Magische Orte - die andere Reiseerzählung

fmnarnia

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MAGISCHE ORTE

Impressionen von Frank Müller





















Um gleich zu Beginn ein mögliches Missverständnis auszuschließen: Mit „magischen Orten“ sind in diesen Betrachtungen nicht die Orte gemeint, die gewöhnlich die Besucher wie „magisch“ anziehen, also keine Touristenattraktionen, keine sogenannten Sehenswürdigkeiten, keine Schönheiten irgendwelcher Art. Dennoch wohnt diesen Orten, die hier erlebt werden können, eine Faszination inne, eine verborgene Schönheit gleichsam, die es zu enthüllen gilt. -
Wir sind unterwegs auf Straßen, die zu einem fernen Ziel führen, und gelangen unversehens an einen Ort, an dem wir das Herz der Wirklichkeit schlagen hören, gleichsam näher an das Herz der Dinge gelangen. Dieser Ort ist in keinem Reiseführer erwähnt, mitunter nicht einmal auf der Straßenkarte hervorgehoben. Wir aber, die wir unbefangen auf der Fahrt sind, werden von innerer Bewegtheit überrascht, die es zu verstehen gilt. Keiner heftigen Bewegtheit (schon gar nicht einer touristisch voreingenommenen), eher einem kleinen wärmenden Erschaudern, einem Anhauch von Magie eben (der wohl auch in der Wiederholung Bestand behält).-
Um all dies aus der allgemeinen Form zu befreien, werde ich uns auf eine Fahrt mitnehmen, die an „magische Orte“ führt, und möchte versuchen, den speziellen Zauber eines jeden Ortes zu erfassen. Ganz ohne tiefgründige landeskundliche Erschließung. Von meinem ureigenen Empfinden her.
Gute Reise!








DER NORDEN
























Der nördlichste Punkt unserer Reise befindet sich auf einer unscheinbaren Sitzbank im Hafen von Oslo. Die Wolken haben sich davongemacht und die Sonne schenkt Oslo einen veritablen Sommertag. Es wird immer wärmer, sodass man die Jacke ablegen muss. Man lehnt sich zurück und genießt das Licht (hinter einem das Rathausgebäude in der Farbe eines hässlichen norwegischen Käses). Das kann dauern, denn die innere Vorstellung entfernt sich schnell. Mit dem Sonnenstrahl auf der Nase lässt sich die geografische Position schön imaginieren. Wir befinden uns hier tatsächlich auf der Höhe der Shetland Islands, also noch nördlich vom britischen Festland. Bei dieser Sonne? Und wir blicken auf den windumtosten Skagerrak, von dem wir einmal im Erdkundeunterricht hörten und ihn für einen Mythos hielten. Und ganz, ganz weit da draußen müsste die Nordspitze von Dänemark liegen, die wir aus alter Sicht für viel zu weit nördlich hielten (out of reach). Die Schiffe von Kiel sind hierher ewig unterwegs, nie wären wir eine solche Reise angetreten. Ich bin am nördlichsten Punkt meines Lebens und schließe die Augen ein wenig. Die Sonne ist schön, fast schon zu warm. Da ist kein Blick für die in gleißendem Weiß strahlende Oper, schon gar nicht für den tief im Landesinneren entschwundenen Vigeland-Park. Nur diese Bank und der Blick den Oslofjord hinab in Richtung offene See. Seid gegrüßt Göteborg, Kopenhagen, Kiel und Hamburg, wir werden uns wiedersehen. Nur für einen kleinen Moment noch die Hügel am Rande des Fjords und die Vorstellung der mächtigen Berge hinter mir. Ein paar Boote auf dem Wasser. Nur einen Moment noch. Die Sonne brennt. Zu sehr. Wir bewegen uns in heimatliche Gefilde. -
