Mama, spring!


Frau Klass liegt im Bett, den fünften Tag infolge. Sie ist unglücklich gestürzt und hat sich eine Rippe gebrochen. Der Pfleger, der ihr beim Aufstehen half, war dermaßen genervt, dass er sie mit Wucht ins Bett warf, das Bettgitter hochzog und versprach, wenn sie noch mal ausbüxen sollte sie an Händen und Füßen zu fixieren. Nun ist sie in Sicherheit, wie man hier die Freiheitsberaubung nennt. ,,Alles für ihr Wohlergehen, ihre Sicherheit Frau Klass“- sagte die Stationsschwester. Anna Gergardowna, so heißt Frau Klass mit Vor- und Vatername, gibt sich an diesem Desaster selbst die Schuld, sie hätte ihre Flucht besser planen sollen und nicht einfach auf das Fahrrad, das an der Hauswand angelehnt stand, steigen und zur Bushaltestelle radeln. Sie ist dann kurz vor der Haltestelle gestürzt. Frau Klass hatte sich vorgenommen sich für das nächste Ausreißen besser vorzubereiten, nun aber liegt sie eingesperrt hinter den Gitterstäben.

In der Residenz herrscht chronischer Personalmangel, dass ein langes Warten auf Hilfe nach sich zieht, Frau Klass hatte vor gut einer Stunde den Notrufknopf gedrückt, da sie zur Toilette musste, aber keiner kommt. Irgendwann ließ Schwester Sara sie, mit der Bemerkung, bis zum Abendbrot auf keine Hilfe mehr zu warten, aus ihrem Verließ. Sie gab Frau Klass einen Inkontinenzartikel, in der Residenz mied man den Ausdruck- Windelhose, Pampers, aber für Frau Klass war es gehopst wie gesprungen. ,, Auf den Ton kommt es an und nicht auf das Wort“- sagte sie immer. Der Ton war hier rau.

Die Pflegehelferin, die das Abendbrottablett abholte war so im Stress, dass ihr nicht auffiel, dass das Brotmesser fehlte. Frau Klass machte sich gleich nach dem Abendbrot mit dem Messer ans Werk, denn sie müsste den Bettgitterverschluss aufkriegen und zwar innerhalb von einer Stunde. Denn um zwanzig Uhr, da liegt die Spätdienst in den letzten Zügen (um zwanzig Uhr dreißig ist Feierabend) musste sie aus dem Haus sein. Anna Gergardowna, die ihr Leben lang allerlei Arbeit verrichten hatte müssen ; ob kochen, zimmern oder schreinern, wurde mit dem Bettseitenteil, das man hier vornehm ,,das Gitter" nannte, in ein paar Minuten fertig und verließ das Heim durch den Notausgang. Diesmal ging sie zu Fuß zur Bushaltestelle und erwischte so eben noch den letzten Bus. Dem Busfahrer, der nur noch seinen Dienstschluss im Kopf hatte, fiel die zerzauste, schweratmende alte Dame gar nicht auf, er verkaufte ihr eine Fahrkarte und brachte sie zum Bahnhof. Frau Klass folgte den Fahrgästen und stieg in einen Zug ein, sie hatte vor sich bei Schaffner ein Zugticket zu besorgen, konnte aber keinen Zugbegleiter ausmachen. Sie erkundigte sich bei einem Mitreisenden wo er sein Ticket gekauft hatte. ,,Online“- sagte er, aber was ,,Online“ zu bedeuten hatte wusste Frau Klass nicht und so wurde Anna Gergardowna ungewollt zur Schwarzfahrerin. Frau Klass war es egal wohin der Zug führ, Hauptsache weg von der auf Sicherheit bedachte Residenz. Der Zug sollte gegen morgen in Berlin ankommen, so viel hatte von ihrer Sitznachbarin erfahren können. Anna Gergardowna lehnte sich zurück und schloss die Augen.

