Man kann nie nich wissen

H

HFleiss

Gast
Man kann nie nich wissen


Das Jahr neigt sich, wie sich mein Leben neigt. Was heißt neigt – es marschiert, jeder Schritt ein Jahr, 65 Schritte, in den letzten zehn Jahren bemerkenswert schnell, beinahe Galopp. Die alten Leute redeten vor fünfzig Jahren davon, und nun muss ich den Mund halten, will ich nicht ins selbe Zetern ausbrechen.

Ein Rückblick aufs Jahr will geschrieben sein, dieses verflossene, verlorene, vergebliche 2006. Tatsächlich, keine erwähnenswerten Höhepunkte, ich blättere in Kalender und Tagebuch – nichts Bemerkenswertes.

Und während ich schon ratlos bin, was hineingehört ins vergangene Jahr, wird vor meinem Balkon der Rasen gemäht, durchdringend, der Ton geht mir durch Mark und Bein. Die erste Reaktion: Aufspringen, Fenster schließen. Auf halbem Weg halte ich ein: Nein, das Fenster wird nicht geschlossen, ich brauche Frischluft auf meine alten Tage. Aber ich könnte mich bei der Wohnungsverwaltung beschweren, so war der Mietvertrag nicht ausgemacht, lautstarke gewerbliche Tätigkeiten auf dem Hof. Aber ich hole mich wieder herunter von der Birke, da hat jemand die so rare Arbeit, soll er doch sein Werk vollenden, falls es sein muss, bis der Rasen unterm Rasen ist. Wenn unser Rasen nur nicht so gigantisch wäre.

Der Januar: vergangen, vergessen, nicht gewesen. Neujahr allein in der Wohnung, Spaziergang, Stöckchen gesammelt, als Halt für die Pflanzen in den Blumentöpfen. Der Februar, Kaltmonat, das Leben friert. Der März nicht anders, trist, sogar geschneit hat es noch einmal, der Winter ist wiedergekommen. Ein langer Winter dieses Jahr, zu lang für mich, im Fernsehen sehe ich mir zwei Stunden lang den Reisesender an: Sonne, Strandkörbe, Palmen. Gleich wird mir wieder wärmer.

Der Mai. Aha, ein Höhepunkt. Moritz und Cookie, die beiden jungen Katerchen, meine neuen Hausgenossen. Ich habe sie für achtzig Euro in Neukölln gekauft, in einer Tierhandlung. Naja, eigentlich sollte es nur Moritz sein, Moritz der Schwarze mit den weißen Pfötchen und der Perserkatzenmutter. Aber dann saß er zwei Tage lang bewegungslos unter der Couch, fraß nicht, miaute nicht, war einfach da und beobachtete mich. Das Tier wird mir neurotisch, Himmel, das Moritzchen braucht einen Gleichgescheckten, schwarz-weiß. Also noch mal zurück nach Neukölln, Cookie mitgebracht, schlank, ein Rennpferd in Katzengestalt, eine Siamkatze unter den Vorfahren. Moritz, kaum den Neuankömmling sehen, taute auf, er wagte sich ans Tageslicht. Mit gravitätischen Schritten näherte er sich einschüchternd der Konkurrenz. Als Begrüßung ein Hieb in die Seite. Und ehe ich begriff, hatten sich meine Katerchen in der Wolle. Und es ging zur Sache, Miauen und Fauchen, Leben in der Bude.