Die Autobahn seit Braunschweig hinter uns, ziehen wir auf der B4 nach Norden, ziemlich exakt nach Norden. Bis Gifhorn wirkt das alles wie erweiterte Vorstadt: Autohandel, Einkaufszentren, Abzweigungen, die alle nach Wolfsburg führen. Und dann plötzlich nördlich des Mittellandkanals, als führe man durch einen Vorhang: Einöde. Man fährt an einem riesigen Pilz vorbei, man ahnt, irgendwo rechts müsse Wittingen liegen, aber eigentlich ist man nur der Straße verhaftet, ohne zu wissen, wo genau man sich befindet. Der Wald scheint dichter zu werden, das Gelände hügliger (im Winter hält sich der Schnee hier länger als im Umland). Von Wölfen ist berichtet worden. Und schließlich gelangt man an die Kreuzung von Breitenhees (ein Schild teilte mit: Geschwindigkeitskontrollen bis Breitenhees). Eine Kreuzung mitten im Wald, mitten in der Einöde. Eine größere Tankstation, gerne von Fernfahrern aufgesucht, sonst nichts, manchmal ein Liebesvan mit rotem Herz in der Waldauffahrt. Hier führt von Celle die B191 heran, die sich bis Uelzen mit unserer Straße vereinigt, um dann nach Osten abzuschwenken: durchs Wendland und weiter über die Elbe bis Ludwigslust (und weiter noch). Eine Straßenkreuzung. Nichts anderes als dies. Ein kleiner Zauber. Zwei Atemströme, die sich flüchtig vermischen. - Auch in Berlin erlebe ich eine Kreuzung intensiv, weiß nie, warum: wo sich wie auf einer Drehscheibe Wald- und Wittestraße, Miraustraße und Eichborndamm treffen. Ein Bedürfnisverteiler.-
In einem Gedicht schrieb ich einmal: Wo sich am Wege ein Kreuz bildet, gibt es eine Mitte. Vielleicht deshalb. Vielleicht aber, weil die B191 aus der Finsternis zu kommen scheint. Wir fahren weiter nach Norden.-
Bald lichtet sich der Wald und die weitläufige Heidelandschaft um Uelzen wird sichtbar. Ein Aufatmen. Man könnte nun auf kleinen Straßen über Suderburg und Ebstorf nach Lüneburg gelangen, aber wir bleiben auf der großen Straße, wir halten durch, ertragen die Stadtumgehung von Uelzen, von der sämtliche Wege des Nordens abzuzweigen scheinen. Langsam spüren wir die Nähe Lüneburgs, wenn sich die Ilmenau der Straße nähert und sie hinter Bienenbüttel auch erreicht. Nun bloß noch Melbeck und dann die Stadt. Aber was heißt „bloß noch“? Wir biegen dort links ab auf den Weg, der zurück nach Ebstorf führen würde, um ihn sogleich wieder nach rechts zu verlassen. Nun sind wir auf der Straße zum Bahnhof. Welcher Bahnhof? Einer, der ein Geheimnis birgt. Nicht leicht zu fassen. Melbeck-Embsen. Hier wurden früher Dünger und Rüben verladen. Gleisanlagen wurden erweitert, rege Aktivität, auch in finsterer Zeit. Ein Bahnhof an der Lüneburger Bergbahn, einst wichtige Verbindung nach Soltau. Heute liegt der Bahnhof still mit all seinen Rampen und Böcken. Manchmal kommt der sogenannte Heide-Express, eine Museumsbahn, so ändern sich die Dinge. Zum Glück bleibt er grad aus. Der Bahnhof liegt still. -
Wir biegen rechts ein in die Straße, die ihm am nächsten kommt: Am Alten Werk. Links Wald, rechts der Bahnhof, alles voller Kalk. Die Straße erreicht die B209 (auf ihrem Weg nach Soltau) mitten in der Schwarzen Heide. Hier gibt es nur rechts oder links. Durch den Staatsforst führt kein Weg. Wir wenden uns kurz nach links, um bis zur Lüneburger Straße zu gelangen und in Richtung Rettmer abzubiegen. Langsam, ganz langsam nähern wir uns der Stadt, ohne sie zu berühren. Das Geheimnis von Melbeck will verarbeitet sein.-
