bemerktest und weiterfuhrst. Ich jedoch rannte los, stolperte fast hinter dir her und rief laut: „Hallo!“ Und noch einmal „Hallo!“ Aber du hörtest mich nicht. Der Wind verschluckte meine Rufe und dann auch deinen Gesang. Der Weg machte eine Kurve, die Sträucher verdeckten dich. Ich hob das Täschchen auf, rannte zurück, holte eilig mein eigenes Fahrrad aus dem Schuppen und radelte dir hinterher.

Es gab ja nur einen einzigen Weg - am Deich entlang, am Leuchtturm vorbei und dann in den Ort, den wir später Lyntje-Ort nannten. Aber wie sollte ich dich finden? Wohin gehen junge Frauen, die Lyntje heißen, mit dunklen langen Haaren? Zu ihrer Freundin? Zu ihrer Tante, zu ihrem Onkel, zu ihrer Großmutter? Einfach nur nach Hause? Ich blickte im Fahren in die Gärten und Hofeinfahrten. Ich hielt vor dem Dorfladen und schaute mich um. Aber nirgendwo stand ein Fahrrad, vor der Apotheke nicht, vor der Post nicht. Zur Kirche auf der Anhöhe wollte ich nicht mehr fahren. Der Wind frischte auf, düstergraue Wolken zogen heran, und es schien, als wolle es anfangen zu regnen. Also kehrte ich um und fuhr unverrichteter Dinge zurück nach Hause. Unterwegs wurde es zusehends dunkler und ungemütlicher. Kaum war ich in der Stube, als es auch schon anfing heftig zu regnen und zu stürmen. Der Deich versank im Nebel.

Wenn es nach meinem Willen gegangen wäre, hättest du nach einer kurzen Weile stürmisch und verzweifelt an meiner Türe geklopft und nach dem Schlüssel gefragt. Ich hätte aufgemacht, du hättest tropfnass vor mir gestanden und um Schutz vor dem Unwetter ersucht. Ich ertappte mich, dass ich tatsächlich angespannt nach draußen lauschte, ob sich irgendetwas tat. Ich lugte durch die kleinen Fenster. Aber nichts als Regen und Sturm. Die Wolken hingen schwer vom Himmel, die Büsche und Bäume an der Straße bogen sich, dem Kirschbaum wurde sogar ein Ast entrissen. Der Weg, der am Haus vorbei führte, füllte sich mit Pfützen. Das war alles.

Ich erinnere mich noch an jede Einzelheit dieses Tages, wie ich gedankenverloren einen Becher mit kaltem Tee vom Vormittag erwischte, einen Keks dazu aß und noch einen zweiten. Wie ich mich lustlos an den Schreibtisch setzte, um mich auf den Unterricht für den nächsten Morgen vorzubereiten.

Es könnte ein Thema aus der Wirtschafts-Geografie des Ruhrgebietes gewesen sein und Mathematik für die siebte Klasse. Umformulieren von Brüchen in Prozente. Jedes Jahr dasselbe. Wie viel Prozent meiner Zeit hatte ich heute schon auf unsinnige Weise damit verbracht, dass ich dir hinterhergefahren war, und damit, dass ich nur zu gern meine Gedanken abschweifen ließ, damit sie dich umkreisten? „So ein albernes Benehmen! Wie ein dummer Schuljunge!“, schimpfte ich und ertappte mich dennoch dabei, wie ich mir ausführlich vorstellte, wie ich dich in den nächsten Tagen doch noch finden und dir den Schlüssel übergeben würde.

Schließlich stand ich auf, briet mir ein Ei mit Speck, belegte zwei Brotscheiben mit Tomaten, Gurke und Schnittlauchquark und kochte eine weitere Kanne Tee. Dann setzte ich mich damit an meinen Küchentisch und entwarf neben dem Abendessen ein Übungsblatt für meine Schüler. Sinnvollerweise.

Da du nicht kamst, trug ich irgendwann das Schlüsselmäppchen zum Fundbüro im Rathaus, hinterließ auch meinen Namen und meine Adresse, denn insgeheim hoffte ich natürlich, dass sich daraus eine Begegnung mit dir ergeben könnte. Dann geschah lange nichts mehr, was erwähnenswert gewesen wäre. Die Zeit schlich dahin.

In der Schule benahmen sich meine Schüler mal so, mal so, machten meist unwillig ihre Hausaufgaben und bereiteten sich mal mehr, mal weniger gut auf die Klassenarbeiten vor. Ich war kein sehr engagierter Lehrer. Vielleicht spiegelte mein Unterricht diese leise Unlust wider, war deswegen womöglich langweilig und eintönig. Es war mir nicht in die Wiege gelegt, sehr unterhaltsam oder gesprächig zu sein. Ich kam mit wenigen Worten aus. Wenn ich im Haus und im Garten werkeln, hin und wieder ein Aquarell malen oder mit dem Segelboot draußen auf dem Wasser sein konnte, lebte ich auf. Neulich hab ich eine Holzbank gezimmert. Sie steht vor dem Haus dort, wo noch lange am Abend die Sonne scheint. Du wolltest später immer, dass ich einen Birnbaum dazu pflanzte und dass ich endlich die Forsythien stutzte, die mit viel zu langen Zweigen überhingen und ungewollt Ableger bildeten. Ich jedoch fand es schön, wenn es hier in Svjogen-Ort, wie wir es nannten, ein bisschen verwildert war.

Eines Tages klopfte es an meiner Tür. Ich machte auf und schaute unvermutet in dein Gesicht. Ich erschrak. Damit hatte ich nicht gerechnet.
„Ich möchte mich bedanken“, sagtest du munter. „Ich bin so froh, dass jemand den Schlüssel für unser Gartenhäuschen gefunden hat.“
Du reichtest mir ein Büchlein mit Gedichten.
„Als Dankeschön.“
„Welch Überraschung.“ Mehr brachte ich nicht über die Lippen. Ich betrachtete den Buchtitel. „Sind das eigene?“ fragte ich und bat dich herein.
„Ja. Ich schreibe seit einigen Jahren. Aber dies ist mein erstes Gedichtbändchen. Ich hoffe, es gefällt Ihnen.“
„Danke. Ich lese zwar wenig Literatur, eher Sachbücher. Aber dies hier ist sicher eine nette Abwechslung“, sagte ich wohlwollend.
Du standst in meinem Wohnzimmer und schautest dich um.
„Sind das eigene?“, fragtest auch du, als du die Aquarelle an der Wand entdecktest. Ich nickte. Das war der Anfang unserer Geschichte.

Deine Gedichte beschäftigten mich, ihre bildhafte Sprache regte mich an. Wie ein Betrunkener malte ich Aquarelle dazu. Du kamst nun öfter und setztest dich vor meine Bilder, die an der Wand hingen, und ließest dir Texte dazu einfallen. Wir träumten davon ein gemeinsames Buch mit deinen Gedichten und meinen Bildern herauszugeben. Wenn ich bei dir und Armin, deinem Mann, zu Besuch war, sangen wir zu dritt. Er begleitete unseren Gesang mit dem Klavier. Schön war das. Gemeinsam fuhren wir jede Woche zur Chorprobe. Unsere Freundschaft war die natürlichste Sache der Welt. Vielleicht dachten wir das. Vielleicht dachtest du das. Ich wurde nach und nach unsicherer.

Einmal im Sommer erschrak ich, als du vom Schwimmen zurückkamst. Armin und ich saßen in eurem Garten. Wir hatten auf dich gewartet. Du lachtest etwas verlegen und sagtest, du hättest eben im Meer deinen Ehering verloren. Es sei zwecklos, nach ihm zu suchen. Das Meer hätte ihn verschluckt. Erstaunlich schnell fandest du in einer Schublade einen messingfarbenen Gardinenring und stecktest ihn stattdessen lachend an den Finger.
„Der tut es auch“, meintest du schelmisch. Dein Mann nickte und schwieg. Mir wurde ganz ungemütlich zumute.

Eines Tages kam Armin nicht zur Chor-Probe. Und auch du fehltest. Armin war schwer krank. Ich fuhr dich von da an jeden Tag zum Krankenhaus, weil du kein Auto hattest. Du kamst anschließend noch auf einen Kaffee zu mir, bevor ich dich wieder nach Hause brachte. Mehrere Tage ging das gut. Doch dann war es nicht mehr wegzudiskutieren - die Spannung zwischen uns wuchs. An einem Dienstag war es soweit. Du wolltest dich eigentlich so verabschieden, wie wir es immer taten - eine kurze Umarmung und ein Kuss auf die Wange, wie Freunde es tun. Doch nun wollte ich, dass du meine Freude an dir erfahren und mein Begehren spüren solltest. Ich presste dich fest an mich, küsste und streichelte dich, wie Verliebte es tun. Und du erwidertest meine Liebkosungen. Deine Augen glänzten, dein Gesicht glühte. Wir taten mehr als sonst und wussten zugleich, dass es ein gefährliches Spiel war.

Ganz benommen trat ich den Rückweg an, stieg noch hinauf auf den Deich, ging forschen Schrittes zwischen den Schafen auf der Deichkrone entlang und versuchte zur Ruhe zu kommen. Der Gegenwind machte mir mehr zu schaffen als sonst. Obwohl ich nur langsam vorankam, wollte ich unbedingt über das unruhige Meer schauen können, über Wiesen und Felder hinweg die kleinen Orte zu meinen Füßen liegen sehen. Die Tiefe des Himmels wollte ich sehen, beobachten, wie die Wolken wanderten, die späte Nachmittags-Sonne wollte ich über mir spüren. Ich brauchte beides, ruhendes Land und aufgewühltes Meer, Schutz und Gefahr, um mein Gleichgewicht zu finden.