Juni. Ich habe angefangen, in alten Papieren zu wühlen. Fotos der Großeltern, Stammbuch der Eltern. Religion: evangelisch. Ein allesentscheidender Eintrag, verbunden mit Leben oder Tod in diesem Jahr zweiundvierzig. Dann die Großmutter mit ihrem breiten lieben Gesicht als junge Frau. Tja, damals gab es die Standardkleidung Pullover und Jeans noch nicht, es muss Stunden gedauert haben mit dem Zuknöpfen, bis sie endlich ausgehfertig war. Das Hochzeitsfoto meiner Eltern: Ich erkenne ein paar Tanten, zwei Onkel. Ein Mann mit Hakenkreuzbinde und Hitlerbärtchen, am Rande stehend, als ob er die Hochzeitsgesellschaft überwachte, wer war das? Fragen kann ich niemanden mehr, die einzige, die mir eine Antwort geben könnte, meine Mutter, lebt nicht mehr. Ich ärgere mich, warum hat sie mir die Fotos nicht gezeigt? Jetzt, weil ich die meisten Hochzeitsgäste auf dem Foto nicht erkenne, sind auch sie tot, für immer, mein Gedächtnis wird die Erinnerung an sie nicht weitertragen können. Tante Lianes Erbstück, ein Stickbild, Wasserlandschaft nach einem holländischen Gemälde, habe ich aufgehängt, in der Nähe des Fensters, damit man die Mühe besser sieht, mit der es hergestellt wurde.

Juli, Monatsende, mein Geburtstag. Ich fahre mit meinen Jungs über den Wannsee, auf einem Dampfer, der auf der Warnow-Werft 1978 gebaut wurde. Der Kellner scheint leicht betrunken, im Nebenjob Unterhaltungskanone, wir bestellen Eis und Kaffee. Nach zwei Stunden Spaziergang entlang der Havel, von Nikolskoe, bis wir an ein Gartenlokal mit bekanntem Namen und längerer Berlin-Geschichte kommen. Ein sehr sonniger Tag, Sohn R. hat uns hergefahren, er trinkt keinen Alkohol, D., mein arbeitsloser Ältester, macht sich sowieso nichts aus Sekt, Frau und Enkelin sind verhindert, es ist ein Werktag, und der Jüngste ist wieder mal im Krankenhaus, K. hat schüchtern abgesagt, er sei zu befangen vor den Söhnen, es ist mir recht. Ich stoße mit mir selbst an. Mit der Verwandtschaft verbindet mich wenig, sie hat noch nicht mal eine Karte geschrieben, wozu sie einladen. Ein schöner Tag mit den Kindern. Viel zu selten sehe ich sie.

August. Vergangen, verweht. Kein Eintrag im Tagebuch. Geschehen ist etwas, aber was?
Ich komme nicht drauf. Ich habe mir ein Fahrrad gekauft. Gefahren aber bin ich damit noch nicht, ich habe Angst im Großstadtverkehr, man liest soviel von toten Radfahrern.

September, Ende September, Umzug in die neue Wohnung, die ein Zimmer mehr hat und einen Balkon für die Katzen, für mich den Fahrstuhl. Ein elfstöckiger Plattenbau, picobello saniert, wärmegedämmt, ich merke es jetzt im Dezember, ich muss noch nicht heizen, zweiundzwanzig Grad reichen mir. Die elende Packerei, ich brauche Wochen, bis alles an seinem Platz steht. Die Schrankwand baue ich mir selbst zusammen, die braunen Zimmertüren werden weiß gestrichen, noch bin ich damit nicht fertig. Es dauert eben, wenn man sich einbildet, dass nicht mehr allzuviel kommt.

November, grauer Monat. Dieses Jahr stimmt es nicht, Sonnentage wie einst im Mai. Die Meteorologen sind besorgt, lese ich. Der Klimawandel hat schon längst begonnen, alle Berechnungen sind über den Haufen geworfen.

Die Katerchen sind halberwachsen und entdecken ihre Möglichkeiten. Neulich ein Kratzen im Flur, ich schaue nach. Moritz hängt eingekrallt in die Tapete im Türrahmen der Küche, ganz oben. Ich bin sprachlos. Nicht lange, und ich werde den Flur tapezieren müssen. Cookie, der Musterknabe, steht triumphierend dabei: Er hat nichts Schlimmes getan. Zwei Minuten später, ich bin ins Zimmer gegangen, hat auch Cookie das Wagnis versucht. Diesmal finde ich Worte. Moritz miaut mit unschuldiger Miene und streicht mir um die Beine. Alles, alles vergeben und vergessen. Bis zum nächsten Mal.