Der Zug tauchte in die Nacht ein, die Landschaft flog an den fahrenden Waggons vorbei in die Zukunft hinein, bloß die Gedanken von Frau Klass reisten in die entgegengesetzte Richtung.

Ihr Mann Gerhard und sie hatten nur zwei Jahre ihr Eheglück genießen können, dann ist er an Tuberkulose gestorben, ohne seinen Sohn gesehen zu haben, der erst zwei Wochen später zur Welt kam. Sie hatte alles allein stemmen müssen, hatte bis zu ihrem fünfundfünfzigsten Geburtstag in der Kolchose gearbeitet und als sie gerade dabei war ihren Ruhestand zu genießen, ist das ganze Dorf plötzlich durchgedreht. Alle wollten so schnell wie möglich nach Deutschland auswandern. ,,Seid ihr von Sinnen"- hatte sie gemahnt- ,,uns braucht da doch keine Mensch“ . Frau Klass wollte nicht weg, sie wollte bleiben, aber als die Zugezogenen in einer Nachtaktion ihren Kartoffelacker geplündert hatten und ihr Überleben damit in Frage gestellt wurde, zog sie mit dem Auswanderungsstrom mit. In Deutschland war sie dann keine Rentnerin mehr, sondern eine Arbeitnehmerin und so putzte sie in einer Reinigungsfirma noch gut fünf Jahre lang. Der neue Rentenbescheid sicherte ihr achthundert deutsche Mark zu, womit sie auskommen musste, da sie eine Sozialwohnung bezog, am Strom und Gas sparte langte es ihr zum leben. Frau Klass war noch nie in einer Suppenküche gewesen, nicht weil es ihr peinlich gewesen wäre, sondern weil sie glaubte andere Menschen hätten es nötiger als sie. In der Residenz gab man 9 DM pro Person fürs Essen aus, als Anna Gergardowna das hörte hatte es ihr die Sprache verschlagen. ,, Wofür?“ fragte sie sich, sie habe kein einziges Mal was von der guten, deutschen Butter oder dem Griebenschmalz für ihre Schnitte abbekommen, ganz zu schweigen von der Sülze, die sie so gern aß.

Als Frau Klass in Deutschland das erste Mal zum Metzger ging und nach Schweineschwarten fragte, zeigte der Schlachter auf eine Schüssel, die auf dem Boden stand. ,,Die Abfälle sind da!“- brummte er. Sie hatte so viel davon mitgenommen, soviel sie tragen konnte und daraus leckere Sülze und Griebenschmalz gemacht. Seit dem ging sie jeden Monat ins Schlachthaus und bekam für ein paar DM die feinsten Sachen aus dem Abfallbehälter. Einmal hatte sie jemand gefragt, ob sie die Innereien für ihren Hund mitnahm, da hatte sie genickt. Anna Gergardowna ist auch noch nach ihrer Pensionierung weiter arbeiten gegangen, sie putzte in privaten Haushalten, um Geld für ihre Beerdigung zu haben. Bloß nicht dem Staat auf die Tasche fallen.

Im Winter ist sie dann beim Müllrausbringen gestürzt und hat sich die Hüfte gebrochen und nach der OP ging es dann los. Jeden Tag kamen irgendwelche Tanten vorbei: ob grüne, rote, blaue alle wollten das gleiche, nämlich für ihre Sicherheit sorgen. Sie malten Frau Klass in düsteren Farben aus was alles passieren könnte, wenn sie allein nach der OP, noch nicht richtig fit, in ihre Wohnung zurückkehren würde. Frau Klass schaltete auf Durchzug, bis eines Tages ein junger Mann an ihrem Bett erschien. Er sah aus wie ihr Grischka, Grischka war ihr Sohn gewesen, der eigentlich den Namen Gerhard getragen hatte (nach seinem Vater), aber weil die russische Lehrerin diesen Namen nicht richtig aussprechen konnte und ihr Sohn dadurch gehänselt wurde, hatte sie beschlossen die russische Version des Namens gelten zu lassen.

