lietzensee
Mitglied
Magnifio
"Die Geschäfte laufen schlecht", sagt Magnifio und das ist mehr als ein Kaufmannsgruß. Was er anbietet, will niemand mehr haben. Natürlich liegt das nicht an der Qualität seines Angebots. Die ist unverändert hervorragend und er ist stolz darauf. Schließlich betreibt er eine Kunst, die von Alters her immer vom Vater an den Sohn weitergegeben wurde. Er hat sie in zugigen Zelten gelernt, auf hundert staubigen Plätzen und unter ehrfurchtsvollen Blicken von Fremden. "Arbeite gut, aber halte mit deinen Kräften haus", hatte der Vater ihn stets ermahnt, "dein Großvater ist an einem Herzinfarkt gestorben." Dann hatte der Papa sich würdevoll den Mantel umgeworfen und den fleckigen Turban aufgesetzt. Die Leute standen Schlange vor dem Zelt. Beim Eintreten hatte jeder bange den Hut abgenommen und erst ein Heben der väterlichen Braue hatte ihnen erlaubt, die immer gleiche Frage zu stellen: "Was wird die Zukunft bringen?"
Heute sitzt Magnifio in einem modernen Wohnwagen. Über der geöffneten Tür prangt eine Leucht-Reklame und der Turban auf seinem Kopf ist blitzsauber. Doch von den Fahrgeschäften und Bierständen verirrt sich niemand zum unglaublichen Hellseher Magnifio.
Endlich spaziert ein junges Pärchen vor seiner Tür vorbei: "Magnifio verrät, was die Sterne für euch bereithalten", ruft er. Die tiefe Stimme soll Ehrfurcht erzeugen, doch kann er einen bittenden Unterton schon nicht mehr unterdrücken. Das Mädchen dreht sich um, sie zögert. Verliebte Frauen waren doch immer die treueste Kundschaft. Für sie lohnt sich die Anstrengung. Der Junge aber zieht sie weiter. "Abzocke", knurrt er und verzieht das Pickelgesicht. Nur der Staub bleibt auf dem Platz zurück.
Später blickt eine Frau zur Tür hinein: "Können Sie mir helfen?" Sie trägt Batik-Kleidung und eine Kette aus bunten Steinen. Das scheint vielversprechend. Magnifio richtet sich auf und streicht mit beiden Händen über seinen schwarzen Vollbart. Er fängt an, sich zu konzentrieren. Die Frau lächelt entschuldigend: "Können Sie mir sagen, wo die Toilette ist?" Darauf lassen seine Hände den Bart fahren. Mit hängendem Kopf weist Magnifio den Weg zum Sanitär-Container. "In der Kabine hinten links sitzt gerade Ihre alte Schulfreundin", ruft er der Frau noch nach. Doch sie rennt eilig davon.
Dann bleibt ein alter Mann mit Brille stehen. Seine Jacke ist aus Cord und starrt vor Flecken. Angewidert blickt er auf das Rummeltreiben. Magnifio leckt sich die Lippen. Eigentlich unter seinem Niveau, aber so sind die Zeiten: "Der große Magnifio offenbart Ihnen die Zukunft!", ruft er und blickt den Mann fest an.
"Die Zukunft?", der Mann scheint nachzudenken. Er holt Luft und kratzt sein vom Rasieren zerschnittenes Kinn: "Lassen Sie mich ja mit der Zukunft in Frieden!" Er schnauft. Dann rattert er all die Gründe herunter, warum die Zukunft ein Betrug ist. Die Vergangenheit, ja die war natürlich was anderes. Früher war alles besser. Über die Vergangenheit will er gerne reden und beginnt, von seiner Jugend zu erzählen. Wie schlank er war. Wie würzig filterlose Zigaretten schmeckten. Gerade noch kann Magnifio die Wohnwagentür schließen, bevor der Fremde ihn auffordert, in seine Kleinpartei einzutreten. Der Wahrsager muss lange warten, bis dieser Mann verschwindet. Er holt konzentriert Luft, kneift die Augen zusammen und versucht dann, sich zu trösten: Nächste Woche schon wird der Mann sich zwei Finger in einer Bordelltür einklemmen.