Als wir die Stadt wieder verlassen, liegt der großzügig ausgebaute Lüner Kreisel (mitten im Lüner Holz) hinter uns und wir befinden uns auf der B209 (nordwärts dieses Mal) und fahren an Adendorf vorbei. Wir gelangen an eine weitere Wegkreuzung, die es in sich hat: Da geht es links ins selbstbewusste Bardowick (mit seiner schönen alten Ilmenaubrücke – über den kleinen Fluss wurde früher das Lüneburger Salz transportiert) und rechts nach Scharnebeck (mit berühmtem Schiffshebewerk). Wir ignorieren das und fahren weiter über Brietlingen in die Elbniederungen mit ihren Gräben und Kanälen. Eine herrliche Windmühle, eine Wegbiegung – und vor uns die Elbe. Kommt man von Lüneburg, bietet sich hier ein eindrucksvoller Anblick: Der Fluss strömt breit heran und (in der Imagination) linker Hand gen Hamburg. Dabei trifft der Blick auf Lauenburg, die Unterstadt gekauert an den Flussrand, die Oberstadt auf dem Hochufer in der Ferne. Langsam rollen wir über die alte Brücke, die Straße folgt nun dem Elbe-Lübeck-Kanal, der hier in den Strom mündet. Sie windet sich aufs Hochufer empor, bis zu der bedeutungsvollen Wegkreuzung, wo dieser Zubringer von Lüneburg her auf die stolze B5 (eine der stolzesten der Straßen) trifft. Ampel. Wegweiser. Links Hamburg. Rechts Berlin. Verlockungen der Ferne. Jedesmal an dieser Stelle der fast unstillbare Drang, über die Landstraße bis Berlin zu fahren, wohl wissend, dass Reisefieber abklingt (wie am Anfang von Eichendorffs TAUGENICHTS zu erfahren) und in Erschöpfung mündet. Aber die Schilder! Die Schilder! Boizenburg, Ludwigslust, Perleberg und weiter. Ist das Fahren eine Lust! Allmählich nur entfernt man sich von der mächtigen Elbe.-
Aber wir wollen unseren Lieblingsstrom nicht zu rasch aus dem Blick verlieren. Er hat seine Tücken. Mächtig (mitunter zu mächtig) rauscht er heran und trägt in Lauenburg den Stolz vor sich her, dass ihn auf der langen Strecke von Dömitz niemand auf einer Brücke überqueren konnte. In der Tat gibt es bis dorthin nur zwei Fähren, die dem Fluss gewachsen sind: die von Bleckede, die eine alternative Route aus dem Osten Lüneburgs nach Boizenburg anbietet, und die von Neu Darchau, welche direkt hinüber nach Neuhaus führt. Mit dem Amt Neuhaus hat es eine eigene Bewandtnis. Die kleine Region jenseits der Elbe gehörte traditionell zu Niedersachsen, fiel aber mit der Grenzziehung im Kalten Krieg an die DDR. Heute gehört sie wieder zum Landkreis Lüneburg, ist aber in Ermangelung an Brücken ein abgeschiedener, nahezu rätselhafter Ort. Fährt man entlang der B195 südwärts, kommt man durch ein Niemandsland mit eigenem kalten Atem. Diese Straße müssen wir bis Dömitz verfolgen, um auf Mecklenburgischem Gebiet wieder an eine Elbbrücke zu gelangen: Selbstbewusst lenkt sie den Verkehr hinüber nach Lüchow-Dannenberg, wo die B191 (wir sprachen von ihr) vor Uelzen in der Ferne verschwindet. Zwei Fähren noch vor Wittenberge: die bei Lenzen (wer mag, lese bei Karl May nach, was es mit diesem Zipfel Brandenburgs historisch auf sich hatte) und die berühmte bei Schnackenburg (berühmt, weil hier für lange Zeit der „Westen“ seine östlichste Ausdehnung fand). Dann noch ein Stück Straße. Wittenberge. Stramm südlich fahren wir auf der B189 in Richtung Stendal. Bei Tangermünde die nächste Brücke. Überqueren wir die (die Elbe lässt uns nicht frei), dürfen wir uns wieder der Berliner Heimat nähern.-







RÄNDER
(Berlin)





















Wir nähern ihr uns behutsam, denn Tangermünde ist schön und verlangsamt unsere Fahrt noch vor der Elbbrücke. Und unser Ziel wird nicht die große Stadt sein, sondern die Annäherung selbst. Denn die Ränder der Dinge geben mehr Geheimnisse preis als ihr Inneres. Wir setzen hinüber auf der B188 (die fast von Berlin bis Hannover parallel zur A2 verläuft), freuen uns über den seltenen Namen Land Schollene noch westlich von Rathenow (hier verläuft – schwer einschätzbar – die Grenze zwischen Anhalt und Brandenburg), lassen die Stadt der Optiker links liegen und bevor die B188 allzu sehr nach Norden in Richtung Friesack schwenkt, biegen wir ab, nach rechts, hinein ins Havelländische Luch südlich vom Hauptkanal, welches ich hier nicht