Mal ein paar Worte über Notlügen

Hagen

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Mal ein paar Worte über Notlügen

Wenn die Blätter fallen, steigen die gesellschaftlichen Verpflichtungen.
Es soll hier nicht die Rede sein von Besuchen bei guten Freunden, sondern wir laden öfter mal Freunde zum Billard ein.
Es sind die Abende, an denen vereinbarungsgemäß ‘bestimmt keine Umstände‘ gemacht werden und die liebe Lydia, aufgelöst von den Vorbereitungen, nur noch als Nervenbündel mit flackerndem Blick zwischen Küche und Gästen hin und her eilt, denn vorher muss natürlich ‘eine Kleinigkeit‘ gegessen und das eine oder andere Bier verkostet werden.
Direkte Folgen solcher Abende sind blaue Flecken an den Schienbeinen von mir. Der Tritt gegen das Schienbein ist die primitivste Form der ehelichen Befehlsübermittlung in Gesellschaft. Er ist allerdings nur am gedeckten Tisch vor dem Billardspiel möglich.
Da macht die liebe Lydia oben liebenswürdig lächelnd Konversation, und unten tritt sie, um mein Benehmen zu steuern. Wo das nicht möglich ist, weil ja der Trittradius einer sitzenden Person begrenzt ist, werden mit bis zu 10 000 Volt geladene Blicke angewandt, um Benehmen oder Erzählungen ihres lieben Gatten zu beeinflussen.
Und das kann ich gut, zur Hochform aller denkbaren Dichtungsarten auflaufen, kennt man ja aus der Leselupe, denn ich teste meine Geschichten immer in geselliger Runde an, wobei ich Dichtung und Wahrheit gelegentlich vermische.
Jeder von uns hat schon einmal den mysteriösen Vorgang beobachten können, dass die nach dem letzten einsamen Bier langende Hand des Hausherren plötzlich in der Luft erstarrt und kraftlos herabsinkt, ohne das Bier zu nehmen.
Das ist die Folge eines solchen Hochspannungsblickes, der mehr oder weniger unauffällig aus dem linken Augenwinkel abgeschossen wurde.
Nun begehen wir Männer, die wir allzumal Gesellschaftssünder sind, häufig in fröhlichem Kreise mehrere Sünden gleichzeitig. Da kann ein Blick oder ein Tritt gegen das Schienbein soviel Auslegungsmöglichkeiten haben, wie das Bürgerliche Gesetzbuch. Er kann bedeuten: „Musst du unbedingt der Dame gegenüber in den Ausschnitt starren?“, oder „Das ist schon dein fünftes Bier!“ oder „Vorsicht bei deinen Ausführungen!“
Da muss ich schon meinen ganzen Grips zusammennehmen, um die richtige Lösung zu finden!
Nur ein ganz naiver, frischgebackener Ehemann, wie mein Freund Walter, fragt in solchen Fällen mit dümmlichem Lächeln: „Was ist denn, Liebling? Warum trittst du?“
Worauf ihn verdientermaßen ein Blick trifft, der eine mittlere Eiche entwurzeln könnte.
Zwischen dem Tritt gegen das Schienbein und dem Hochspannungsblick gibt es viele pantomimische Varianten, die nur ungenaue Bedeutung haben.
Das Erzählen von lustigen Geschichten ist bekanntlich das Fundament jeder Geselligkeit neben dem Billardspiel. Während ich munter drauflos erzähle und mitten in der Einleitung bin, spielt die liebe Lydia mit der linken Hand auf der Sesselkante ein imaginäres Klavier-Furioso.
Das mahnt zur Vorsicht. Ich gerate ins Stocken und überlege: „Wer in diesem Kreise könnte durch die Geschichte beleidigt werden?“
Während ich nun irritiert weitererzähle, atmet die liebe Lydia so tief ein, als wolle sie mit einem Atemzug ein Schlauchboot aufblasen.
Das ist bereits eine massive Drohung!
Meine Erzählung wird holprig, denn ich bin bereits kurz vor der Pointe.
Da hustet die liebe Lydia ganz kurz und trocken auf. Und das veranlasst mich als Erzähler, der Geschichte mittels scharfer, geistiger Kehrtwendung eine ganz andere Pointe zu geben, die natürlich keine ist. Schade eigentlich.
Beim üblichen Durchsprechen des Abends, nachdem die Gäste gegangen sind,
stellt sich heraus, dass die ganze Pantomime nur wegen meiner hingelümmelten Haltung aufgeführt wurde.
Am gefährlichsten ist es aber, Geschichten aus der eigenen Ehe zu erzählen, in denen die Gattin eine absonderliche Rolle spielt. Wer so eine Geschichte heil zu Ende bringt, sofern er zu Worte kommt, ist durch nichts auf der Welt aus der Ruhe zu bringen. In jedem Satz wird er mehrmals unterbrochen: „Aber Liebling, das war ganz anders, du hast in der Badewanne gestanden, als der Paketbote…“ usw.