Im Oktober sehe ich mir die Arbeitslosenzahlen im Fernsehen an. Noch immer fünf Millionen. Aber die Augen der Herrschaften auf dem Podium und im Saal leuchten, die Zahl ist leicht rückgängig, ein Erfolg der guten Wirtschafts- und Druckpolitik Merkels, Ein-Euro-Jobs gelten als vollwertige Arbeitsstelle.

Der Rentenberater, dem ich im Mai meinen Rentenbescheid vorgelegt hatte, nickte: Wie gedacht, Sie haben gute Chancen, den Prozess zu gewinnen, diese und jene Regelung für Rente-Ost ist nicht berücksichtigt worden. Seitdem warte ich auf eine Reaktion der Rentenstelle. Die Miete in der neuen Wohnung ist nicht von Pappe.

Hurra, ich habe einen Preis gewonnen für eine Geschichte! Hundert Euro hängen dran.
Mein allerallererstes Honorar. Ich kann das Geld gut brauchen, der Umzug war happig.
Hoffentlich ist es kein Irrtum.

Dezember, Anfang Dezember. Ich sitze am Computer, gestört von diesem verdammten Rasenmäher. Der Monat ist noch nicht zu Ende, Überraschungen sind möglich. Trotzdem, einen Haken ans Jahr, voreilig, mit schlechtem Gewissen, man kann nie nich wissen.

In den nächsten Tagen gehe ich wieder zu meinem Verein, ein Vortrag über den Jihad. Und an einem Sonntag Weihnachtslieder singen, ich singe viel zu selten, meine Stimme ist beinahe eingerostet. Weihnachten wird still vergehen. Sohn R. ist in München, ruft alle Woche an, wie es mir denn so ginge, er ist unabkömmlich, auch zu Weihnachten, gerade zu Weihnachten erwartet das Theater, bei dem er beschäftigt ist, volle Kassen. D. will vorbeikommen, und der Jüngste auch. Ein paar kitschige Grußkarten für die Verwandtschaft. Silvester stoße ich mit K. an, ich mache mir nichts aus dem Trubel, zu Hause ist es auch ganz nett. Hoffentlich, ich habe da Bedenken, erschrecken mir meine Katerchen nicht zu Tode bei dem Geknalle, es ist ihr erstes Silvester.

War es wirklich vergeblich, dieses verflossene 2006? Wer soll das schon wissen. Es war Leben, es war mein Leben und das aller, die das Glück hatten, das Jahr zu überleben. So unendlich viele Menschen hatten dieses Glück nicht.

Und am ersten Januar, wenn sogar Aldi teurer wird wegen der Mehrwertsteuer, gehe ich wieder durch die Straßen – und sammle Haltestöckchen für die Blumentöpfe, man kann nie nich wissen.

P.S. Nix los hier, möchte man sagen. Beinahe kriege ich ein schlechtes Gewissen, dass ich gleich zwei Beiträge eingestellt habe. Vielleicht ein bisschen mehr Propaganda?
 
N

nobody

Gast
"Nix los hier?" In die "Schreibaufgabe" verirren sich nicht allzu viele Leser, fürchte ich. Da geht eine Geschichte wie diese hier (Geschichte?) einfach unter. Ich hätte ja gerne etwas dazu gesagt, aber ein Gefühl hält mich davon ab - ein Gefühl, das mir sagt: Da hältst du besser dein vorlautes Maul. Das ist eine leise Geschichte, die verträgt keinen "Kommentar". Schon gar nicht von mir. Die soll man einfach so stehen lassen, wie sie ist, und auf sich wirken lassen.

Jetzt habe ich doch wieder mein vorlautes Maul aufgemacht.
Gruß Franz
 



 
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