beschreibe, weil das allein Fontane kann. Kurz vor Ribbeck treffen wir auf die altbekannte B5 (sie mag verzeihen, dass wir sie bis hierher verlassen haben). Auch zu Ribbeck hätte nur der große märkische Dichter Kluges zu sagen, aber das Geheimnis bleibt. Es bleibt vor allem dann, wenn man auf der Bundesstraße weiterfährt, ohne die schmale Dorfabzweigung zu beachten, in dem Gefühl, dass da irgendwo links etwas Besonderes wäre, das man aber nur am Rande passiert. Ankommen ist schlimmer als wegfahren. Nun wird es ernst. Wir nähern uns Berlin. In die Mitte der Stadt wollen wir nicht. Heute nicht. Heute wollen wir die Stadt von draußen, von ihren Rändern her erleben. Noch sperrt zum Glück Nauen unseren Weg. Von hier aus böten sich verschiedene Routen an. Die direkte wäre die Verlängerung der B5, ganz humorlos als Schnellstraße ausgebaut, grad dort, wo es früher provinziell-interessant wurde, hinein ohne großes Zaudern an Hochhäusern vorbei nach Spandau.-
Eine andere Autobahnstrecke würde uns Aufschub gewähren. Führen wir auf dem Berliner Ring nach Norden, vorbei an Falkensee ins Ländchen Glien, könnte man am Dreieck Havelland die Illusion nähren, man wäre nur auf dem Weg nach Kremmen oder zum Linumer Bruch, um Kraniche zu beobachten. Aber, kein Vertun, man müsste dort in Richtung Oranienburg und am Oranienburger Kreuz selbst in Richtung Berlin. Dort würde die Stadt heranstreben, zunächst hinter Lärmschutzwänden, später als geschützter Stadtwald, der dann doch in Tegel städtisch aufgehoben wird. -
Der Listige findet noch einen dritten Weg: Schon in Nauen auf der B273 nach Norden und so bis Börnicke, wo die Berliner Post gesammelt zu werden scheint. Und nun Richtung Berlin, aber auf kleinsten Wegen, die dich nicht zu schnell voranbringen. Zum Glück. Den hässlichen Ring nur gekreuzt und dann direkt hinein ins Ländchen Glien – und schön abgebogen auf Bötzow hin (um endlich zu sehen, was es mit der legendären Bötzowbahn auf sich hat). Zwei Kurven noch und unser Wagen rollt unweigerlich nach Hennigsdorf, sosehr wir auch die Bremse beanspruchen. Wir kommen von Westen her, wir kreuzen die Ringbahn, die Berlin wie ein weiter Gürtel umschließt. Nun gibt es kein Pardon mehr. Vielleicht noch die Gewissheit, dass Hennigsdorf nicht zu Berlin gehört; noch sind wir in Brandenburg. Aber es ist nicht mehr weit bis in die Stadt. Vorbei am Klinikum, wo Krebstode gestorben werden. Dann naht die Havel, die Brücke hinüber nach Berlin. Berlin-Heiligensee, da geht es Gott sei Dank noch ruhig zu. Kaum spürt man in der Stadt zu sein. Wir wollten nicht in die Stadt. Wir verharren hier, bevor die Türme von Tegel vor uns aufragen.-
Warum wollen wir nicht ankommen, verschieben wir den Augenblick endgültiger, definitiver Ankunft? In Lüneburg, in Ribbeck, in Berlin? Warum nähern wir uns lieber dem Ziel, als es zu erreichen. Oder umkreisen es? Dies ist nicht der Ort für eine philosophische Antwort, nur für die Feststellung: Tagelang möchten wir fahren, fahren, nur nicht ankommen, nur keine festgelegten Verhältnisse vorfinden, immer nur unterwegs sein, in der vagen Hoffnung auf ein schönes Ziel. -
Mit einem alten Freund hegte ich lange den Plan, die Stadt Berlin auf dem Eisenbahnring (mit den zur Verfügung stehenden Verbindungen) zu umrunden. Ein Vorhaben, das mit unzähligem Umsteigen verbunden gewesen wäre (denn die Bahnen streben ja konkreten Zielen entgegen, die zu erreichen den Reisenden in der Regel das Hauptbedürfnis ist). Wir aber wollten nicht ankommen, sondern die Stadt stets aus der Ferne sehen, in Liebe, aber ohne Hautkontakt. Wir haben das Vorhaben nicht verwirklicht. Doppelte Distanz. Angst vor dem Ankommen in der Fahrt ohne Ankunft. Wir Menschen leben wohl im Abstand zum Eigentlichen.-