Ich stieg wieder hinab und stapfte nachdenklich durch den Sand. Wie oft schon stand ich bewundernd hier am Strand, hingerissen von der Macht und der Würde der Meeresbewegungen. Manchmal umspülte sein Wasser sanft meine Füße in gleichmäßig wiederkehrenden, kleinen Wellen. Ein anderes Mal befeuchtete es mein Gesicht mit der Gischt der aufspritzenden Brecher, die laut und ungebärdig gegen die Küste prallten. Jedes Mal kam ich erfüllt und erfrischt, mit neuem Elan nach Hause. Es war dämmrig, als ich meinen Gartenzaun erreichte. Ich rüttelte an einigen Latten. Sie gaben nicht nach und machten den Eindruck, als seien sie fest genug, um den Herbststürmen zu trotzen.

Wir trafen uns nun oft am Deich, wenn du auf dem Weg zum Bauern vorbeiradeltest, um bei ihm Milch zu holen. Ich wartete hinter der Deichkrone, im Ufergras auf dem Rücken liegend und in die Wolken schauend, bis dein Schatten über mich kam.

Es dauerte lange, bis man feststellte, dass Armin unheilbar krank war. Sein Husten hörte sich hart an und quälte ihn, sein Atem ging schwer. So oft ich konnte, fuhr ich mit euch übers Land. Armin ging gerne eine kleine Weile am Deich entlang. Bis zur nächsten Bank schaffte er es gerade mit seiner Kraft. Dann setzten wir uns mit ihm hin und schauten über das Meer. Armin saß aber auch gerne einfach im Garten hinter dem Haus, wenn dort die Abendsonne noch wärmte. Ich besuchte euch, so oft es ging. Unsere Abschiede dauerten jedes Mal länger, wurden ausführlicher als ein freundschaftlicher Kuss.

Ich hoffte, dass von außen alles normal aussah, wenn ich euch zu den Kirchenkonzerten begleitete. Wir saßen in aller Öffentlichkeit beisammen, als ob wir eine Familie wären - Armin im Rollstuhl in der Gangmitte und wir neben ihm in der Kirchenbank. Gedanken darüber, was die Konzertbesucher womöglich über unsere Beziehung denken könnten, klammerten wir aus. Auch haben wir nie darüber gesprochen, was es für Armin bedeutete, dass ich da war. Man konnte nicht wissen, ob er ahnte, wie nahe wir uns gekommen waren. Auch wir haben unsere Beziehung nie zu Ende bedacht, wir nahmen einfach die Gelegenheiten, die uns das Leben und unsere Liebe anboten. Und wenn ich in eurer Gegenwart unsicher wurde, begann ich zu singen, und ihr beide stimmtet mit ein.

So sicher wie nach den Höhepunkten im Leben der Alltag einkehrt, so sicher wie auf jeden Montag ein Dienstag nach dem anderen folgt, so beständig verlief im Übrigen unser Leben. Auf Ebbe und Flut kann man sich verlassen. Auf die Überflutung des Strandes bis zu den Dünen im Herbst kann man getrost warten. Das geschieht jedes Jahr aufs Neue. Immer wieder. Man hat sich an das Geschrei der Möwen gewöhnt, unseren ständigen Begleitern. Und des Nachts warnt in regelmäßigem Kreisen die Leuchtlampe im Turm die Seefahrer vor der nahen Küste. So kann man sicher sein, wenn man ein geübter Seemann ist und die Signale kennt. Die Welt ist geordnet hier. Wir können nachts beruhigt träumen und tags geruhsam zu Werke gehen. Alles hat seine Zeit. Alles hat seine Grenze: die Deiche, die Zäune, die Schulhofmauer. Einzig die Fenster haben keine Grenzen, keine Scheiben-Gardinen, nur Blumen auf den Fensterbänken und Fensterläden, die meist offen stehen.

Eines Tages schlief Armin ein ohne noch einmal aufzuwachen. Er war so still gegangen, wie er gelebt hatte. Euer Haus wirkte auf einmal leer. Seine Stimme fehlte, selbst sein Husten. Du sagtest nicht viel nach seinem Tod. Und ich hielt mich zurück, damit du in Ruhe trauern konntest. Wir sahen uns seltener.

Eines Tages standst du mit ernstem Gesicht vor mir. Ich schauderte innerlich vor deinen auf einmal seltsam fremden und großen, dunklen Augen. Unsere Gräben seien zu groß, sagtest du entschlossen. Die Kraft unserer Hände und unserer Liebe reichten nicht aus, um sie zuzuschütten. Der Wind würde unsere Bemühungen zerteilen, der Sturm sie hinweg tragen, bevor wir einen Grund gelegt hätten, sagtest du.
Ich verstand dich nicht und war benommen, wie wenn ein Brecher mich weggespült und wieder an Land gekippt hätte. Ratlos streichelte ich dein Gesicht, deinen Nacken, strich über dein Haar, deine Schultern und deinen Rücken und hielt nicht eher inne, bis deine Hand Einhalt gebot. Du seiest nicht von hier, sagtest du ernst und gabst mir einen letzten Kuss. Du wolltest zurückkehren in das Land, aus dem du einmal gekommen warst. In diesem Moment ertrank ich in der auflaufenden Flut.

Ich habe vergessen, wie ich in den letzten Jahren gelebt habe. Meinen Garten würdest du nicht mehr wiedererkennen, so zugewachsen ist er. An meinem Zaun haben die Herbst-Stürme ihren Unmut ausgelassen. Meine Bilder sind vergilbt, dein Gedicht- Büchlein zerlesen. Die neuen Besitzer eures Hauses haben eure farbenfrohen Blumen und Sträucher durch eine einfache grüne Rasenfläche ersetzt. Niemand singt mehr „Joakim uti Babylon hade en hustru Susanna...“ Aber hin und wieder an einem Dienstag stelle ich mir vor, du säßest neben mir. Und dann rede ich mit dir, als ob ich dich an unsere gemeinsame Geschichte erinnern müsste, damit du sie nicht vergisst.
 

Wipfel

Mitglied
Stark, das ist eine sehr schöne Erzählung. Man könnte meinen, Siegfried Lenz ist Pate gewesen. Einige Füllungen braucht es nicht oder würde ich persönlich umformulieren:

In der Schule benahmen sich meine Schüler mal so, mal so, machten meist unwillig ihre Hausaufgaben und bereiteten sich mal mehr, mal weniger gut auf die Klassenarbeiten vor.
...und bereiteten sich mehr oder weniger gut auf die Klassenarbeiten vor.

Sehr gern gelesen und mich köstlich unterhalten.

Grüße von wipfel
 

Mistralgitter

Mitglied
Ganz herzlichen Dank für diese positive Rückmeldung. Für Änderungsvorschläge bin ich immer gerne zu haben, inzwischen habe ich selber schon einige Schwachstellen wieder entdeckt und arbeite an einer weiteren Fassung. Meine Texte sind eigentlich immer nie richtig fertig. Aber ich war froh, dass ich vor einigen Tagen wenigstens einmal so weit gekommen war, um den Text der LL-Öffentlichkeit vorzustellen ohne rot zu werden.

In dem von dir zitierten Abschnitt könnte man durchaus deine Version unterbringen. Aber ich bin ein großer Freund von parallel konstruierten Textteilen, um einen bestimmten Effekt zu erzielen - hier ist es ein Element der langweiligen Gleichförmigkeit.

In der Schule benahmen sich meine Schüler mal so, mal so, machten meist unwillig ihre Hausaufgaben und bereiteten sich mal mehr, mal weniger gut auf die Klassenarbeiten vor.
Dennoch Danke für deine Rückmeldung
und viele Grüße
Mistralgitter
 

Wipfel

Mitglied
Schweigeminute war vielleicht auch nicht sein stärkstes Buch. Der Klassiker (Deutschstunde) und die Auflehnung fielen mir ein... Oder die Klangprobe.
Man mag ihn - oder nicht. Ich mag deinen Text. Der Geschichte tut es gut, das sie nicht zusammenfinden. Es schwebt eine angenehme Melancholie über den Bildern - klasse. Nun aber gut. Zuviel Weihrauch vernebelt den Heiligenschein.

Grüße von wipfel
 

Mistralgitter

Mitglied
Ich habe etliche "Lenz's" hier im Bücherschrank ... mein einfaches Gemüt ist literarisch jedoch auf der Stufe von "... willst noch Lakritz?" (aus " So zärtlich war Suleyken") stehen geblieben. ;-)
Dein letzter Satz ließ mich schmunzeln...
LG
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Mistralgitter,

ich habe deine Geschichte bereits kurz nach ihrem Erscheinen auf der LL gelesen und sie, genau wie Wipfel, als stark und sehr schön empfunden. Ich habe nur versäumt, dir das mitzuteilen, was ich hiermit nachhole.

