Macht Leben klug? - Ein Essay

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Günter Wendt

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Jeder neugeborene Weltenbürger bekommt ein Buch mit scheinbar unendlich vielen leeren Seiten, einen Füllfederhalter und einen vermeintlich unbegrenzten Vorrat an Tinte.

Irgendwann beginnt man in dem Buch zu schreiben. In den ersten Jahren wird noch mit krakeliger Kinderschrift, die nur der Schreiber selber lesen kann, darin herumgekritzelt und gemalt. Langsam, mit zunehmendem Alter, wird die Schrift deutlicher und kräftiger - die Abstände der Momente, in denen man sich mit diesem Buch beschäftigt werden kürzer und intensiver und die Beschreibungen sowie die Bilder deutlicher und klarer.

Sind im Laufe des Lebens einige Kapitel zusammengekommen, beginnt eine Phase des „Nachlesens“. Man fängt an Randnotizen zu schreiben, streicht das eine oder andere aus oder ersetzt es durch andere Wörter und Sätze. Gleichzeitig besteht der Zwang weiter in diesem Buch zu schreiben, neue Kapitel hinzuzufügen. Manche blättern in den leeren Seiten herum und notieren sich zum Beispiel: „In drei Jahren Prüfung bestehen“. Einfach so in die leere Seite. Oder anderes Wichtige wird notiert das unbedingt in den nächsten Lebenskapiteln erledigt werden muss. So schreibt „Mensch“ Seite für Seite. So liest „Mensch“ alte Kapitel – Seite für Seite. So korrigiert „Mensch“ bereits Geschriebenes – Seite für Seite.

Jedem „Lebensbuch“ sieht man an wie es im Laufe der Zeit behandelt wurde, wie oft man es zur Hand genommen und wie oft darin geblättert wurde. Auch sieht man es dem Buch an in welcher seelischen Verfassung der Schreiber sich befand. Schönes wird mit kräftiger und schnörkeliger Schrift geschrieben und weniger Schönes nur mit leichter Hand und wenig Tinte, die schnell verblasst und es bald kaum noch lesbar ist. Aber eines steht fest: Am Zustand des Buches kann nichts Grundlegendes verändert werden. Man kann nur versuchen zukünftig vorsichtiger damit umzugehen. Denn oft werden Seiten herausgerissen um für ein kurzes Freudenfeuer verbrannt zu werden. Es sind ja noch so viele! Was kostet die Welt? Diese Seiten sind für immer verloren. Auch wird mit der Tinte verschwenderisch umgegangen. Man hat noch so viel! Was morgen ist – egal! Diese Flüssigkeit ist nicht erneuerbar. Es gibt keine Tankstelle bei der „mal eben“ aufgefüllt werden kann.

Irgendwann gehen die freien Seiten zur Neige, die Tinte im Tintenfass bedeckt kaum noch den Boden. Im Angesicht der zur Neige gehenden Tinte und den noch verbleibenden Seiten wird nun schneller geschrieben, um mit der noch zur Verfügung stehenden Tinte unbedingt die letzten Seiten zu füllen bevor die Tinte ganz ausgegangen ist. Dabei wird übersehen, dass, egal wie schnell geschrieben wird, mit der Tinte sowieso nur eine begrenzte Anzahl Seiten gefüllt werden kann.

Viele Schreiber kommen nun ins Grübeln und schimpfen über den eigenen jugendlichen Leichtsinn, unbedacht mit Tinte und Papier umgegangen zu sein; geben es auf in dem Buch weiter zu schreiben, klappen es zu und lassen die Tinte im Fass austrocknen.
Andere hingegen lesen mit Vergnügen alte Geschichten, ja lesen sie sogar anderen vor und nur wenn es ihnen wirklich wichtig ist, wird weitergeschrieben, mit kräftiger, deutlicher und stolzer Schrift. Mit trotzigem Blick auf das Tintenfass werden die letzten Seiten genussvoll ausgeschrieben. Es wird auch nicht mehr in alten Kapiteln „verbessert“. Es ist so wie es war.


Dann, im Moment des „Füllfederhalters-Aus-Der Hand-Gebens“, stellt man sich Fragen wie zum Beispiel: „So – das war es! Was hat das Leben mir nun gegeben? Habe ich alles richtig gemacht?“

Jeder ist sein eigener Autor, wenn es um das Buch des Lebens geht und jeder muss den Trick lernen den Verbrauch der Tinte und Anzahl der Seiten so zusammenzubringen, dass sich beides die Waage ist – dass die Tinte nicht eher verbraucht wenn einem noch Seiten zur Verfügung stehen und man andererseits nicht mit einem Rest Tinte dasitzt den man nicht verwenden kann, weil alle Seiten beschrieben sind.

Macht Leben also klug? Nein. Das Leben macht nicht automatisch klug. Es stellt nur die Möglichkeiten zur Verfügung, mit denen jeder selber haushalten muss. Jeder nimmt sich das das vom Leben, was für ihn wichtig ist. Jeder muss seinen „Schreibstil“ und seine „Schriftgröße“ aber auch den „Tintenverbrauch“ individuell seinem „Buch“ anpassen. Wer das schafft, hat vom Leben gelernt und ist „klug“.
 



 
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