Obwohl ich sehr an Fußball interessiert bin, habe ich mir noch nie ein Spiel im Berliner Olympiastadion angesehen. Dennoch: Ich liebe das Areal. Ich fuhr im Winterregen an einem spielfreien Tag langsam um den Olympischen Platz, parkte meinen Wagen und lief zu den benachbarten U-Bahnstationen. Der Wind wehte Papierreste über die Straßen. Wunderbares Gefühl, an einem Ort zu sein, der eigentlich das Zentrum der Ereignisse wäre. Eigentlich. Ich bitte um Verzeihung für den Vergleich, aber Gott ist auch nicht anwesend, wenn wir eine Kathedrale besuchen.-
Seit ich aus dem Schuldienst ausschied, habe ich meine ehemalige Schule nicht mehr betreten, man bat mich auch nicht darum. Ich sandte eines Tages meine Schulschlüssel in einem etwas zu dick aufgebauschten Briefumschlag an die Sekretärin zurück. Das war alles. Der Rest per Mail. Und alles Gute für Ihre Zukunft. Aber manchmal, wenn ich in der Gegend bin und noch etwas Zeit zur Verfügung habe, vor allem wenn es regnet oder neblig ist, fahre ich ganz vorsichtig am Schulgebäude vorbei. Dann leuchten die Lampen aus den Klassenzimmern, man spürt die Wärme, die dort herrscht. Ich erinnere mich an alles. An all die langen Jahre. Aber das geht vorüber wie ein Blitz. -
Eine Zeit lang war es unser großes Hobby, im Berliner Januar die Grüne Woche in den Ausstellungshallen zu besuchen. Manchmal sogar zweimal. Man kostete (weil es noch nicht selbstverständlich war) von allem Fremden und Neuen. Und in der Blumenhalle atmeten die Tulpen und Narzissen aus, im tiefsten Winter. Doch Schönste jedoch war für mich, am Tage des Ausstellungsabbaus dort noch einmal hinzufahren, zu sehen, wie die Stände des Vortags auf Pritschenwagen verladen wurden. Verrückt? -
Eine unserer schönsten Reisen führte nach New England. Ich erinnere mich an die hochsommerliche Hitze in Boston (im Hotel gingen die Feuermelder ohne Not an). An die Mayflower im Hafen natürlich und das Schmierentheater um die Boston Tea Party. Wir waren in den Bergen von Maine und noch weiter nördlich, wo die Lastwagenkolonnen von New Foundland herüberkamen. Wir fuhren durch Massachusetts, bis wir die Skyline von New York ahnen konnten. Aber in den Big Apple selbst sind wir nicht gefahren.-
In Gerhard Richters berühmtem Gemälde BETTY (1988) sieht man ein junge Frau, die den Blick von uns abwendet und scheinbar hinter sich ins Leere schaut (wohl aber ein Bild von Richter betrachtet). Dies ist nicht wesentlich, wichtiger ist ihre Abwendung als solche. Der Maler macht uns virtuos aufmerksam auf die rot gemusterte Jacke, die sie trägt, und auf ihre strenge blonde Frisur, aber ihr Antlitz enthält er uns vor. Viele Kritiker haben darüber nachgedacht, was das Besondere dieses Gemäldes ausmacht. Letztlich ist es schwer zu sagen, aber: Wir dürfen das Gesicht dieser wahrscheinlich wunderschönen Frau nicht sehen. Bilderverbot. Wir ahnen nur. Mit ihr blicken wir in die Tiefe eines kaum sichtbaren Bildes. Ankommen wäre schwieriger.-
Ich habe mir angewöhnt in jedem Frühling Ausschau nach den ersten blühenden Krokussen zu halten. Das Kommen der Krokusse verspricht zukünftiges Leben. Es macht die Luft klarer für einige Momente. An den verschiedensten Straßenrändern habe ich sie schon erspäht, meist in Berlin (einmal nur in der Wilhelma in Stuttgart). Solange ich noch an der Schule war, habe ich in deren Umfeld gesucht. Da kamen sie oft am Ende der Dreilindenstraße hervor, gegenüber der Försterei. An einem anderen Frühlingstag begrüßten sie mich am Rande der benachbarten Grundschule (und hellten meine Stimmung auf). Jetzt, da ich alleine leben muss, sprießen sie mir zuliebe auch vor den Häusern der Baugenossenschaft. Schönes Wetter. Eine eilige Mama mit Kinderwagen kommt mir entgegen. Das Baby lächelt Löcher in die Frühlingsluft. Für die Mama ist es nur ein Erlebnis am Rande.-







