Man kann alles tragen

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Hera Klit

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Man kann alles tragen

Ich träumte von einem leichten Leben
als Fummeltrine in der Stadt.
In einer anonymen Wohnung
mit kleinem Südbalkon, die
Raum für Begegnungen bietet.
Ein Bermudadreieck der
Sehnsüchte sollte es sein.

Morgens im Café Ludwig an der Stadtkirche
eins, zwei Kaffee und eins, zwei
Butter Croissants und kleine
Plauschs mit reifen Herren, die noch
von Beziehungen träumen,
bevor die Stadtbücherei öffnet,
denn der Geist hungert doch auch immer,
trotz Wimperntuschenblick und Nylonaffinität.

Unerkannt im Karstadt nach
abgefahrenen Klamotten wühlen,
die man unmöglich tragen kann,
so papageienschrill.
Man kann alles tragen, wenn
niemand einen kennt.
Familienbesuche nur spärlich,
je nach Kalender,
was sich nicht vermeiden lässt.

Um den weißen Turm streifen
zum Füttern wohlgenährter Tauben,
dem „Langen Lui“ eine lange Nase zuwerfend.
Verstohlene Rendezvous im Rosenhöhenpavillon,
im Schein der verschwiegenen Abendsonne.
Was nicht sein darf, reizt ungemein.

Büchner hatte immer eine Leiter an die Gartenmauer
gelehnt, diese Vorsicht rettete sein Leben.
Dann ging er zu Fuß nach Zürich, um
sein Studium abzuschließen und zu lehren.

Egal, wo man sein oder bleiben will,
man braucht Gründe für die daheim.

Du musst nicht da sein,
wenn du anerkannte Gründe hast,
dann lieben sie dich trotzdem.
Dein Name fällt dann mit bewunderntem Unterton,
wenn du auf ihren Festen abwesend bist.

Die Grundlosen hassen sie.
Sie fühlen sich von ihnen beraubt und
verwünschen sie bei jeder Gelegenheit.
Sie zischen ihre Namen durch hassverkniffene Zähne
und ihre Flüche lasten schwer,
wie Nadelstiche in verfilzten Voodoo-Puppen.

Du brauchst vernünftige Gründe:
Wie Everestbesteigungen mit Gewichten an den Füßen
oder Weltumsegelungen in einer Nußschale ohne Paddel.
Triftige Männergründe eben.

Ein Leben zum Ausleben von
Transgenderleidenschaften
werden sie niemals akzeptieren.

Aber ich kann nur als der zurückkommen,
den ich auf meinem Wege fand:
Als dichtender, singender Philosoph
in Netzstrümpfen und Push-up-BHs.
Jagt ihn fort, wenn er euch zuwider ist,
er wird es euch danken.

Sicher liebe Mutter, ich kann oben wohnen
und ich kann da sein, um dir Haarspangen zu
reichen und dich zum Yogakurs zu fahren,
wie ich früher die Tochter zur Musikschule fuhr.
Derweil warte ich wie ein angeleinter Hund
vor dem Edeka oder ich fahre heim
und jäte Unkraut in deinem Garten,
den du mir jetzt schon schenken willst, um
mich an ihn zu binden.

Irgendwann wird es vielleicht
nötig sein, dem Pflegedienst die Tür
zu öffnen, auch das traue ich mir zu.
Ich tue es gerne, weil es gut und richtig ist,
aber nenne mich bitte nicht wieder Hans,
an diesem Namen trage ich zu schwer.



 
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Mitglied
Oh, ja. Danke fürs Hochholen, revilo!

Ein starker Text, liebe Hera!

Die Grundlosen hassen sie.
Sie fühlen sich von ihnen beraubt und
verwünschen sie bei jeder Gelegenheit.
Sie zischen ihre Namen durch hassverkniffene Zähne
und ihre Flüche lasten schwer,
wie Nadelstiche in verfilzten Voodoo-Puppen.
Das find ich besonders stark - bloß die Zähne sind ja nicht verkniffen, die Lippen wohl eher.
Mit Zähnen, und was die alles Fieses können, kenn ich mich leider gut aus. Die kneifen nicht. Die tun einfach nur schweine-weh. Die hassverkniffenen Lippen kenn ich aber leider auch. Die tun mindestens genauso weh.

