Maisonne

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Blumenberg

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Hektisch ist es, trotz aller Beschränkungen. Lina arbeitet sich durch die Rathausgasse in Richtung C&A vor. Es ist heiß für Mai und sie hat gehört, der kommende Sommer schenkt endlich eine Atempause. Brennt das Virus weg oder so was. Die Menschen atmen kollektiv auf, nur um einen Augenblick später in eine Masse halbierter Gesichter zu zerfallen. Kaum ist der Entzug vorbei, kehren sie wie Drogensüchtige sofort wieder in ihre alte Umgebung zurück.

Sie reiht sich in die Schlange der Wartenden ein, die mit stoischer Ruhe stillstehen, bis ein gelangweilter Security-Mann dem vordersten einen Korb in die Hand drückt. Seine über den Maskenrand ragende Nase erinnert ein bisschen an einen Penis, der über den Gürtel hinweg heraushängt. Nach diesem Scheißwinter ist es Zeit für Neues in der Garderobe, ein paar Shirts mit lässigem Aufdruck, vielleicht ein oder zwei neue Jeans und ein Paar Sneaker. Heute braucht sie das, dieses befreiende Gefühl, mit der alten Kleidung auch gleich den ganzen Staub abzustreifen, der sich in der Seele dazwischen angesammelt hat.

Zum ersten Mal haben sie sich auf ihrer morgendlichen Route zum Raucherbereich gesehen. Da hat er sie das erste Mal gesehen. Lina kann sich nicht erinnern, ob er ihr aufgefallen ist. Eher nicht, es war ihre Zigarettenpause, da hat sie es immer eilig und dieser eine Augenblick, der, in dem dich von einem Moment auf den nächsten der hormonelle Blitz trifft, ist eine Erfindung der Dichter.

Lina rempelt mit schlechtem Gewissen…, aber der Typ steht auch einfach saudumm zwischen ihr und den Hosen im Angebot und telefoniert. Trotzdem tut es gut. Mittlerweile sucht sie jeden Kontakt, um mal wieder so etwas wie Normalität zu spüren. Das Schicksal war hartnäckig und so hat er sie ein paar Tage später auf einer Party wiedergesehen und ist hingegangen, um ihr das von dem hormonellen Blitz zu sagen, der eine Erfindung der Dichter ist, den er aber gespürt hat, an diesem Tag in der Bibliothek und den sie heute spürt. Er war unbeholfen und ein wenig kurzatmig, aber das gefiel ihr. Zwischen den Unterhemden, kurz bevor sie den Gang mit den Socken kreuzt, tanzen kleine, sich stetig formende Punkte durch ihr Blickfeld, erweisen sich als hartnäckig und zwingen sie zum Umdenken. Sie ist die Dämpfe der chemischen Imprägnierstoffe nicht mehr gewohnt. Sie muss hier raus, die Sneaker müssen warten.

Als sie sich mit einem Kaffee auf dem Platz der alten Synagoge, die eigentlich eine zerstörte Synagoge ist, an einen Baum gelehnt in die Sonne setzt, fühlt es sich fast so an, als wäre der ganze Spuk nie passiert. Vor der Universitätsbibliothek parken die Fahrräder in zweiter Reihe. Ein Kleinkind rennt, argwöhnisch beobachtet von einem Streifenbeamten, über die heißen Fliesen auf die glitzernde Wasseroberfläche des Mahnmals zu, wird im letzten Moment von der Mutter abgefangen. Glück gehabt, hätte Simon gesagt, wer zerrt schon gerne in Ausübung seiner Pflicht ein weinendes Kind aus dem Wasser.

Was macht sie sich da bloß vor. Weg ist weg und an Alltag im Augenblick nicht zu denken. Daran ändert auch die Maisonne nichts. Sie verbrennt sich die Zunge an der dampfenden Flüssigkeit aus dem Pappbecher und flucht. An ihn zu denken bringt sie aus der Fassung. Noch immer macht seine Gegenwart sie fahrig.

Was weiß sie denn schon von ihm, fragt sich Lina später zwischen dreigestreiften Balken und springenden Raubkatzen, während wie Football-Schiedsrichter gekleidete Verkäufer sich bemühen, das Chaos um sich herum in den Griff zu bekommen. „Die in Größe 40“, sagt sie, ohne den glitzernden Paillettenbesatz, „der die Schuhe zu einem echten Hingucker macht“, angemessen würdigen zu können.

Acht Wochen vollkommene Seligkeit, vorbeigeflogen und von einem Augenblick auf den nächsten zersprungen wie eine Bologneser Träne, deren Schwanz man abbricht. Ihr kommt es vor, als hätte sich da jemand einen grausamen Scherz erlaubt, und die Intensität ihres Zusammenseins sei nur dazu da gewesen, die Fallhöhe für sein plötzliches Verschwinden zu steigern. Das Handy tot, seine Wohnung verlassen, nur ein verknitterter Zettel in ihrem Postkasten: er könne nicht bleiben. So was gibt es nur in schlechten Agentenfilmen, das echte Leben muss anderen Regeln gehorchen. Trotzdem liegt der zerknitterte Zettel auf ihrem Küchentisch.

Lina braucht jetzt wirklich diese Sneaker.
 



 
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