Was mir stilistisch besonders gefallen hat, ist dieses in meinen Augen sehr gekonnt formulierte Wechselspiel zwischen Natur und menschlichem Empfinden. Soetwas ist zwar nicht selten, aber nicht selten ist es, dass der Autor dabei zu viel des Guten tut. Bei dir kommt das geradezu wohlwollend herüber.
Es gibt also nichts zu mäkeln, höchstens zu wünschen. Ich glaube nämlich, die kleine Geschichte hätte durchaus das Potential zu einer richtigen Novelle. Das Innenleben deines Protagonisten wird dem Leser ja anschaulich vor Augen geführt. Das was in Lyntje vorgeht, was sie beispielsweise ihrem Mann gegenüber empfindet, wie sie den Konflikt dieser Dreiecksbeziehung zumindest für sich zu lösen bemüht ist und was sie letztlich in die Trennung treibt, bleibt weitgehend verborgen. Ihr Argument für die Trennung
Unsere Gräben seien zu groß, sagtest du entschlossen. Die Kraft unserer Hände und unserer Liebe reichten nicht aus, um sie zuzuschütten. Der Wind würde unsere Bemühungen zerteilen, der Sturm sie hinweg tragen, bevor wir einen Grund gelegt hätten, sagtest du.
ist mir zu dünn. Du hast es geschafft, dass ich diese Lyntje mag – und mehr von ihr wissen will. Und auch der Arnim ist mir viel zu blas in seinen fast schon unbedeutenden Auftritten. Ich weiß aber, dass ein stärkeres Eingehen auf diese Figuren, den Rahmen der hier vorgestellten Geschichte sprengen würde. Deshalb die Idee von der Novelle, in die man vielleicht auch das sich (eventuell das Maul zerreißende) Umfeld mit einbezieht. Stoff für spannende Konflikte gäbe es jede Menge.

Abschließend noch ein paar Kleinigkeiten, die mir auffielen.

[ 4]1. Was ist mit „Svjogen-Ort“ gemeint. Woher kommt dieser Name?

[ 4]2.
Ich machte auf und schaute [strike]unvermutet [/strike]in dein Gesicht. Ich erschrak. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Durch sein Erschrecken und die Tatsache, dass er damit nicht gerechnet hat, ist das „unvermutet“ meines Erachtens ausreichend erklärt.

[ 4]3.
Du kamst nun öfter und setztest dich vor meine Bilder, [strike]die an der Wand hingen[/strike],
Dass die Dinger an der Wand hängen, weiß der Leser schon.

[ 4]4.
Unsere Abschiede … wurden ausführlicher als ein freundschaftlicher Kuss.
Das hakt irgendwie. Kann ein Kuss ausführlich sein?

[ 4]5.
So sicher wie nach den Höhepunkten im Leben der Alltag einkehrt, so sicher wie auf jeden Montag ein Dienstag nach dem anderen folgt…
Auf den Montag folgt mit Sicherheit kein Dienstag nach dem anderen. Da kommen noch andere Wochentage dazwischen. Wenn du aber schreibst: „so sicher, wie auf jeden Monatg ein Dienstag folgt.. „ dürfte es hinkommen,

[ 4]6.
Alles hat seine Grenze: die Deiche, die Zäune, die Schulhofmauer
Hier hast du wohl „sein“ und „haben“ verwechselt. Deiche, Zäune oder Schulhofmauern haben keine Grenzen. Sie sind Grenzen oder markieren zumindest Selbige.

Aber das sind wirklich nur Kleinigkeiten. Deine Erzählung ist sehr schön. Punkt.

Es grüßt
Ralph
 

Mistralgitter

Mitglied
Hallo Ralph,

danke sehr für dein ausführliches Kommentieren, für die Beschäftigung mit dem Text.

Du hast Recht - die Geschichte trägt eigentlich mehr Potential. Da ich aber schon sehr lange erfolglos an ihr rumgebastelt hatte, ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen, und sogar Angst hatte, sie zu verderben, hab ich einfach mal eine Kurzversion versucht. Ich dachte, wenigstens das muss irgendwie klappen.
Ich dachte: Besser eine halbwegs gute Erzählung als eine schlechte Novelle - und so hab ich das schon vorhandene Material zusammengestrichen.

Du hast es richtig beobachtet - Armin kommt zu kurz, das Motiv für Lyntjes Abgang ist nicht ausgearbeitet, zudem ist auch die Wahl des Liedes "Jojakim..." nicht erklärt usw... es gibt viele "Text-Brachen", die zwar schon im Computer hängen, aber bisher unbefriedigend gelöst sind. Wenn ich das hinkriegen könnte, wäre ich froh.

zu 1) Der Ich-Erzähler heißt Svjogen. Das käme in der ausführlicheren Darstellung auch besser raus.
zu 2) An der Stelle würde ich eher das "Ich erschrak" wegnehmen.
zu 3) Stimmt. Hab ich übersehen.
zu 4) Ich wollte sagen: Die Abschiede wurden ausführlicher und beschränkten sich nicht nur auf einen freundschaftlichen Kuss. Wobei es doch auch bei den Küssen durchaus solche und solche gibt... ;-)
zu 5) Ja, das kann ich ändern.
zu 6) Ohh, da muss ich mir was anderes überlegen... das kann nicht so bleiben.

Ich freu mich natürlich sehr über deine positive Beurteilung. Deine Anmerkungen zu den Stellen mit der Naturbeobachtung freuen mich sehr und ich bin erleichtert, dass meine Grundidee beim Leser ankommt.

Also - soweit erst einmal von mir. Seit der Veröffentlichung im Netz hab ich allerdings die Geschichte ruhen lassen. Aber wer weiß?

Viele Grüße
Mistralgitter

P.S. Eben fällt mir noch mehr auf: Mehrere Abschnitte beginnen mit "eines Tages". Das sind unschöne Wiederholungen. Okay - Überarbeitung oder gar "Neuschöpfung" ist angesagt.
 

Mistralgitter

Mitglied
Lyntje

Zwischen Hecken und Himmel, Sandwegen und Strand, zwischen Wellen und Wolken lagen unsere Dörfer. Du wohntest in der Nähe der Kirche umgeben von Phlox, Rittersporn und Rosenstauden, ich gleich hinter dem Deich, auf dem die Schafe satt wurden. Um dein Haus breitete sich ein geordneter, üppig blühender Garten aus. Zu mir gehörte ein verfallener Zaun, durch den mein bescheidenes Häuschen, zwei verwilderte Forsythiensträucher und ein Kirschbaum lugten.

Heute ist Dienstag. Erinnerst du dich?
Weißt du noch, wie du eines Tages auf dem Fahrrad an meinem Gartenzaun vorbeikamst, während ich versuchte, eine schadhafte Zaunlatte auszuwechseln? Die Steinchen auf dem Kiesweg knirpsten. Ich stand gebückt da, weil ich die neue Latte anschrauben wollte. So sah ich nur deine nackten Füße auf den Pedalen und deine braungebrannten Waden. „Joakim uti Babylon…“ hörte ich dich im Vorbeifahren singen. „… hade en hustru Susanna …“, ergänzte ich unwillkürlich, richtete mich auf und schaute dir verwundert nach. Dein dunkles, langes Haar sah ich. Wie ein leichtes Tuch umspielte es deinen Rücken. Und du kanntest dieses alte schwedische Volkslied, das ich selber sehr mochte wie alles, was aus diesem Land kam.

Du warst noch nicht sehr weit geradelt, da fiel aus deiner Hosentasche ein kleines Schlüsseltäschchen auf den Kiesweg. Das geschah wohl so leise, dass du nichts bemerktest und weiterfuhrst. Ich jedoch rannte los, stolperte fast hinter dir her und rief laut: „Hallo!“ Und noch einmal „Hallo!“ Aber du hörtest mich nicht. Der Wind verschluckte meine Rufe und dann auch deinen Gesang. Der Weg machte eine Kurve, die Sträucher verdeckten dich. Ich hob das Täschchen auf, rannte zurück, holte eilig mein eigenes Fahrrad aus dem Schuppen und radelte dir hinterher.

Es gab ja nur einen einzigen Weg - am Deich entlang, am Leuchtturm vorbei und dann in den Ort, den wir später Lyntje-Ort nannten. Aber wie sollte ich dich finden? Wohin gehen junge Frauen, die Lyntje heißen, mit dunklen langen Haaren? Zu ihrer Freundin? Zu ihrer Tante, zu ihrem Onkel, zu ihrer Großmutter? Einfach nur nach Hause? Ich blickte im Fahren in die Gärten und Hofeinfahrten. Ich hielt vor dem Dorfladen und schaute mich um. Aber nirgendwo stand ein Fahrrad, vor der Apotheke nicht, vor der Post nicht. Zur Kirche auf der Anhöhe wollte ich nicht mehr fahren. Der Wind frischte auf, düstergraue Wolken zogen heran, und es schien, als wolle es anfangen zu regnen. Also kehrte ich um und fuhr unverrichteter Dinge zurück nach Hause. Unterwegs wurde es zusehends dunkler und ungemütlicher. Kaum war ich in der Stube, als es auch schon anfing heftig zu regnen und zu stürmen. Der Deich versank im Nebel.

Wenn es nach meinem Willen gegangen wäre, hättest du nach einer kurzen Weile stürmisch und verzweifelt an meiner Türe geklopft und nach dem Schlüssel gefragt. Ich hätte aufgemacht, du hättest tropfnass vor mir gestanden und um Schutz vor dem Unwetter ersucht. Ich ertappte mich, dass ich tatsächlich angespannt nach draußen lauschte, ob sich irgendetwas tat. Ich lugte durch die kleinen Fenster. Aber nichts als Regen und Sturm. Die Wolken hingen schwer vom Himmel, die Büsche und Bäume an der Straße bogen sich, dem Kirschbaum wurde sogar ein Ast entrissen. Der Weg, der am Haus vorbei führte, füllte sich mit Pfützen. Das war alles.

Ich erinnere mich noch an jede Einzelheit dieses Tages, wie ich gedankenverloren einen Becher mit kaltem Tee vom Vormittag erwischte, einen Keks dazu aß und noch einen zweiten. Wie ich mich lustlos an den Schreibtisch setzte, um mich auf den Unterricht für den nächsten Morgen vorzubereiten.