„IT JUST Is
and that's all there is about it“
(Van Morrison/ Common One)




















Den schönsten Krokusgarten überhaupt bildet „Good Old England“. Hier sprießen die Frühblüher noch zeitiger als anderswo, hier sind im eigentlichen Frühling ganze Landstriche von Narzissen überzogen („I wandered lonely as a cloud that floats on high o'er vales and hills, when all at once I saw a crowd, a host of golden daffodils“/ Wordsworth), und im Sommer ist England der herrlichste Garten der Welt. Gegen die englischen Hortensien, von Zauberhand gehegt, sind die unseren nur kümmerlich. -
Ich sitze vor einer entfalteten Landkarte, die den Süden der Insel zeigt. Ich kann stundenlang auf Landkarten schauen und berausche mich allein an den fremdartigen Ortsnamen, die wundervolle Vorstellungen hervorrufen, zum Teil von Erfahrung genährt, sonst von Fantasie allein. -
Diesen Teil der Karte hatte ich schon oft aufgeschlagen, auf der fantasiebefeuerten Suche nach dem Hügel, auf dem die Handlung von „Watership Down“ spielt. Die Suche war schöner als das schließliche Finden. Mein Blick glitt lange über die Landschaft zwischen North Downs und South Downs hinweg, driftete nach Westen über Winchester nach Salisbury (in London steht auf den Autobahnschildern einfach nur THE WEST) und sogar herab bis Bournemouth (vielleicht weil ich hier meinen ersten englischsprachigen Sommermonat verlebte). -
Als ich irgendwann wusste, wo sich Watership Down wirklich befand (ziemlich genau in der Mitte des Dreiecks Basingstoke-Newbury-Winchester, nicht weit von der kleinen Ortschaft Sydmonton), war ich etwa so enttäuscht wie Wordsworth, als er zum ersten Mal die Gipfel der Alpen erklomm und sie sich nicht länger mehr vorstellen konnte (wen Gott bestrafen will, dem erfüllt er seine Träume, heißt es wohl sinngemäß in Tania Blixens „Jenseits von Afrika“). Zur Enttäuschung trug bei, dass ich das sachliche Basingstoke schon lange kannte (im banalen Zusammenhang eines Schüleraustauschs) und es in meiner Vorstellung beim besten Willen nicht mit der geträumten Landschaft von Watership Down zusammenbringen konnte. Was wurde geträumt?-
Wenn ich über den Kanal (von Calais) nach England kam, steckte das Land in allem Nebensächlichen, aber in nichts Speziellem. Schon die ersten Schafherden auf den Dünen vor Dover waren England. Die Schilder auf den Autostraßen waren England. Die versteckten Country Pubs im Hinterland erst recht. - Die Wanderungen auf dem South Downs Way in Richtung Brighton (Gruß an die Windmühlen Jack und Jill) waren das ganze, wunderbare England. Und irgendwie stellte ich mir die ganze Zeit vor, der Hügel Watership Down müsse gleichsam die Summe aus all diesen England-Verdinglichungen sein. Ein harmloser Abhang, harmlos, unspektakulär, aber so typisch, dass das Land darin enthalten war. Mit seinen Wildkaninchen, seinen Narzissen und Krokussen. Und es sollte gar kein bestimmter Ort sein. Vielmehr sollte er aus der Imagination in die Wirklichkeit hineinragen, irgendwo, egal wo, nicht unbedingt bei Basingstoke. -
Was die nahezu philosophische Frage nach dem Hintergrund dieser Vorstellung stellt. Es gibt eben Dinge, die sind einfach da, und sie müssten nicht unbedingt an ihrem Ort sein, sie verlören nicht an Wert. Sie sind, wie Van Morrison in einem seiner schönsten Lieder singt, einfach da,- und das ist alles, was es dazu zu sagen gibt.-