Darüber sind wir glücklicherweise hinweg, könnte mir nie passieren, denn ich habe mittlerweile für jede Geschichte mehrere Ausweichpointen bereit, die allerdings manchmal an sogenannte ‚Notlügen‘ grenzen, da ja jeder weiß, dass ich niemals lüge.
Beim Erzählen lasse ich deshalb die liebe Lydia nicht aus dem Auge, um mich zu orientieren, welche Pointe angebracht ist.
Um Missverständnisse auf Gesellschaften und peinliche Auseinandersetzungen hinterher zu vermeiden, gibt es ein einfaches Mittel: Ich habe mit der lieben Lydia einen Code ausgemacht, in dem für alle vorkommenden Fälle ein bestimmtes pantomimisches Zeichen vorgesehen ist. Das erleichtert meine ‘Fernsteuerung‘ ungemein.
Hier einige Beispiele:
Sie bewegt das leicht geballte Fäustchen unter ihrem Kinn hin und her. Übersetzung: „Wehe dir, wenn du die Geschichte so erzählst, wie sie wirklich war! Es geht keinen etwas an, was wir auf Paddinggartener Altendeich wirklich gemacht haben!“
Scherenartige Bewegung mit zwei Fingern:
„Schneide die Geschichte kurz ab! Sofort Thema wechseln! Es glaubt sowieso kein Mensch, dass wir eine funktionstüchtige Bombe auf dem Flur stehen hatten!“
Die liebe Lydia bedeckt mit der Hand den Ausschnitt ihres Kleides:
„Die Geschichte, den du da gerade anfängst zu erzählen, ist für diese Gesellschaft zu lang und zu gewagt! Die ganze Geschichte mit dem Ursula von der Leyen-Preis ist zu zeitintensiv! Gehe auf Ausweichpointe und kürze die ganze Sache ab!“
Sie reibt das linke Ohrläppchen:
„Höre endlich auch mal zu, was die anderen sagen, und rede nicht nur allein!“
Sie streicht mit der Hand über ihr Haar, wobei zwei, drei oder vier Finger abgespreizt werden:
„So viel Whisky darfst du noch trinken, dann ist Schluss!“
Sie umfasst mit der Hand ihren Hals:
„Halte dich mit dem Essen zurück!“
Die letztere Bewegung kann auch drohende Bedeutung haben:
„Ich drehe dir den Hals um, wenn du weitererzählst! Du machst dich nur lächerlich, wenn du erzählst, dass du mehrfach wiedergeboren worden bist!“
Aber dann muss die Bewegung allerdings leicht schraubend ausgeführt werden.
Es soll Ehepaare geben, die bis hundert solche Zeichen vereinbart haben. Ein Mann, der nach diesem Verfahren von der Gattin geleitet wird, kommt bald in den Ruf eines vollendeten Gentlemans; - allerdings sind die Tischgespräche dann ausgesprochen langweilig.
Nun werden vielleicht einige geneigte Leser fragen:
„Wieso ist hier nur immer davon die Rede, dass die Frau mit Zeichensprache den Mann in Gesellschaft steuert? Gibt es das nicht auch umgekehrt?“
Den Mann möchte ich sehen, der das wagt!
Außerdem ist erwiesen, dass sich Frauen nur selten, Männer dagegen immer in Gesellschaft daneben benehmen.
Das liegt hauptsächlich daran, dass die Männer meistens geradeaus sagen, was sie denken oder erlebt haben. Die Frauen dagegen haben die großartige Gabe, die Wahrheit den Umständen entsprechend zu frisieren. Und damit wären wir endlich bei dem Fundament allen Gesellschaftslebens, der Notlüge!
“Lüge“ ist ein hartes Wort, die Abwandlung “Notlüge“ jedoch voll gesellschaftsfähig. Noch nie hat man gehört, dass jemand empört ausrief: „Pfui, Sie Notlügner!“
Ein berühmtes Sprichwort behauptet: „Ehrlich währt am längsten!“
Der Mann, der sich das ausgedacht hat (dass es eine Frau war, ist ziemlich unwahrscheinlich), hat bestimmt keine gesellschaftlichen Verpflichtungen gehabt.
Notlügen sind das Öl im Umgang mit Menschen. Man denke nur an die vielen Höflichkeitsfloskeln wie: „Danke, es schmeckt ganz ausgezeichnet, gnädige Frau!“ oder „Wie interessant!“
Oder noch mehr gelogen: „Es war ein wirklich reizender Abend!“
Die wörtliche Übersetzung würde ungefähr so aussehen: „Es schmeckt angebrannt und ist total versalzen, gnädige Frau.“ – „Ich habe mich noch nie so gelangweilt.“ – „Mein Gott, wäre ich an dem Abend bloß ins Kino gegangen!“
Ich halte absolute Ehrlichkeit im Umgang mit Menschen für eine Unmöglichkeit.
Vor einigen Jahren gab es einen Film, in dem sich alle Leute gegenseitig ehrlich sagten, was sie dachten. Deshalb war es einer der groteskesten Filme, die je gedreht
wurden. Durch ihre Ehrlichkeit gerieten die Hauptpersonen von einer furchtbaren Situation in die andere. Schreikrämpfe, Ohrfeigen und Depressionsanfälle jagten sich. Ein wirklich lehrreicher Film, schade, dass wir ihn nicht aufgezeichnet haben.