Es könnte ein Thema aus der Wirtschafts-Geografie des Ruhrgebietes gewesen sein und Mathematik für die siebte Klasse. Umformulieren von Brüchen in Prozente. Jedes Jahr dasselbe. Wie viel Prozent meiner Zeit hatte ich heute schon auf unsinnige Weise damit verbracht, dass ich dir hinterhergefahren war, und damit, dass ich nur zu gern meine Gedanken abschweifen ließ, damit sie dich umkreisten? „So ein albernes Benehmen! Wie ein dummer Schuljunge!“, schimpfte ich und ertappte mich dennoch dabei, wie ich mir ausführlich vorstellte, wie ich dich in den nächsten Tagen doch noch finden und dir den Schlüssel übergeben würde.

Schließlich stand ich auf, briet mir ein Ei mit Speck, belegte zwei Brotscheiben mit Tomaten, Gurke und Schnittlauchquark und kochte eine weitere Kanne Tee. Dann setzte ich mich damit an meinen Küchentisch und entwarf neben dem Abendessen ein Übungsblatt für meine Schüler.

Da du nicht kamst, trug ich irgendwann das Schlüsselmäppchen zum Fundbüro im Rathaus, hinterließ auch meinen Namen und meine Adresse, denn insgeheim hoffte ich natürlich, dass sich daraus eine Begegnung mit dir ergeben könnte. Dann geschah lange nichts mehr, was erwähnenswert gewesen wäre. Die Zeit schlich dahin.

In der Schule benahmen sich meine Schüler mal so, mal so, machten meist unwillig ihre Hausaufgaben und bereiteten sich mal mehr, mal weniger gut auf die Klassenarbeiten vor. Ich war kein sehr engagierter Lehrer. Vielleicht spiegelte mein Unterricht diese leise Unlust wider, war deswegen womöglich langweilig und eintönig. Es war mir nicht in die Wiege gelegt, sehr unterhaltsam oder gesprächig zu sein. Ich kam mit wenigen Worten aus. Wenn ich im Haus und im Garten werkeln, hin und wieder ein Aquarell malen oder mit dem Segelboot draußen auf dem Wasser sein konnte, lebte ich auf. Erinnerst du dich an unsere Holzbank, die ich gezimmert hatte? Sie steht immer noch vor dem Haus dort, wo noch lange am Abend die Sonne scheint. Du wolltest später immer, dass ich einen Birnbaum dazu pflanzte und dass ich endlich die Forsythien stutzte, die mit viel zu langen Zweigen überhingen und ungewollt Ableger bildeten. Ich jedoch fand es schön, wenn es hier in Svjogen-Ort, wie wir es nannten, ein bisschen verwildert war.

Eines Tages klopfte es an meiner Tür. Ich machte auf und schaute in ein fremdes Gesicht, dein Gesicht – es waren ja auch deine langen Haare und deine Beine. Ich erschrak. Damit hatte ich nicht gerechnet.
„Ich möchte mich bedanken“, sagtest du munter. „Ich bin so froh, dass jemand den Schlüssel für unser Gartenhäuschen gefunden hat.“
Du reichtest mir ein Büchlein mit Gedichten.
„Als Dankeschön.“
„Welch Überraschung.“ Mehr brachte ich nicht über die Lippen. Ich betrachtete den Buchtitel. „Sind das eigene?“ fragte ich und bat dich herein.
„Ja. Ich schreibe seit einigen Jahren. Aber dies ist mein erstes Gedichtbändchen. Ich hoffe, es gefällt Ihnen.“
„Danke. Ich lese zwar wenig Literatur, eher Sachbücher. Aber dies hier ist sicher eine nette Abwechslung“, sagte ich wohlwollend.
Du standst in meinem Wohnzimmer und schautest dich um.
„Sind das eigene?“, fragtest auch du, als du die Aquarelle an der Wand entdecktest. Ich nickte. Das war der Anfang unserer Geschichte.

Deine Gedichte beschäftigten mich, ihre bildhafte Sprache regte mich an. Wie ein Betrunkener malte ich Aquarelle dazu. Du kamst nun öfter und setztest dich vor meine Bilder und ließest dir Texte dazu einfallen. Wir träumten davon ein gemeinsames Buch mit deinen Gedichten und meinen Bildern herauszugeben. Wenn ich bei dir und Pärtil, deinem Mann, zu Besuch war, sangen wir zu Dritt. Er begleitete unseren Gesang am Klavier. Schön war das. Gemeinsam fuhren wir jede Woche zur Chorprobe. Unsere Freundschaft war die natürlichste Sache der Welt. Vielleicht dachten wir das. Vielleicht dachtest du das. Ich wurde nach und nach unsicherer.

Einmal im Sommer erschrak ich, als du vom Schwimmen zurückkamst. Pärtil und ich saßen in eurem Garten. Wir hatten auf dich gewartet. Du lachtest etwas verlegen und sagtest, du hättest eben im Meer deinen Ehering verloren. Es sei zwecklos, nach ihm zu suchen. Das Meer hätte ihn verschluckt. Erstaunlich schnell fandest du in einer Schublade einen messingfarbenen Gardinenring und stecktest ihn stattdessen lachend an den Finger.
„Der tut es auch“, meintest du schelmisch. Dein Mann nickte und schwieg. Mir wurde ganz ungemütlich zumute.

Eines Tages kam Pärtil nicht zur Chor-Probe. Und auch du fehltest. Pärtil war schwer krank. Ich fuhr dich von da an jeden Tag zum Krankenhaus, weil du kein Auto hattest. Du kamst anschließend noch auf einen Kaffee zu mir, bevor ich dich wieder nach Hause brachte. Mehrere Tage ging das gut. Doch dann war es nicht mehr wegzudiskutieren - die Spannung zwischen uns wuchs. An einem Dienstag war es soweit. Du wolltest dich eigentlich so verabschieden, wie wir es immer taten - eine kurze Umarmung und ein Kuss auf die Wange, wie Freunde es tun. Doch ich presste dich fest an mich, küsste und streichelte dich, bis deine Augen glänzten, dein Gesicht glühte. Unsere Hände und Lippen eröffneten ein betörendes Spiel, das wir genossen, dessen Gefährlichkeit wir jedoch ausklammerten.

Ganz benommen trat ich den Rückweg an, stieg noch hinauf auf den Deich, ging forschen Schrittes zwischen den Schafen auf der Deichkrone entlang und versuchte zur Ruhe zu kommen. Der Gegenwind machte mir mehr zu schaffen als sonst. Obwohl ich nur langsam vorankam, wollte ich unbedingt über das unruhige Meer schauen können, über Wiesen und Felder hinweg die kleinen Orte zu meinen Füßen liegen sehen. Die Tiefe des Himmels wollte ich sehen, beobachten, wie die Wolken wanderten, die späte Nachmittags-Sonne wollte ich über mir spüren. Ich brauchte beides, ruhendes Land und aufgewühltes Meer, Schutz und Gefahr, um mein Gleichgewicht zu finden.

Ich stieg wieder hinab und stapfte nachdenklich durch den Sand. Wie oft schon stand ich bewundernd hier am Strand, hingerissen von der Macht und der Würde der Meeresbewegungen. Manchmal umspülte sein Wasser sanft meine Füße in gleichmäßig wiederkehrenden, kleinen Wellen. Ein anderes Mal befeuchtete es mein Gesicht mit der Gischt der aufspritzenden Brecher, die laut und ungebärdig gegen die Küste prallten. Jedes Mal kam ich erfüllt und erfrischt, mit neuem Elan nach Hause. Es war dämmrig, als ich meinen Gartenzaun erreichte. Ich rüttelte an einigen Latten. Sie gaben nicht nach und machten den Eindruck, als seien sie fest genug, um den Herbststürmen zu trotzen.

Wir trafen uns nun oft am Deich, wenn du auf dem Weg zum Bauern vorbeiradeltest, um bei ihm Milch zu holen. Ich wartete hinter der Deichkrone, im Ufergras auf dem Rücken liegend und in die Wolken schauend, bis dein Schatten über mich kam.

Es dauerte lange, bis man feststellte, dass Pärtil unheilbar krank war. Sein Husten hörte sich hart an und quälte ihn, sein Atem ging schwer. So oft ich konnte, fuhr ich mit euch übers Land. Pärtil ging gerne eine kleine Weile am Deich entlang. Bis zur nächsten Bank schaffte er es gerade mit seiner Kraft. Dann setzten wir uns mit ihm hin und schauten über das Meer. Pärtil saß aber auch gerne einfach im Garten hinter dem Haus, wenn dort die Abendsonne noch wärmte. Ich besuchte euch, so oft es ging. Unsere Abschiede dauerten jedes Mal länger, wurden intensiver als ein einfacher freundschaftlicher Kuss auf die Wange.

Ich hoffte, dass von außen alles normal aussah, wenn ich euch zu den Kirchenkonzerten begleitete. Wir saßen in aller Öffentlichkeit beisammen, als ob wir eine Familie wären - Pärtil im Rollstuhl in der Gangmitte und wir neben ihm in der Kirchenbank. Nie haben wir darüber gesprochen, was es für Pärtil bedeutete, dass ich da war. Man konnte nicht wissen, ob er ahnte, wie nahe wir uns gekommen waren. Auch haben wir unsere Beziehung nie zu Ende bedacht, wir nahmen einfach die Gelegenheiten, die uns das Leben und unsere Liebe anboten. Und wenn ich in eurer Gegenwart unsicher wurde, begann ich zu singen, und ihr beide stimmtet mit ein.