ÜBER DEN BERG




















Wir wechseln die Perspektive und schauen nach Süden. Ausgangspunkt hierbei ist die Region, die mich (unabhängig von politischen Aktualitäten und obwohl ich sie lange Zeit persönlich nicht kennen lernen konnte) immer besonders faszinierte: Mitteldeutschland. Vielleicht liegt es am Flair herausgehobener historischer Bedeutung (Luther, Bach, Goethe, Novalis u.v.a.), vielleicht an der Magie von Ortsnamen (Quedlinburg, Weimar, Goldene Aue), vielleicht einfach auch nur an einer Vorstellung, die keine Erfüllung findet, dass ich meine Landkarte sehnsüchtig betrachtete und den Blick vom Harz durchs Thüringer Becken langsam in Richtung Thüringer Wald gleiten ließ. Dieses Gebirge hat in meiner Fantasie immer eine Rolle gespielt. Der Kamm des Thüringer Waldes (auch als ich ihn noch nie gesehen hatte) war für mich schon in jungen Jahren eine bedeutende Grenze: die Grenze zwischen der Mitte und dem Süden und später zwischen dem unzugänglichen und dem vertrauteren Teil Deutschlands. Mag sein, dass hierzu meine erste wichtige Schülerfahrt nach Kronach beigetragen hat (der Frankenwald bildet ja die Verlängerung des Thüringer Walds), mag sein, dass es eher die unzähligen Transitfahrten auf der A9 waren, die jenseits der Saalebrücke bei Rudolphstein erste Erlösung fanden, jedenfalls blieb mir stets bewusst, dass rechter Hand kurz vor der Grenze ein Gebirge lag, das uns wie eine gewaltige Trennmauer von den Landstrichen absonderte, in denen Goethe mit der Kutsche von Weimar über Erfurt nach Gotha unterwegs war. Mein erstes Theaterstück AUF BEIDEN SEITEN wirft den Blick von der Thüringer Warte bei Lauenstein aus die Loquitz hinab nach Norden, genau genommen bis nach Dessau.-
Doch gehen wir die Angelegenheit ein wenig systematischer an: Wollen wir das angedeutete Abenteuer von Norden her erleben, sollten wir auf der vom Harz herunterkommenden B85 unterwegs sein. Wir lassen Hohe Schrecke und Schmücke hinter uns und nähern uns gemächlich (weil man ja nicht zu schnell ankommen möchte) über Kölleda der Goethestadt Weimar. Die Ankunft aus dem Norden ist unspektakulär, an der Stadtgrenze könnte man meinen, man habe es mit irgendeiner beliebigen Stadt zu tun. Aber gerade dies gefällt uns ja. Wir wollen an dieser Stelle auf Weimar nicht näher eingehen, dies wäre eine sehr eigene Einlassung – auch gibt es Klügere, die sich dazu geäußert haben. Die B85 quert die Autobahn A4 (kurz zuvor lässt Feininger aus Gelmeroda grüßen) und nähert sich unaufhaltsam dem Thüringer Wald. Jetzt wirken die Ortsnamen in der Tat magisch: Blankenhain, Rudolstadt (wo Schiller seine Liebste traf), Saalfeld – und dann herauf. Magie pur ist Probstzella an der alten Nord-Süd-Eisenbahnlinie, hier hatte man früher das Gefühl, ins PROMISED LAND einzufahren, und dann kommt auch schon Lauenstein. Von hier führt ein Fußweg hinauf zur Warte, von wo aus wir weit in den Norden, vielleicht bis Dessau, schauen. Der alten Grenzziehung zum Trotz verläuft der Kamm ein wenig weiter südlich, etwa bei Ludwigsstadt, hier staut sich noch einmal unser Gefühl. Und nun hinab (wir wenden den Blick nach Süden) mit den Flüssen, die dem Main zustreben, vorbei an Sonneberg (ein ewiges Sehnen wurde gesandt, solange es nicht erreichbar war, so nah und doch so fern) hinab nach Kronach (ein eigenes Kapitel) und in wildem Sturz weiter zum Main, wo in der Ferne schon die Goldene Pforte blinkt.-