Der junge Mann, ein Sozialarbeiter, sprach nicht über ihre Sicherheit, er zählte auf was sie, Anna Gergardowna, in Zukunft, vorausgesetzt sie ziehe ins Heim, nicht mehr machen müsste; kein Putzen, kein Einkaufen, kein Kochen, kein Wäsche machen. ,,Und wer wird das alles bezahlen?“ -hatte sie wissen wollen. ,, Papa Staat“ -lachte er ,,ihre Rente wird natürlich draufgehen und dann, ein paar Anträge später, springt das Sozialamt ein". Frau Klass wurde warm ums Herz, sollte sie jetzt, im hohen Alter, doch noch für alle Entbehrungen, alle Strapazen entschädigt werden? Was Frau Klass schlußendlich dazu bewogen hatte in eine Seniorenresidenz zu ziehen, weiß sie selbst nicht. Nach dem Einzug brauchte sie sich wirklich um nichts mehr zu kümmern ,aber glücklich war sie trotzdem nicht; das Essen müsste zu bestimmten Zeiten eingenommen werden, egal ob man Hunger hatte oder nicht, genau so verhielt sich das beim Aufstehen und ins Bett gehen, alles nach festgelegten Zeiten. Am schlimmsten war das mit dem Trinken, am Ende das Monats liefen alle, außer der Putzfrau, mit einem Stück Papier in der Hand rum und notierten die Trinkmengen von jedem einzelnen Bewohner und wehe man kam nicht auf zwei Liter am Tag. Furchtbar. Frau Klass wusste nicht in welcher Schule diese Schwestern gegangen waren, gelernt hatten sie definitiv das Falsche. Ein alter Mensch braucht nicht mehr so viel Essen und Trinken wie ein junger, aber das bring mal diesen Menschen bei. Erst zwingen sie einen zwei Liter zu trinken und dann regen sie sich auf, dass wir alle Nase lang zum Klo müssen. Um das zu vermeiden, um Zeit zu sparen kam dann der Schlauch zum Einsatz, gefühlt jeder dritte Bewohner trug seinen Urin in der Handtasche. Nach einem Monat wohnen im Paradies bekam Frau Klass dann die Rechnung von 4.000 DM, sie ist sofort zur Heimleitung damit gewankt, um nachzufragen wo das ganze Geld herkäme, sie habe doch noch keine Anträge beim Amt gestellt. ,,Von ihrem Sparbuch, erst werden die Rücklagen aufgebraucht und erst dann springt das Amt ein“ -hatte die Hausleitung ihr erklärt. Anna Gergardowna war dermaßen geschockt gewesen, dass sie, ohne sich zu verabschieden das Büro verlassen hatte. Wenn das so weiter gehen würde, wäre sie in einem weiteren Monat mittellos und würde im Plastiksack beerdigt werden müssen. Grauenhaft diese Gedanke. (Frau Klass rechnete noch immer in DM, obwohl die Welt schon längst von einer anderer Währung regiert wurde) Als sie in der Nacht dann auch noch von Grischka geträumt hatte, der zu ihr gesagt: ,, Spring Mama!“ und sie dabei sehr traurig anschaute, fasste sie einen Entschluss.