So sicher wie nach den Höhepunkten im Leben der Alltag einkehrt, so sicher wie auf jeden Montag ein Dienstag folgt, so beständig verlief im Übrigen unser Leben. Auf Ebbe und Flut kann man sich verlassen. Auf die Überflutung des Strandes bis zu den Dünen im Herbst kann man getrost warten. Das geschieht jedes Jahr aufs Neue. Immer wieder. Man hat sich an das Geschrei der Möwen gewöhnt, unseren ständigen Begleitern. Und des Nachts warnt in regelmäßigem Kreisen die Leuchtlampe im Turm die Seefahrer vor der nahen Küste. So kann man sicher sein, wenn man ein geübter Seemann ist und die Signale kennt. Die Welt ist geordnet hier. Wir können nachts beruhigt träumen und tags geruhsam zu Werke gehen. Alles hat seine Zeit. Alles hat seine Grenze. Dafür gab es die Deiche, die Zäune, die Schulhofmauer. Einzig die Fenster haben keine Grenzen, keine Scheiben-Gardinen, nur Blumen auf den Fensterbänken und Fensterläden, die meist offen stehen. Wir haben nichts zu verbergen.

Eines Tages schlief Pärtil ein ohne noch einmal aufzuwachen. Er war so still gegangen, wie er gelebt hatte. Euer Haus wirkte auf einmal leer. Seine Stimme fehlte, selbst sein Husten. Du sagtest nicht viel nach seinem Tod. Und ich hielt mich zurück, damit du in Ruhe trauern konntest. Wir sahen uns seltener.

An einem Montag standst du plötzlich mit ernstem Gesicht vor mir. Ich schauderte innerlich vor deinen auf einmal seltsam fremden und großen, dunklen Augen. Unsere Gräben seien zu groß, sagtest du entschlossen. Die Kraft unserer Hände und unserer Liebe reichten nicht aus, um sie zuzuschütten. Der Wind würde unsere Bemühungen zerteilen, der Sturm sie hinweg tragen, bevor wir einen Grund gelegt hätten, sagtest du.
Ich verstand dich nicht und war benommen, wie wenn ein Brecher mich weggespült und wieder an Land gekippt hätte. Ratlos streichelte ich dein Gesicht, deinen Nacken, strich über dein Haar, deine Schultern und deinen Rücken und hielt nicht eher inne, bis deine Hand Einhalt gebot. Du seiest nicht von hier, sagtest du ernst und gabst mir einen letzten Kuss. Du wolltest zurückkehren in das Land, aus dem du einmal gekommen warst. In diesem Moment ertrank ich in der auflaufenden Flut.

Ich habe vergessen, wie ich in den letzten Jahren gelebt habe. Meinen Garten würdest du nicht mehr wiedererkennen, so zugewachsen ist er. An meinem Zaun haben die Herbst-Stürme ihren Unmut ausgelassen. Meine Bilder sind vergilbt, dein Gedicht- Büchlein zerlesen. Die neuen Besitzer eures Hauses haben eure farbenfrohen Blumen und Sträucher durch eine einfache grüne Rasenfläche ersetzt. Niemand singt mehr „Joakim uti Babylon hade en hustru Susanna...“ Aber hin und wieder an einem Dienstag stelle ich mir vor, du säßest neben mir. Und dann rede ich mit dir, als ob ich dich an unsere gemeinsame Geschichte erinnern müsste, damit du sie nicht vergisst.
 

Mistralgitter

Mitglied
So, jetzt habe ich die Punkte 2-6 bearbeitet und auch sonst kleine Verbesserungen vorgenommen. "Svjogen-Ort" habe ich erst einmal so gelassen - ich rechne ein wenig damit, dass der Leser die Parallele zu "Lyntje-Ort" herstellen kann. Doch wenn eines Tages die Novelle fertig sein sollte, dann wird auch das besser.
LG
Mistralgitter
 

Mistralgitter

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Lyntje

Zwischen Hecken und Himmel, Sandwegen und Strand, zwischen Wellen und Wolken lagen unsere Dörfer. Du wohntest in der Nähe der Kirche umgeben von Phlox, Rittersporn und Rosenstauden, ich gleich hinter dem Deich, auf dem die Schafe satt wurden. Um dein Haus breitete sich ein geordneter, üppig blühender Garten aus. Zu mir gehörte ein verfallener Zaun, durch den mein bescheidenes Häuschen, zwei verwilderte Forsythiensträucher und ein Kirschbaum lugten.

Heute ist Dienstag. Erinnerst du dich?
Weißt du noch, wie du eines Tages auf dem Fahrrad an meinem Gartenzaun vorbeikamst, während ich versuchte, eine schadhafte Zaunlatte auszuwechseln? Die Steinchen auf dem Kiesweg knirpsten. Ich stand gebückt da, weil ich die neue Latte anschrauben wollte. So sah ich nur deine nackten Füße auf den Pedalen und deine braungebrannten Waden. „Joakim uti Babylon…“ hörte ich dich im Vorbeifahren singen. „… hade en hustru Susanna …“, ergänzte ich unwillkürlich, richtete mich auf und schaute dir verwundert nach. Dein dunkles, langes Haar sah ich. Wie ein leichtes Tuch umspielte es deinen Rücken. Und du kanntest dieses alte schwedische Volkslied, das ich selber sehr mochte wie alles, was aus diesem Land kam.

Du warst noch nicht sehr weit geradelt, da fiel aus deiner Hosentasche ein kleines Schlüsseltäschchen auf den Kiesweg. Das geschah wohl so leise, dass du nichts bemerktest und weiterfuhrst. Ich jedoch rannte los, stolperte fast hinter dir her und rief laut: „Hallo!“ Und noch einmal „Hallo!“ Aber du hörtest mich nicht. Der Wind verschluckte meine Rufe und dann auch deinen Gesang. Der Weg machte eine Kurve, die Sträucher verdeckten dich. Ich hob das Täschchen auf, rannte zurück, holte eilig mein eigenes Fahrrad aus dem Schuppen und radelte dir hinterher.

Es gab ja nur einen einzigen Weg - am Deich entlang, am Leuchtturm vorbei und dann in den Ort, den wir später Lyntje-Ort nannten. Aber wie sollte ich dich finden? Wohin gehen junge Frauen, die Lyntje heißen, mit dunklen langen Haaren? Zu ihrer Freundin? Zu ihrer Tante, zu ihrem Onkel, zu ihrer Großmutter? Einfach nur nach Hause? Ich blickte im Fahren in die Gärten und Hofeinfahrten. Ich hielt vor dem Dorfladen und schaute mich um. Aber nirgendwo stand ein Fahrrad, vor der Apotheke nicht, vor der Post nicht. Zur Kirche auf der Anhöhe wollte ich nicht mehr fahren. Der Wind frischte auf, düstergraue Wolken zogen heran, und es schien, als wolle es anfangen zu regnen. Also kehrte ich um und fuhr unverrichteter Dinge zurück nach Hause. Unterwegs wurde es zusehends dunkler und ungemütlicher. Kaum war ich in der Stube, als es auch schon anfing heftig zu regnen und zu stürmen. Der Deich versank im Nebel.

Wenn es nach meinem Willen gegangen wäre, hättest du nach einer kurzen Weile stürmisch und verzweifelt an meiner Türe geklopft und nach dem Schlüssel gefragt. Ich hätte aufgemacht, du hättest tropfnass vor mir gestanden und um Schutz vor dem Unwetter ersucht. Ich ertappte mich, dass ich tatsächlich angespannt nach draußen lauschte, ob sich irgendetwas tat. Ich lugte durch die kleinen Fenster. Aber nichts als Regen und Sturm. Die Wolken hingen schwer vom Himmel, die Büsche und Bäume an der Straße bogen sich, dem Kirschbaum wurde sogar ein Ast entrissen. Der Weg, der am Haus vorbei führte, füllte sich mit Pfützen. Das war alles.

Ich erinnere mich noch an jede Einzelheit dieses Tages, wie ich gedankenverloren einen Becher mit kaltem Tee vom Vormittag erwischte, einen Keks dazu aß und noch einen zweiten. Wie ich mich lustlos an den Schreibtisch setzte, um mich auf den Unterricht für den nächsten Morgen vorzubereiten.

Es könnte ein Thema aus der Wirtschafts-Geografie des Ruhrgebietes gewesen sein und Mathematik für die siebte Klasse. Umformulieren von Brüchen in Prozente. Jedes Jahr dasselbe. Wie viel Prozent meiner Zeit hatte ich heute schon auf unsinnige Weise damit verbracht, dass ich dir hinterhergefahren war, und damit, dass ich nur zu gern meine Gedanken abschweifen ließ, damit sie dich umkreisten? „So ein albernes Benehmen! Wie ein dummer Schuljunge!“, schimpfte ich und ertappte mich dennoch dabei, wie ich mir ausführlich vorstellte, wie ich dich in den nächsten Tagen doch noch finden und dir den Schlüssel übergeben würde.

Schließlich stand ich auf, briet mir ein Ei mit Speck, belegte zwei Brotscheiben mit Tomaten, Gurke und Schnittlauchquark und kochte eine weitere Kanne Tee. Dann setzte ich mich damit an meinen Küchentisch und entwarf neben dem Abendessen ein Übungsblatt für meine Schüler.

Da du nicht kamst, trug ich irgendwann das Schlüsselmäppchen zum Fundbüro im Rathaus, hinterließ auch meinen Namen und meine Adresse, denn insgeheim hoffte ich natürlich, dass sich daraus eine Begegnung mit dir ergeben könnte. Dann geschah lange nichts mehr, was erwähnenswert gewesen wäre. Die Zeit schlich dahin.