Die Notlüge ist nicht nur im Gesellschaftsleben unentbehrlich, sondern auch sehr nützlich zu seiner Beschränkung.
Wenn man nämlich alle die Krankheiten wirklich hätte, die man zur Vermeidung abendlicher Einladung vorgibt, läge man längst unter der Erde; - ausgenommen unsere liebe Freundin Marianne.
Wenn Marianne irgendetwas von einer neuen, natürlich interessanten Krankheit hört, zum Beispiel Alexithymie, bekommt sie diese sofort, nur schlimmer als alle Anderen! Sie ruft Gott und die Welt an, um von ihrem Leid zu erzählen. Dabei sind wir uns nicht ganz sicher, ob Marianne weiß um was es geht, sie findet nur das Wort Alexithymie so schick.
Ich muss dann zur Notlüge greifen weil die liebe Lydia abwehrende Gesten macht, wenn ich das Telefon übergeben will, was eine gewisse Kreativität erfordert, denn ich darf mich nicht wiederholen. „Ich bin gerade dabei, auf der lieben Lydias Wunsch, den neuen Sternenhimmel aus hunderten LED-Lampen in unser Auto einzubauen“, kommt gut. Allerdings hat Marianne dann einige Tage später auch einen Sternenhimmel für ihr Auto und sucht jemanden, der ihn ihr mal eben einbaut…
Oberhaupt hat keine Erfindung der Neuzeit die Notlüge so gefördert wie das Telefon!
Man sieht dem Gesprächspartner nicht ins Auge und kann umso leichter schwindeln. Man erzählt lang und breit von furchtbaren Kopfschmerzen, die man gar nicht hat, um sich vor einer Einladung zu drücken.
Das Seltsame aber ist, dass während des Telefonierens die Notlüge von einem Besitz ergreift und sich im Unterbewusstsein festsetzt. Mit dem Erfolg, dass der Notlügner nach Schluss des Gesprächs wie in Trance zum Arzneischrank wandelt und mindestens zwei Kopfschmerztabletten herunterschluckt, Marianne kann ein Lied davon singen, um nicht zu sagen ganze Arien.
Gegen unangemeldete, unangenehme Besuche gibt es jedoch ein wirksames Mittel:
Man öffnet die Tür nur einen Spalt und sagt nasal: „Kommen Sie nicht zu nahe! Ich habe die Grippe!“
Wenn man Pech hat, sagt der Besucher fröhlich: „Das macht nichts, ich habe sie auch!“, und drängt sich hinein. Dann hat man drei Tage später wirklich die Grippe.
Jeder von uns hat meistens mehrere Notlügen gleichzeitig laufen, wie ein Rennstallbesitzer seine Pferde. Einige laufen prächtig, und man gewinnt. Bei anderen setzt man zu und erlebt peinliche Momente.
Wenn Lügen kurze Beine haben, wie es so schön heißt, dann sind die Notlügen Tausendfüßler!
Ein versierter Notlügner muss Geistesgegenwart und ein gutes Gedächtnis haben, dann kann er das Gesellschaftsleben ohne Schaden an Leib und Seele überstehen.
Zum Schluss möchte ich noch das Musterbeispiel einer geistesgegenwärtigen Notlüge, die allerdings nicht direkt etwas mit gesellschaftlichen Verpflichtungen und schon gar nicht mit der lieben Lydia und mir zu tun hat, erwähnen:
Ein vorzeitig von der Reise zurückkommender Ehemann, bekanntlich die Kernfigur von gut und gerne fünfzig Prozent der Witze entsprechender Kategorie, über die ich mittlerweile erhaben bin, vermutet einen Liebhaber in der Wohnung und ein Geweih auf seinem Kopf. Er reißt alle Türen auf. „Hier ist er nicht!“
Er guckt unter das Bett: „Hier ist er nicht!“
Er durchstöbert jeden Winkel, immer wieder aufstöhnend: „Hier ist er nicht!“ Schließlich öffnet er den Kleiderschrank. Da steht der Gesuchte, mit einem erhobenen Revolver in der Hand. Geistesgegenwärtig wirft der Ehemann die Schranktür wieder zu und schreit wütend: „Und da ist er auch nicht!“
Diese Notlüge hat alles, was eine richtige Notlüge haben muss:
Sie bewahrt vor Streitigkeiten, sie ist geistesgegenwärtig und als Lüge nicht nachweisbar, denn wer will beweisen, dass er etwas gesehen hat?
Die Notlüge hat eine solide ethische Grundlage, denn sie wird ja auch manchmal als „fromme Lüge“ bezeichnet.
Sie dient ja dazu, dem lieben Nächsten unangenehme Wahrheiten zu ersparen.
Wir können uns mit ihr also mit gutem Gewissen durch das Gesellschaftsleben hindurch schlängeln.
Wer ihre Kunst noch nicht beherrscht, soll sich von seiner Gattin nach dem oben beschriebenen Muster fernsteuern lassen. Bei der lieben Lydia und mir funktioniert das jedenfalls, und das zeugt von einem gut eingespielten Paar.
 