Das Maintal hat seinen ganz eigenen Reiz, im Grunde ohne Konkurrenz. Was sich besonders demjenigen erschließt, der einmal von der Mainquelle am Ochsenkopf hinabstieg nach Bischofsgrün, möglicherweise weiter, und auf diese Weise mit dem Fluss Vertrautheit erwarb. Die eben erwähnte Goldene Pforte bezeichnet den Engpass zwischen Kloster Banz (am rechten Ufer des Flusses gelegen) und der Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen auf der anderen Seite. Eine meiner Jugenderzählungen spielte mit dem Gedanken, zwischen beiden Sehenswürdigkeiten über den Main hinweg ein Seil zu spannen. Manche Gedanken bleiben ein Leben lang. -
Südlich der Pforte öffnet sich das Maintal und lässt Bamberg erahnen. Die Stadt gehört zu dem Schönsten, das ich mir als Wohnstätte von Menschen vorstellen kann (aus der Ferne betrachtet, wie alles in diesen Zeilen). Die Haßberge an der rechten Schulter, die Fränkische Schweiz an der linken, strebt der Fluss der Stadt der Kirchtürme entgegen, freilich ohne sie direkt zu erreichen (nur die Regnitz stellt die Verbindung her). Auch Bamberg wäre ein eigenes Kapitel meines Lebens. Es hat mich dort immer wieder hingezogen. Dieser Text beantwortet möglicherweise die Frage, warum. Ich erinnere mich an Sommertage im Rosengarten hoch über der Stadt (fern von ihren Alltagsgeschäften), unser Blick ein wenig oberhalb der Dächer, als das Gefühl aufkam, es wäre alles, alles richtig. - Aber noch schöner ist Bamberg aus der Ferne. Wenn man sich von Staffelstein her annähert und plötzlich die Silhouette erscheint. Die sieben Hügel (ich habe sie nie gezählt), der Dom (mit dem Reiter) und hoch oben St. Michael, wo manchmal im Sommer die Trompeten blasen.-
Wagen wir uns von Bamberg her noch weiter nach Süden, erscheint irgendwann vor uns die Kulisse der Alpen. Auch die sind besonders schön aus der Ferne, wenn mit ihrem Anblick noch keine körperliche Qual verbunden ist. Aber wir umgehen München auf der westlichen Seite und fahren tapfer hinein, erschleichen uns den Zugang auf bequemen Autostraßen, vorbei an Mittenwald, über den Seefelder Sattel und den unglaublichen Abhang am Zirler Berg hinunter nach Innsbruck. - Nun wird es ernst. Es folgt der Aufstieg zum höchsten Punkt, zum Wendepunkt unserer Reise. Schon immer war es meine Sehnsucht gewesen, einige Tage in der Ortschaft Brennero (tatsächlich wurde es Terme di Brennero) in direkter Nachbarschaft des berühmten Passes zu verbringen. Des Passes, den jeder überwinden muss, auf seinem Weg in das südlichere Paradies. Einmal hier ganz oben sein, von wo aus alles geregelt zu werden scheint: die Ankünfte über die Europabrücke, die Abfahrten in Richtung Verona. Hier treffen die über den Eisack heranziehenden Wolken auf eine unüberwindliche Wand, rollen sich ein und verschwinden auf wundersame Weise im Nirgendwo. Einmal in der Wolkenwalze den Berg erklimmen. -
Sind die Wünsche des Lebens erfüllt, kommt der nüchterne Rückweg. Ihn im Einzelnen zu verfolgen würde uns wenig Freude bereiten. Irgendwann, auch wenn wir es noch so lange hinausgeschoben haben, treffen wir in Berlin ein. Dann halten uns auch die Ränder nicht mehr auf – sie sind durchlässig auf die Mitte hin. Die Mitte ist für mich Berlin-Wittenau mit seinen Häusern und Straßen, mit seinen Menschen, die alle (auch wenn sie es nicht ahnen) unser Schicksal teilen. Herab vom Brennero, hinab zum Wittenauer Friedhof am Thiloweg (wo meine Familie begraben liegt).-
Hier wird einmal alles enden. Doch bis dahin wandeln wir auf dem Mittelweg und schauen rechts und links die Gräber (den schönen Blutahorn im Herbst). Ob Ende, ob Rettung, ob Ewigkeit – wer weiß das schon? Ankommen ist schwieriger als wegfahren.-
 



 
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