Magnifio ist zu stolz um, um sich Leuten aufzudrängen. Aber Magnifio muss auch an seine Zukunft denken. Mit den Ratenzahlungen für den neuen Wohnwagen ist er wieder im Rückstand. Schließlich rückt er vor dem Spiegel seinen Turban zurecht und tritt durch die Tür auf den staubigen Rummelplatz. So weit zwischen die Fahrgeschäfte hat er sich ewig nicht mehr vorgewagt. Alles flackert hier mit elektronischen Displays. In der Menge konzentriert er sich zuerst auf einen Metzgermeister. Der hat heute eine große Ladung Schweinehälften gekauft. Nein, dieser Mann möchte von seiner Zukunft bestimmt nichts wissen.
Da, der junge Kerl mit Bartflaum und dem großen Handy, für den müsste doch jetzt die Blüte der Jugend beginnen: "Junger Mann, wie viel ist es Ihnen wert, in die Zukunft blicken?" Der Junge aber schaut nicht mal von seinem Bildschirm auf. Was ist nur los mit den Menschen? Gehen die denn nicht mehr auf einen Rummelplatz, um etwas zu lernen? Suchen sie nur noch Zerstreuung? Magnifio schnappt sich den Burschen. Er schüttelt ihn: "Es geht um deine Zukunft! Verstehst du das nicht? Ist dir ganz egal, was kommt?"
So wild schüttelt Magnifio, dass ihn der Turban herunterfällt. Die Leute ringsum bleiben stehen. Sie schütteln die Köpfe, was den Hellseher nur noch wütender macht. "Ihr seid doch alle, alle abgestumpft", ruft er. "Ihr seit apathisch!"
In die Stille darauf spricht eine leise Stimme: "Du bist ein Scharlatan."
Das ist zu viel. Magnifio lässt den Jungen zu Boden fallen. Wild blickt er um sich. Ohne Turban ist seine Wirkung natürlich gemindert, doch noch hat er einen schwarzen Vollbart. Er, ein Scharlatan? Er wird ihnen zeigen, was der große Hellseher Magnifio zu leisten vermag. Er wird die Zukunft umfassender und für mehr Menschen gleichzeitig voraussehen, als je ein Hellseher auf einem Rummelplatz gewagt hat. Tief holt er Luft. Seine dunklen Brauen furchen sich. Konzentration! Alle Kräfte mobilisieren! Er keucht. Vor ihm beginnt sich die Zukunft auszubreiten. Er wächst über sich hinaus. Das Bild wird klarer, schärfer und... der große Magnifio greift sich ans Herz. Ein Raunen geht durch die Menge, während der Wahrsager vor ihnen zusammensackt.
Als er wieder erwacht, haben die Umstehenden sich längst zerstreut. Er liegt auf dem Boden. Staub bedeckt seine Lippen, während die Menschen über ihn hinweg zum nächsten Automatenspiel steigen. Sein Kopf schmerzt. Hat er wieder zu viel getrunken? Dann erinnert sich Magnifio und beißt auf seine Lippen. Er versucht aufzustehen. Er strauchelt.
Da ziehen ihn zwei Hände empor. Sie stützen den großen Wahrsager und führen ihn sanft an das Geländer eines Zuckerwattestandes. "Sie hatten Recht", sagte die Frau, die nach den Toiletten gefragt hatte, "In der Kabine hinten links saß wirklich meine alte Schulfreundin." Sie kauft Magnifio einen überteuerten Kaffee. Eine Weile stehen sie stumm neben der Zuckerwatte. Er versucht, seine Kopfschmerzen zu ertragen. Sie blickt auf die Menschen, die sich um Bierstände und elektronische Glücksspiele drängen. "Und was haben Sie nun für die Menschen vorausgesehen?", fragt sie schließlich.
Magnifio greift sich an den Kopf. Sein Turban ist verschwunden und den Bart bedeckt grauer Staub. Er wirft den Kaffeebecher vor sich auf den Boden.
Was er vorausgesehen hat? Natürlich die Zukunft! Magnifio hört Kinder lachen. Nach dieser Vision ist es besser, zu schweigen. Er könnte sich etwas Ruhe gönnen oder noch ein paar der Fahrgeschäfte ausprobieren. "Jedenfalls ist es egal, ob ich meinen Wohnwagen abbezahlen kann", flüstert er. Aber diese Worte sind nur noch für ihn selbst bestimmt.
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