In der Schule benahmen sich meine Schüler mal so, mal so, machten meist unwillig ihre Hausaufgaben und bereiteten sich mal mehr, mal weniger gut auf die Klassenarbeiten vor. Ich war kein sehr engagierter Lehrer. Vielleicht spiegelte mein Unterricht diese leise Unlust wider, war deswegen womöglich langweilig und eintönig. Es war mir nicht in die Wiege gelegt, sehr unterhaltsam oder gesprächig zu sein. Ich kam mit wenigen Worten aus. Wenn ich im Haus und im Garten werkeln, hin und wieder ein Aquarell malen oder mit dem Segelboot draußen auf dem Wasser sein konnte, lebte ich auf. Erinnerst du dich an unsere Holzbank, die ich gezimmert hatte? Sie steht immer noch vor dem Haus dort, wo noch lange am Abend die Sonne scheint. Du wolltest später immer, dass ich einen Birnbaum dazu pflanzte und dass ich endlich die Forsythien stutzte, die mit viel zu langen Zweigen überhingen und ungewollt Ableger bildeten. Ich jedoch fand es schön, wenn es hier in Svjogen-Ort, wie wir es nannten, ein bisschen verwildert war.

An einem Dienstagnachmittag klopfte es an meiner Haustür. Ich machte auf und schaute in dein Gesicht. Es gab keinen Zweifel: Nur du konntest es sein – es waren ja auch deine langen Haare und deine Beine. Ich erschrak. Damit hatte ich nicht gerechnet.
„Ich möchte mich bedanken“, sagtest du munter. „Ich bin so froh, dass jemand den Schlüssel für unser Gartenhäuschen gefunden hat.“
Du reichtest mir ein Büchlein mit Gedichten.
„Als Dankeschön.“
„Welch Überraschung.“ Mehr brachte ich nicht über die Lippen. Ich betrachtete den Buchtitel. „Sind das eigene?“ fragte ich und bat dich herein.
„Ja. Ich schreibe seit einigen Jahren. Aber dies ist mein erstes Gedichtbändchen. Ich hoffe, es gefällt Ihnen.“
„Danke. Ich lese zwar wenig Literatur, eher Sachbücher. Aber dies hier ist sicher eine nette Abwechslung“, sagte ich wohlwollend.
Du standst in meinem Wohnzimmer und schautest dich um.
„Sind das eigene?“, fragtest auch du, als du die Aquarelle an der Wand entdecktest. Ich nickte. Das war der Anfang unserer Geschichte.

Deine Gedichte beschäftigten mich, ihre bildhafte Sprache regte mich an. Wie ein Betrunkener malte ich Aquarelle dazu. Du kamst nun öfter und setztest dich vor meine Bilder und ließest dir Texte dazu einfallen. Wir träumten davon ein gemeinsames Buch mit deinen Gedichten und meinen Bildern herauszugeben. Wenn ich bei dir und Pärtil, deinem Mann, zu Besuch war, sangen wir zu Dritt. Er begleitete unseren Gesang am Klavier. Schön war das. Gemeinsam fuhren wir jede Woche zur Chorprobe. Unsere Freundschaft war die natürlichste Sache der Welt. Vielleicht dachten wir das. Vielleicht dachtest du das. Ich wurde nach und nach unsicherer.

Einmal im Sommer erschrak ich, als du vom Schwimmen zurückkamst. Pärtil und ich saßen in eurem Garten. Wir hatten auf dich gewartet. Du lachtest etwas verlegen und sagtest, du hättest eben im Meer deinen Ehering verloren. Es sei zwecklos, nach ihm zu suchen. Das Meer hätte ihn verschluckt. Erstaunlich schnell fandest du in einer Schublade einen messingfarbenen Gardinenring und stecktest ihn stattdessen lachend an den Finger.
„Der tut es auch“, meintest du schelmisch. Dein Mann nickte und schwieg. Mir wurde ganz ungemütlich zumute.

Eines Tages kam Pärtil nicht zur Chor-Probe. Und auch du fehltest. Pärtil war schwer krank. Ich fuhr dich von da an jeden Tag zum Krankenhaus, weil du kein Auto hattest. Du kamst anschließend noch auf einen Kaffee zu mir, bevor ich dich wieder nach Hause brachte. Mehrere Tage ging das gut. Doch dann war es nicht mehr wegzudiskutieren - die Spannung zwischen uns wuchs. An einem Dienstag war es soweit. Du wolltest dich eigentlich so verabschieden, wie wir es immer taten - eine kurze Umarmung und ein Kuss auf die Wange, wie Freunde es tun. Doch ich presste dich fest an mich, küsste und streichelte dich, bis deine Augen glänzten, dein Gesicht glühte. Unsere Hände und Lippen eröffneten ein betörendes Spiel, das wir genossen, dessen Gefährlichkeit wir jedoch ausklammerten.

Ganz benommen trat ich den Rückweg an, stieg noch hinauf auf den Deich, ging forschen Schrittes zwischen den Schafen auf der Deichkrone entlang und versuchte zur Ruhe zu kommen. Der Gegenwind machte mir mehr zu schaffen als sonst. Obwohl ich nur langsam vorankam, wollte ich unbedingt über das unruhige Meer schauen können, über Wiesen und Felder hinweg die kleinen Orte zu meinen Füßen liegen sehen. Die Tiefe des Himmels wollte ich sehen, beobachten, wie die Wolken wanderten, die späte Nachmittags-Sonne wollte ich über mir spüren. Ich brauchte beides, ruhendes Land und aufgewühltes Meer, Schutz und Gefahr, um mein Gleichgewicht zu finden.

Ich stieg wieder hinab und stapfte nachdenklich durch den Sand. Wie oft schon stand ich bewundernd hier am Strand, hingerissen von der Macht und der Würde der Meeresbewegungen. Manchmal umspülte sein Wasser sanft meine Füße in gleichmäßig wiederkehrenden, kleinen Wellen. Ein anderes Mal befeuchtete es mein Gesicht mit der Gischt der aufspritzenden Brecher, die laut und ungebärdig gegen die Küste prallten. Jedes Mal kam ich erfüllt und erfrischt, mit neuem Elan nach Hause. Es war dämmrig, als ich meinen Gartenzaun erreichte. Ich rüttelte an einigen Latten. Sie gaben nicht nach und machten den Eindruck, als seien sie fest genug, um den Herbststürmen zu trotzen.

Wir trafen uns nun oft am Deich, wenn du auf dem Weg zum Bauern vorbeiradeltest, um bei ihm Milch zu holen. Ich wartete hinter der Deichkrone, im Ufergras auf dem Rücken liegend und in die Wolken schauend, bis dein Schatten über mich kam.

Es dauerte lange, bis man feststellte, dass Pärtil unheilbar krank war. Sein Husten hörte sich hart an und quälte ihn, sein Atem ging schwer. So oft ich konnte, fuhr ich mit euch übers Land. Pärtil ging gerne eine kleine Weile am Deich entlang. Bis zur nächsten Bank schaffte er es gerade mit seiner Kraft. Dann setzten wir uns mit ihm hin und schauten über das Meer. Pärtil saß aber auch gerne einfach im Garten hinter dem Haus, wenn dort die Abendsonne noch wärmte. Ich besuchte euch, so oft es ging. Unsere Abschiede dauerten jedes Mal länger, wurden intensiver als ein einfacher freundschaftlicher Kuss auf die Wange.

Ich hoffte, dass von außen alles normal aussah, wenn ich euch zu den Kirchenkonzerten begleitete. Wir saßen in aller Öffentlichkeit beisammen, als ob wir eine Familie wären - Pärtil im Rollstuhl in der Gangmitte und wir neben ihm in der Kirchenbank. Nie haben wir darüber gesprochen, was es für Pärtil bedeutete, dass ich da war. Man konnte nicht wissen, ob er ahnte, wie nahe wir uns gekommen waren. Auch haben wir unsere Beziehung nie zu Ende bedacht, wir nahmen einfach die Gelegenheiten, die uns das Leben und unsere Liebe anboten. Und wenn ich in eurer Gegenwart unsicher wurde, begann ich zu singen, und ihr beide stimmtet mit ein.

So sicher wie nach den Höhepunkten im Leben der Alltag einkehrt, so sicher wie auf jeden Montag ein Dienstag folgt, so beständig verlief im Übrigen unser Leben. Auf Ebbe und Flut kann man sich verlassen. Auf die Überflutung des Strandes bis zu den Dünen im Herbst kann man getrost warten. Das geschieht jedes Jahr aufs Neue. Immer wieder. Man hat sich an das Geschrei der Möwen gewöhnt, unseren ständigen Begleitern. Und des Nachts warnt in regelmäßigem Kreisen die Leuchtlampe im Turm die Seefahrer vor der nahen Küste. So kann man sicher sein, wenn man ein geübter Seemann ist und die Signale kennt. Die Welt ist geordnet hier. Wir können nachts beruhigt träumen und tags geruhsam zu Werke gehen. Alles hat seine Zeit. Alles hat seine Grenze. Dafür gab es die Deiche, die Zäune, die Schulhofmauer. Einzig die Fenster haben keine Grenzen, keine Scheiben-Gardinen, nur Blumen auf den Fensterbänken und Fensterläden, die meist offen stehen. Wir haben nichts zu verbergen.

Eines Tages schlief Pärtil ein ohne noch einmal aufzuwachen. Er war so still gegangen, wie er gelebt hatte. Euer Haus wirkte auf einmal leer. Seine Stimme fehlte, selbst sein Husten. Du sagtest nicht viel nach seinem Tod. Und ich hielt mich zurück, damit du in Ruhe trauern konntest. Wir sahen uns seltener.