herziblatti

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Hallo Hagen, gefallen mir gut, Deine theoretischen Ausführungen übers Lügen ;) das sind für mich die Grundlagen, aus denen eine konkrete, erzählte Geschichte entstehen sollte :) auf die ich gespannt warte und die ich mit noch mehr Vergnügen lesen werde. Bis dann - das herziblatti
 

Hagen

Mitglied
Hallo Heidi,

Danke für die Beschäftigung mit meinem Text.

…und nun zitiere ich doch mal:
das sind für mich die Grundlagen, aus denen eine konkrete, erzählte Geschichte entstehen sollte auf die ich gespannt warte und die ich mit noch mehr Vergnügen lesen werde.

Da nehme ich Dich doch mal beim Wort, denn diese Geschichten gibt es bereits!
Drei davon liegen bei Humor und Satire, es handelt sich um:
‚Als die Kiste im Flur stand,
‚Als die Bombe im Flur stand
und
‚Wellnessurlaub auf Paddinggartener Altendeich'.
Diese Wortmonster musst Du Dir aber nicht unbedingt antun; - Hauptsache es hat mir Spaß gemacht, besonders die Antworten bei Paddinggartener Altendeich, aber naja…

Und nun kommen wir zu der ‚Reinkarnationsgeschichte‘.
Das ist ein echtes Problem, denn es liegt unter Fantasy und Märchen.
Ich weiß auch nicht warum, aber das Ding habe ich am 14. 06. 2011! eingestellt. Wie doch die Zeit vergeht. Es heißt ‚immer ganz hinten‘.

Also dann, wir lesen uns!
Yours Hagen


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Stimme niemals ein Klavier in nassem Zustand!
 



 
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