Toller Text! Ich kann's gar nicht oft genug sagen.

LG,
fee/Claudia
 

Hera Klit

Mitglied
Oh, ja. Danke fürs Hochholen, revilo!

Ein starker Text, liebe Hera!



Das find ich besonders stark - bloß die Zähne sind ja nicht verkniffen, die Lippen wohl eher.
Mit Zähnen, und was die alles Fieses können, kenn ich mich leider gut aus. Die kneifen nicht. Die tun einfach nur schweine-weh. Die hassverkniffenen Lippen kenn ich aber leider auch. Die tun mindestens genauso weh.

Toller Text! Ich kann's gar nicht oft genug sagen.

LG,
fee/Claudia
Vielen Dank, liebe Claudia.

Liebe Grüße
Hera
 
G

Gelöschtes Mitglied 20513

Gast
Hallo Heraklit,

dieses Gefühl des arroganten westlichen Betrachters, der kein anderes Lebensgefühl kennt, als dieses kleine Dasein, in das er gezwungen ist, eine genaue, gekonnte Beobachtung, Was bleibt ihm auch angesichts dessen, was rings um ihm geschieht? Er hat Sehnsucht nach dem wirklichen, dem echten Leben, das irgendwo existieren müsste. Jetzt aber vertreibt er lediglich seine Lebenszeit, es gibt keinen Ausweg. Das hast du sehr gut herausgearbeitet. Man liest es aus jeder Zeile, obwohl es nirgends erwähnt wird.

Stilistisch hast du zum schnoddrigen Ton Jugendlicher gegriffen, was dem Inhalt entspricht. Ein unreifer Mensch, der angewidert ist vom Geschehen der Zeit,
der sich gehoben-infantil ausdrückt, weil er es nicht anders kann, ihm fehlt noch Lebenserfahrung, aber was er erfahren hat, reicht ihm bereits. Er will nicht mehr erfahren, diese Welt hat ihm ja auch nichts anderes zu bieten.

Nach 1990 lernte ich einige Westberliner kennen, die genau so ihren Status sehen, ein Wurm in dieser Welt, die nicht wissen, warum sie so leben müssen, wie sie müssen, aber von mir, der Ostdeutschen, vermutlich erwarteten, ich könnte ihnen ein anderes Lebensgefühl vermitteln. Was ich natürlich nicht konnte, denn der Mensch wächst an seiner Umwelt, und ich war in ihre Umwelt hineingeworfen worden, und nicht sie wurden in meine Welt, die ich verloren hatte, aufgenommen. Ich konnte ihnen natürlich nicht die Umwelt schaffen, die dies ermöglicht hätte. Ich hätte ihnen sagen können, dass es der Kapitalismus ist, der sie so verzweifelt gemacht hat, aber sie hätten das gar nicht verstanden. Sie glaubten ja, ich käme aus einer Diktatur und sei froh, ihr entronnen zu sein, und sie ahnten noch nicht mal, dass es die Diktatur der arbeitenden Menschen über den Kapitalismus war. Es waren immer schwierige Gespräche, wobei ich mich vorsehen musste, um nicht allzu deutlich zu werden. Wenn ich Einzelheiten aus meinem bisherigen Leben offenbart hätte, sie hätten das als östliche Propaganda aufgefasst. Und jetzt lese ich dieses Gedicht, und ich erinnere mich an diese Gespräche.

Dieses vertane Leben, dieses Lebensgefühl hast du sehr gut rübergebracht. Du hast aber nur eine Bestandsaufnahme gemacht, von Ausbrechen aus dieser Zwangsjacke sehe ich nichts. Sicher eine Frage der Gewöhnung. Aber dieses gewohnte westliche Lebensgefühl hast du sehr gut seziert.