An einem Montag standst du plötzlich mit ernstem Gesicht vor mir. Ich schauderte innerlich vor deinen auf einmal seltsam fremden und großen, dunklen Augen. Unsere Gräben seien zu groß, sagtest du entschlossen. Die Kraft unserer Hände und unserer Liebe reichten nicht aus, um sie zuzuschütten. Der Wind würde unsere Bemühungen zerteilen, der Sturm sie hinweg tragen, bevor wir einen Grund gelegt hätten, sagtest du.
Ich verstand dich nicht und war benommen, wie wenn ein Brecher mich weggespült und wieder an Land gekippt hätte. Ratlos streichelte ich dein Gesicht, deinen Nacken, strich über dein Haar, deine Schultern und deinen Rücken und hielt nicht eher inne, bis deine Hand Einhalt gebot. Du seiest nicht von hier, sagtest du ernst und gabst mir einen letzten Kuss. Du wolltest zurückkehren in das Land, aus dem du einmal gekommen warst. In diesem Moment ertrank ich in der auflaufenden Flut.

Ich habe vergessen, wie ich in den letzten Jahren gelebt habe. Meinen Garten würdest du nicht mehr wiedererkennen, so zugewachsen ist er. An meinem Zaun haben die Herbst-Stürme ihren Unmut ausgelassen. Meine Bilder sind vergilbt, dein Gedicht- Büchlein zerlesen. Die neuen Besitzer eures Hauses haben eure farbenfrohen Blumen und Sträucher durch eine einfache grüne Rasenfläche ersetzt. Niemand singt mehr „Joakim uti Babylon hade en hustru Susanna...“ Aber hin und wieder an einem Dienstag stelle ich mir vor, du säßest neben mir. Und dann rede ich mit dir, als ob ich dich an unsere gemeinsame Geschichte erinnern müsste, damit du sie nicht vergisst.
 

Mistralgitter

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Lyntje

Zwischen Hecken und Himmel, Sandwegen und Strand, zwischen Wellen und Wolken lagen unsere Dörfer. Du wohntest in der Nähe der Kirche umgeben von Phlox, Rittersporn und Rosenstauden, ich gleich hinter dem Deich, auf dem die Schafe satt wurden. Um dein Haus breitete sich ein geordneter, üppig blühender Garten aus. Zu mir gehörte ein verfallener Zaun, durch den mein bescheidenes Häuschen, zwei verwilderte Forsythiensträucher und ein Kirschbaum lugten.

Heute ist Dienstag. Erinnerst du dich?
Weißt du noch, wie du eines Tages auf dem Fahrrad an meinem Gartenzaun vorbeikamst, während ich versuchte, eine schadhafte Zaunlatte auszuwechseln? Die Steinchen auf dem Kiesweg knirpsten. Ich stand gebückt da, weil ich die neue Latte anschrauben wollte. So sah ich nur deine nackten Füße auf den Pedalen und deine braungebrannten Waden. „Joakim uti Babylon…“ hörte ich dich im Vorbeifahren singen. „… hade en hustru Susanna …“, ergänzte ich unwillkürlich, richtete mich auf und schaute dir verwundert nach. Dein dunkles, langes Haar sah ich. Wie ein leichtes Tuch umspielte es deinen Rücken. Und du kanntest dieses alte schwedische Volkslied, das ich selber sehr mochte wie alles, was aus diesem Land kam.

Du warst noch nicht sehr weit geradelt, da fiel aus deiner Hosentasche ein kleines Schlüsseltäschchen auf den Kiesweg. Das geschah wohl so leise, dass du nichts bemerktest und weiterfuhrst. Ich jedoch rannte los, stolperte fast hinter dir her und rief laut: „Hallo!“ Und noch einmal „Hallo!“ Aber du hörtest mich nicht. Der Wind verschluckte meine Rufe und dann auch deinen Gesang. Der Weg machte eine Kurve, die Sträucher verdeckten dich. Ich hob das Täschchen auf, rannte zurück, holte eilig mein eigenes Fahrrad aus dem Schuppen und radelte dir hinterher.

Es gab ja nur einen einzigen Weg - am Deich entlang, am Leuchtturm vorbei und dann in den Ort, den wir später Lyntje-Ort nannten. Aber wie sollte ich dich finden? Wohin gehen junge Frauen, die Lyntje heißen, mit dunklen langen Haaren? Zu ihrer Freundin? Zu ihrer Tante, zu ihrem Onkel, zu ihrer Großmutter? Einfach nur nach Hause? Ich blickte im Fahren in die Gärten und Hofeinfahrten. Ich hielt vor dem Dorfladen und schaute mich um. Aber nirgendwo stand ein Fahrrad, vor der Apotheke nicht, vor der Post nicht. Zur Kirche auf der Anhöhe wollte ich nicht mehr fahren. Der Wind frischte auf, düstergraue Wolken zogen heran, und es schien, als wolle es anfangen zu regnen. Also kehrte ich um und fuhr unverrichteter Dinge zurück nach Hause. Unterwegs wurde es zusehends dunkler und ungemütlicher. Kaum war ich in der Stube, als es auch schon anfing heftig zu regnen und zu stürmen. Der Deich versank im Nebel.

Wenn es nach meinem Willen gegangen wäre, hättest du nach einer kurzen Weile stürmisch und verzweifelt an meiner Türe geklopft und nach dem Schlüssel gefragt. Ich hätte aufgemacht, du hättest tropfnass vor mir gestanden und um Schutz vor dem Unwetter ersucht. Ich ertappte mich, dass ich tatsächlich angespannt nach draußen lauschte, ob sich irgendetwas tat. Ich lugte durch die kleinen Fenster. Aber nichts als Regen und Sturm. Die Wolken hingen schwer vom Himmel, die Büsche und Bäume an der Straße bogen sich, dem Kirschbaum wurde sogar ein Ast entrissen. Der Weg, der am Haus vorbei führte, füllte sich mit Pfützen. Das war alles.

Ich erinnere mich noch an jede Einzelheit dieses Tages, wie ich gedankenverloren einen Becher mit kaltem Tee vom Vormittag erwischte, einen Keks dazu aß und noch einen zweiten. Wie ich mich lustlos an den Schreibtisch setzte, um mich auf den Unterricht für den nächsten Morgen vorzubereiten.

Es könnte ein Thema aus der Wirtschafts-Geografie des Ruhrgebietes gewesen sein und Mathematik für die siebte Klasse. Umformulieren von Brüchen in Prozente. Jedes Jahr dasselbe. Wie viel Prozent meiner Zeit hatte ich heute schon auf unsinnige Weise damit verbracht, dass ich dir hinterhergefahren war, und damit, dass ich nur zu gern meine Gedanken abschweifen ließ, damit sie dich umkreisten? „So ein albernes Benehmen! Wie ein dummer Schuljunge!“, schimpfte ich und ertappte mich dennoch dabei, wie ich mir ausführlich vorstellte, wie ich dich in den nächsten Tagen doch noch finden und dir den Schlüssel übergeben würde.

Schließlich stand ich auf, briet mir ein Ei mit Speck, belegte zwei Brotscheiben mit Tomaten, Gurke und Schnittlauchquark und kochte eine weitere Kanne Tee. Dann setzte ich mich damit an meinen Küchentisch und entwarf neben dem Abendessen ein Übungsblatt für meine Schüler.

Da du nicht kamst, trug ich irgendwann das Schlüsselmäppchen zum Fundbüro im Rathaus, hinterließ auch meinen Namen und meine Adresse, denn insgeheim hoffte ich natürlich, dass sich daraus eine Begegnung mit dir ergeben könnte. Dann geschah lange nichts mehr, was erwähnenswert gewesen wäre. Die Zeit schlich dahin.

In der Schule benahmen sich meine Schüler mal so, mal so, machten meist unwillig ihre Hausaufgaben und bereiteten sich mal mehr, mal weniger gut auf die Klassenarbeiten vor. Ich war kein sehr engagierter Lehrer. Vielleicht spiegelte mein Unterricht diese leise Unlust wider, war deswegen womöglich langweilig und eintönig. Es war mir nicht in die Wiege gelegt, sehr unterhaltsam oder gesprächig zu sein. Ich kam mit wenigen Worten aus. Wenn ich im Haus und im Garten werkeln, hin und wieder ein Aquarell malen oder mit dem Segelboot draußen auf dem Wasser sein konnte, lebte ich auf. Erinnerst du dich an unsere Holzbank, die ich gezimmert hatte? Sie steht immer noch vor dem Haus dort, wo noch lange am Abend die Sonne scheint. Du wolltest später immer, dass ich einen Birnbaum dazu pflanzte und dass ich endlich die Forsythien stutzte, die mit viel zu langen Zweigen überhingen und ungewollt Ableger bildeten. Ich jedoch fand es schön, wenn es hier in Svjogen-Ort, wie wir es nannten, ein bisschen verwildert war.

An einem Dienstagnachmittag klopfte es an meiner Haustür. Ich machte auf und schaute in dein Gesicht. Es gab keinen Zweifel: Nur du konntest es sein – es waren ja auch deine langen Haare und deine Beine. Ich erschrak. Damit hatte ich nicht gerechnet.
„Ich möchte mich bedanken“, sagtest du munter. „Ich bin so froh, dass jemand den Schlüssel für unser Gartenhäuschen gefunden hat.“
Du reichtest mir ein Büchlein mit Gedichten.
„Als Dankeschön.“
„Welch Überraschung.“ Mehr brachte ich nicht über die Lippen. Ich betrachtete den Buchtitel. „Sind das eigene?“ fragte ich und bat dich herein.
„Ja. Ich schreibe seit einigen Jahren. Aber dies ist mein erstes Gedichtbändchen. Ich hoffe, es gefällt Ihnen.“
„Danke. Ich lese zwar wenig Literatur, eher Sachbücher. Aber dies hier ist sicher eine nette Abwechslung“, sagte ich wohlwollend.
Du standst in meinem Wohnzimmer und schautest dich um.
„Sind das eigene?“, fragtest auch du, als du die Aquarelle an der Wand entdecktest. Ich nickte. Das war der Anfang unserer Geschichte.