Das Fallschirmspringen war ihr gemeinsamer Traum gewesen, als Ihr Sohn anfing zu studieren um sich zu einem Flugzeugingenieur ausbilden zu lassen, hatten sie die Idee gehabt Fallschirm zu springen. Aber dann kam der Afghanistaneinsatz dazwischen. Auf dem Bahnsteig hatte Grischka sie umarmt und gesagt: ,,Sobald ich zurück bin, springen wir“. Sie hatte durch den Tränenschleier auf ihn noch geschaut; er war groß, gut aussehend, hatte blondes Haar und blaue Augen, und sich von seiner Fröhlichkeit anstecken lassen. Sie hatte einen einzigen Brief von ihrem Sohn bekommen und dann nichts mehr. Drei Monate später kam der Zinksarg, begleitet von zwei Militärmännern, ins Haus. Der Sarg war verschweißt gewesen und so hatte Frau Klass keine Möglichkeit gehabt ihren Sohn das letzte Mal zu sehen. Gegen Abend hatte sie dann die Banja angeheizt und die Militärmänner, mit einem Birkenbesen ausgestattet, in den heißen Dampf geschickt. Dann noch schnell etwas zum Essen und eine Flasche Schnaps auf den Tisch gestellt und mit Hammer und Meißel bewaffnet in die Scheune gegangen. Der Deckel ließ sich bald zur Seite schieben und Frau Klass stand vor ihrem Sohn. Als sie sein blau verfärbt und aufgequollenes Gesicht sah, war sie sich noch nicht sicher, ob es Grischka war, aber als sie dann sein rechtes Hosenbein aufschnitt und mit den Fingern über seine harte, unregelmäßig verheilte Narbe fuhr, war sie sich sicher. Ich Sohn war mal, als er noch ein Kind war, über einen Zaun geklettert und an dem Zaunpfeil hängen geblieben, Grischka hatte ihr aber nichts von seinem Unfall erzählt, erst als sie beim Bettenmachen einen Eiterfleck auf dem Lacken entdeckt hatte, stelle sie ihn zu Rede. Sie sind dann zum Arzt, der die Wunde säuberte, aber wegen der Entzündung nicht nähen konnte und so ist die Wunde dann nach und nach verheilt. Anna Gergardowna hielt die ganze Nacht Totenwache am Sarg und als die Militärs morgens den offenen Sarg vorfanden, schlossen sie hektisch den Deckel, legten eine rote Fahne drüber und trugen den Leichnam zum Friedhof.

Frau Klass öffnete ihre Handtasche, um sich ein Bonbon zu holen, dabei streifte sie über einen kleinen Schlüssel, der mit einer Sicherheitsnadel am Innenfutter der Tasche befestigt war. Sie lächelte. Ihre Rückversicherung. Sie hatte ihr Haus an gute Leute verkaufen können und von dem Erlös ihre Ausreise nach Deutschland finanziert, sich 200 DM eingetauscht (mehr Devisen erlaubte die Regierung nicht) und den Rest des Geldes in eine Blechdose gelegt. Mit der Dose ist sie dann eines Abends zum Friedhof, zu ihren Männern gegangen , etwas Erde von Grischkas Grab abgetragen und die Dose in der Kuhle verscharrt. Danach die Gräber mit mehrjährigen Pflanzen gepflanzt und ihre Heimat verlassen.

Kurz vor ihrem Ziel fragte Frau Klass bei ihrer Sitznachbarin, ob es in Berlin eine Fallschirmspringschule gäbe. Die junge Frau tippte ein paar Mal in ein schwarzes Kästchen, das sie während der ganzen Fahrt nicht aus den Händen gelassen hatte und schrieb Frau Klass eine Adresse auf. Dann ging alles sehr schnell, eine Straßenbahn brachte Frau Klass zur einer Fallschirmspringschule, der junge Mann an der Information wollte nur wissen,, ob Anna Gergardowna genug Geld hatte und zwei Stunden später war sie schon in der Luft. Der Fallschirmmensch war so angetan von ihrem Mut gewesen, dass er sie noch zu einem günstigen Hotel führ.

Als morgens um zehn Uhr der Zimmerschlüssel nicht abgegeben war, keiner nach dem Klopfen die Tür öffnete, schloss der Hotelmanager die Tür auf und rief anschließend die Polizei. Unter dem Kopfkissen der reglos liegenden alten Dame fand man in der abgegriffenen Handtasche einen Personalausweis ausgestellt auf den Name Anna Klass, ein Portemonnaie mit einer Handvoll Münzen drin, ein schwarz-weiß Foto von einem jungen, hübschen Mann, ein Sparbuch mit 3.000 Euro Guthaben und einen kleinen Schlüssel, dessen Bestimmung so auch nicht geklärt werden konnte.
 
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