Lieben Gruß, Hanna
 
aber nenne mich bitte nicht wieder Hans,
an diesem Namen trage ich zu schwer.
Wie die Vorredner schon sagten ... ein starker Text ... Hera,

Als Hans-Betroffener muss ich trotz der Schwere des Textes auch etwas Zerstreuung einbringen .... ich war oft unzufrieden und habe mich gefragt welcher Schalk meine Eltern damals bei der Namensgebung geritten hat. Mir fällt der Zarah Leander Song "Waldemar" ein, wo sie sich wünscht, dass der Richtige doch Ralf oder Peer heißen müsste und so ging es mir viele Jahre auch, bis sich vom Gewöhnungseffekt ein fatalistisches "Is halt so" eingestellt hat.

Und heute? Ist es für Ralf oder Peer zu spät.
Beislgrüße
.
 
Hallo Hannah,


dieses Gefühl des arroganten westlichen Betrachters, der kein anderes Lebensgefühl kennt, als dieses kleine Dasein, in das er gezwungen ist, eine genaue, gekonnte Beobachtung, Was bleibt ihm auch angesichts dessen, was rings um ihm geschieht? Er hat Sehnsucht nach dem wirklichen, dem echten Leben, das irgendwo existieren müsste. Jetzt aber vertreibt er lediglich seine Lebenszeit, es gibt keinen Ausweg. Das hast du sehr gut herausgearbeitet. Man liest es aus jeder Zeile, obwohl es nirgends erwähnt wird.
ich glaube, deine Interpretation geht ziemlich am Gedicht vorbei...in jeder Zeile wird nämlich genau das erwähnt, worum es der Autorin geht - man kann den Text durchaus wörtlich verstehen.

LG SilberneDelfine

Hallo Hera,

Egal, wo man sein oder bleiben will,
man braucht Gründe für die daheim.

Du musst nicht da sein,
wenn du anerkannte Gründe hast,
dann lieben sie dich trotzdem.
Dein Name fällt dann mit bewunderntem Unterton,
wenn du auf ihren Festen abwesend bist.
Ja, es ist traurig - das hörte ich auch einmal von einer mir bekannten Transe - dass sie nicht gerne auf Familienfeiern geht, weil da keiner etwas weiß oder auch nur ahnt und sie als Mann auftreten muss. Die daheim würden es nicht verstehen - wären wahrscheinlich sogar brüskiert.


aber nenne mich bitte nicht wieder Hans,
an diesem Namen trage ich zu schwer.
Man kann es gut nachempfinden.

Starker Text, klasse Schlusssatz!

LG SilberneDelfine
 

Hera Klit

Mitglied
Hallo Hannah,




ich glaube, deine Interpretation geht ziemlich am Gedicht vorbei...in jeder Zeile wird nämlich genau das erwähnt, worum es der Autorin geht - man kann den Text durchaus wörtlich verstehen.

LG SilberneDelfine

Hallo Hera,



Ja, es ist traurig - das hörte ich auch einmal von einer mir bekannten Transe - dass sie nicht gerne auf Familienfeiern geht, weil da keiner etwas weiß oder auch nur ahnt und sie als Mann auftreten muss. Die daheim würden es nicht verstehen - wären wahrscheinlich sogar brüskiert.




Man kann es gut nachempfinden.

Starker Text, klasse Schlusssatz!

LG SilberneDelfine
Vielen Dank, liebe SilberneDelfine.

Liebe Grüße
Hera
 

Hera Klit

Mitglied
Wie die Vorredner schon sagten ... ein starker Text ... Hera,

Als Hans-Betroffener muss ich trotz der Schwere des Textes auch etwas Zerstreuung einbringen .... ich war oft unzufrieden und habe mich gefragt welcher Schalk meine Eltern damals bei der Namensgebung geritten hat. Mir fällt der Zarah Leander Song "Waldemar" ein, wo sie sich wünscht, dass der Richtige doch Ralf oder Peer heißen müsste und so ging es mir viele Jahre auch, bis sich vom Gewöhnungseffekt ein fatalistisches "Is halt so" eingestellt hat.

Und heute? Ist es für Ralf oder Peer zu spät.
Beislgrüße
.
Der Name Hans ist ok, wenn er nicht der Name des Vaters ist, lieber Hans.

Liebe Grüße
Hera
 



 
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