Deine Gedichte beschäftigten mich, ihre bildhafte Sprache regte mich an. Wie ein Betrunkener malte ich Aquarelle dazu. Du kamst nun öfter und setztest dich vor meine Bilder und ließest dir Texte dazu einfallen. Wir träumten davon ein gemeinsames Buch mit deinen Gedichten und meinen Bildern herauszugeben. Wenn ich bei dir und Pärtil, deinem Mann, zu Besuch war, sangen wir zu Dritt. Er begleitete unseren Gesang am Klavier. Schön war das. Gemeinsam fuhren wir jede Woche zur Chorprobe. Unsere Freundschaft war die natürlichste Sache der Welt. Vielleicht dachten wir das. Vielleicht dachtest du das. Ich wurde nach und nach unsicherer.

Einmal im Sommer erschrak ich, als du vom Schwimmen zurückkamst. Pärtil und ich saßen in eurem Garten. Wir hatten auf dich gewartet. Du lachtest etwas verlegen und sagtest, du hättest eben im Meer deinen Ehering verloren. Es sei zwecklos, nach ihm zu suchen. Das Meer hätte ihn verschluckt. Erstaunlich schnell fandest du in einer Schublade einen messingfarbenen Gardinenring und stecktest ihn stattdessen lachend an den Finger.
„Der tut es auch“, meintest du schelmisch. Dein Mann nickte und schwieg. Mir wurde ganz ungemütlich zumute.

Eines Tages kam Pärtil nicht zur Chor-Probe. Und auch du fehltest. Pärtil war schwer krank. Ich fuhr dich von da an jeden Tag zum Krankenhaus, weil du kein Auto hattest. Du kamst anschließend noch auf einen Kaffee zu mir, bevor ich dich wieder nach Hause brachte. Mehrere Tage ging das gut. Doch dann war es nicht mehr wegzudiskutieren - die Spannung zwischen uns wuchs. An einem Mittwoch war es soweit. Ich wollte mich eigentlich so verabschieden, wie wir es immer taten - eine kurze Umarmung und ein Kuss auf die Wange, wie Freunde es tun. Doch ich presste dich fest an mich, küsste und streichelte dich, bis deine Augen glänzten, dein Gesicht glühte. Unsere Hände und Lippen eröffneten ein betörendes Spiel, das wir genossen, dessen Gefährlichkeit wir jedoch ausklammerten.

Ganz benommen trat ich den Rückweg an, stieg noch hinauf auf den Deich, ging forschen Schrittes zwischen den Schafen auf der Deichkrone entlang und versuchte zur Ruhe zu kommen. Der Gegenwind machte mir mehr zu schaffen als sonst. Obwohl ich nur langsam vorankam, wollte ich unbedingt über das unruhige Meer schauen können, über Wiesen und Felder hinweg die kleinen Orte zu meinen Füßen liegen sehen. Die Tiefe des Himmels wollte ich sehen, beobachten, wie die Wolken wanderten, die späte Nachmittags-Sonne wollte ich über mir spüren. Ich brauchte beides, ruhendes Land und aufgewühltes Meer, Schutz und Gefahr, um mein Gleichgewicht zu finden.

Ich stieg wieder hinab und stapfte nachdenklich durch den Sand. Wie oft schon stand ich bewundernd hier am Strand, hingerissen von der Macht und der Würde der Meeresbewegungen. Manchmal umspülte sein Wasser sanft meine Füße in gleichmäßig wiederkehrenden, kleinen Wellen. Ein anderes Mal befeuchtete es mein Gesicht mit der Gischt der aufspritzenden Brecher, die laut und ungebärdig gegen die Küste prallten. Jedes Mal kam ich erfüllt und erfrischt, mit neuem Elan nach Hause. Es war dämmrig, als ich meinen Gartenzaun erreichte. Ich rüttelte an einigen Latten. Sie gaben nicht nach und machten den Eindruck, als seien sie fest genug, um den Herbststürmen zu trotzen.

Wir trafen uns nun oft am Deich, wenn du auf dem Weg zum Bauern vorbeiradeltest, um bei ihm Milch zu holen. Ich wartete hinter der Deichkrone, im Ufergras auf dem Rücken liegend und in die Wolken schauend, bis dein Schatten über mich kam.

Es dauerte lange, bis man feststellte, dass Pärtil unheilbar krank war. Sein Husten hörte sich hart an und quälte ihn, sein Atem ging schwer. So oft ich konnte, fuhr ich mit euch übers Land. Pärtil ging gerne eine kleine Weile am Deich entlang. Bis zur nächsten Bank schaffte er es gerade mit seiner Kraft. Dann setzten wir uns mit ihm hin und schauten über das Meer. Pärtil saß aber auch gerne einfach im Garten hinter dem Haus, wenn dort die Abendsonne noch wärmte. Ich besuchte euch, so oft es ging. Unsere Abschiede dauerten jedes Mal länger, wurden inniger und intensiver.

Ich hoffte, dass von außen alles normal aussah, wenn ich euch zu den Kirchenkonzerten begleitete. Wir saßen in aller Öffentlichkeit beisammen, als ob wir eine Familie wären - Pärtil im Rollstuhl in der Gangmitte, und wir neben ihm in der Kirchenbank. Nie haben wir darüber gesprochen, was es für Pärtil bedeutete, dass ich da war. Man konnte nicht wissen, ob er ahnte, wie nahe wir uns gekommen waren. Auch haben wir unsere Beziehung nie zu Ende bedacht, wir nahmen einfach die Gelegenheiten, die uns das Leben und unsere Liebe anboten. Und wenn ich in eurer Gegenwart unsicher wurde, begann ich zu singen, und ihr beide stimmtet mit ein.

So sicher wie nach den Höhepunkten im Leben der Alltag einkehrt, so sicher wie auf jeden Montag ein Dienstag und dann ein Mittwoch folgt, so beständig verlief im Übrigen unser Leben. Auf Ebbe und Flut kann man sich verlassen. Auf die Überflutung des Strandes bis zu den Dünen im Herbst kann man getrost warten. Das geschieht jedes Jahr aufs Neue. Immer wieder. Man hat sich an das Geschrei der Möwen gewöhnt, unseren ständigen Begleitern. Und des Nachts warnt in regelmäßigem Kreisen die Leuchtlampe im Turm die Seefahrer vor der nahen Küste. So kann man sicher sein, wenn man ein geübter Seemann ist und die Signale kennt. Die Welt ist geordnet hier. Wir können nachts beruhigt träumen und tags geruhsam zu Werke gehen. Alles hat seine Zeit. Alles hat seine Grenze. Dafür gab es die Deiche, die Zäune, die Schulhofmauer. Einzig die Fenster haben keine Grenzen, keine Scheiben-Gardinen, nur Blumen auf den Fensterbänken und Fensterläden, die meist offen stehen. Wir haben nichts zu verbergen.

Eines Tages schlief Pärtil ein ohne noch einmal aufzuwachen. Er war so still gegangen, wie er gelebt hatte. Euer Haus wirkte auf einmal leer. Seine Stimme fehlte, selbst sein Husten. Du sagtest nicht viel nach seinem Tod. Und ich hielt mich zurück, damit du in Ruhe trauern konntest. Wir sahen uns seltener.

An einem Montag standst du plötzlich mit ernstem Gesicht vor mir. Ich schauderte innerlich vor deinen auf einmal seltsam fremden und großen, dunklen Augen. Unsere Gräben seien zu groß, sagtest du entschlossen. Die Kraft unserer Hände und unserer Liebe reichten nicht aus, um sie zuzuschütten. Der Wind würde unsere Bemühungen zerteilen, der Sturm sie hinweg tragen, bevor wir einen Grund gelegt hätten, sagtest du.
Ich verstand dich nicht und war benommen, wie wenn ein Brecher mich weggespült und wieder an Land gekippt hätte. Ratlos streichelte ich dein Gesicht, deinen Nacken, strich über dein Haar, deine Schultern und deinen Rücken und hielt nicht eher inne, bis deine Hand Einhalt gebot. Du seiest nicht von hier, sagtest du ernst und gabst mir einen letzten Kuss. Du wolltest zurückkehren in das Land, aus dem du einmal gekommen warst. In diesem Moment ertrank ich in der auflaufenden Flut.

Ich habe vergessen, wie ich in den letzten Jahren gelebt habe. Meinen Garten würdest du nicht mehr wiedererkennen, so zugewachsen ist er. An meinem Zaun haben die Herbst-Stürme ihren Unmut ausgelassen. Meine Bilder sind vergilbt, dein Gedicht- Büchlein zerlesen. Die neuen Besitzer eures Hauses haben eure farbenfrohen Blumen und Sträucher durch eine einfache grüne Rasenfläche ersetzt. Niemand singt mehr „Joakim uti Babylon hade en hustru Susanna...“ Aber hin und wieder an einem Dienstag stelle ich mir vor, du säßest neben mir. Und dann rede ich mit dir, als ob ich dich an unsere gemeinsame Geschichte erinnern müsste, damit du sie nicht vergisst.
 



 
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