Man trifft sich immer zweimal

Die Regenzeit liegt wie ein feuchtheißes Tuch über Mexiko, über dem Land und dessen Bewohner. So auch in Puerto Escondido an der Pazifikküste weit im Süden des Landes. Nicht einmal Hardcore-Surfer aus Kalifornien sind dann am Strand anzutreffen. Ich mag diese Zeit dort. Entgegen der Vorstellung vieler, regnet es in dieser Zeit durchaus nicht ununterbrochen. Auch nicht täglich rund um die Uhr. Es ist eine Zeit der Stille. Meditativ, und nur unterbrochen vom Tosen der Brandung, die mit urgewaltiger Wucht rhythmisch auf die leeren Strände rollt.

Ich hatte an einem solchen Abend eine Regenpause genutzt, um die wenigen Meter von meinem Hotel trockenen Fußes in meine Lieblingsbar, El Lugar, zu gelangen. Ich hing in diesem pittoresken Badeort seit ein paar Tagen fest. Die Straße in die Provinzhauptstadt Oaxaca sollte in Kürze wieder befahrbar sein. Von dort wollte ich zurück in die Bundeshauptstadt weiterreisen. Ich fühlte mich gut. Meinen Auftrag, eine Foto-Dokumentation über Siedlungsanlagen aus der präkolumbianischen Epoche zu erstellen, hatte ich erfolgreich beendet. Im El Lugar angekommen, genehmige ich mir ein gut gekühltes Cerveza Pacifico gegen den stechenden Durst; danach eine perfekt gemixte Margarita. Entspannung pur.

Vom Eingang weht ein schwüler Windhauch in den schwach besetzten Schankraum, ein neuer Gast betritt die Bar: europäischer Typ, so scheint es, ungefähr in meinem Alter. Als er sich mit dem Barkeeper unterhält, klingt er wie ein Einheimischer: ein ruhiges, klar artikuliertes Spanisch in dem für Mexikaner typischen Tonfall, angereichert mit einigen Idiomen, wie sie nur hier verwendet werden. Wir kommen ins Gespräch. Der neue Gast merkt schnell, dass er es mit jemanden zu tun hat, der nicht in der Sprache der Einheimischen zuhause ist. Übergangslos wechselt er ins Deutsche; er hat diese Zugehörigkeit sofort an meinem Akzent erkannt. Für mich ist es so auch einfacher. Es entwickelt sich ein munteres Tresen-Gespräch, das erfreulicherweise auch manche Tiefgründigkeit erreicht. Carlos, so stellt sich mein Gesprächspartner vor, lebt seit gut zwanzig Jahren in Mexiko, und hat seither seinen Lebensmittelpunkt hier im Lande, daher auch die perfekte Sprachbeherrschung. Eigentlich hieße er ja Karl-Heinz, einer der Vornamen, unter dem früher eine ganze Generation von Jungen gelitten hat, erklärt er lachend. Carlos passe besser, finde auch ich. Er fügt hinzu, man habe ihn in Deutschland auch schon einmal einen 'Fremdsprachenidioten' genannt; für mich kaum vorstellbar.

Carlos erweist sich als sehr redselig und bestreitet dann auch den größeren Teil unserer Unterhaltung. Und während ich ihm zuhöre, kommt mir irgend etwas an ihm bekannt vor. Ich meine, die Andeutung eines Berliner Dialekts herauszuhören. Er erklärt mir, nein, in Berlin habe er nie gelebt, aber in dem nicht weit davon entfernten Neu-Ruppin, in der damaligen DDR, sei er aufgewachsen, da spräche man eine ähnliche Mundart. Klingt plausibel. Aber trotzdem, irgendwas erinnert mich bei ihm an vergangene Zeiten. Wir unterhalten uns prächtig, wir lachen viel. Dann schießt mir ein Gedankensplitter ins Hirn: der Ausdruck 'Fremdsprachenidiot', den er eben vorher benutzt hat. Den gibt es im normalen Sprachgebrauch gar nicht und den habe ich auch nur einmal, und das vor langer Zeit in Berlin vorher gehört. Ich starre ihn an, nun ist die Erinnerung im Klartext wieder da. Ich stoße ungläubig hervor: „Stefan Kettler, Kette“, so wie ihn früher alle nannten, von wegen Karl-Heinz!

Den vom puren Entsetzen verzerrten Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen, auch nicht sein zur Fratze gewordenes Gesicht. Vergessen habe ich auch nie die Schlagzeile einer großen deutschen Boulevardzeitung aus jenen Tagen:

MORDFALL SIBYLLE R. - TÄTER FLÜCHTIG!

Er erkennt mich jetzt auch wieder: „Du?“!

Das ist das einzige, was er hervorbringt. Stefan Kettler hatte damals meine Ehefrau Sibylle, seine frühere Freundin, im Streit erschlagen, ob im Affekt, ist nie geklärt worden. Sie hatte sich seinerzeit auf sein Drängen hin geweigert, zu ihm zurückzukehren. Und Sibylle war es auch gewesen, die ihn in damaligen gemeinsamen Zeiten, in meinem Beisein, 'Fremdsprachenidiot' genannt hatte. Wie banal und gleichzeig makaber es klingt, „Man trifft sich immer zweimal im Leben.“

Kettler springt voller Panik vom Barhocker, er hastet zum Ausgang. Nach einer Schrecksekunde eile ich ihm hinterher. Ich folge dem Mörder meiner Ehefrau in die Dunkelheit.
 
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Rachel

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Hallo Horst, also auf der reinen Unterhaltungsebene war ich angetan und am Ende mit schöner Gänsehaut bestückt. Als es nachdenklicher wurde, fand ich die Möglichkeit, sich am Ende der Welt einfach so, nach Jahr und Tag, über den Weg zu laufen auch noch einigermaßen möglich. Dass es dann ausgerechnet der Mörder der eigenen Ehefrau sein soll, war schon schwieriger.

Aber: Dass er so lange braucht, bis er sich endlich vollständig erinnert, kann ich nicht recht glauben, zumal der Ausdruck "Fremdsprachenidiot" ein sehr markanter ist. Aber vor allem, meine Hauptzweifel, handelt es sich schließlich bei dem Mordopfer nicht um die Frau des Nachbarn oder Kollegen, sondern um die eigene. Hätte da nicht die Erinnerung augenblicklich da sein müssen? Liebe Grüße
 
Moin Rachel, es freut mich, dass dich meine Geschichte emotional angesprochen hat. Die Story ist in der Tat auf der Unterhaltungsebene angesiedelt. Ja, auch erzählte Unterhaltung sollte authentisch klingen. Ob ein schwach ausgeprägtes Langzeitgedächtnis hier genügt, mögen Leser so oder so bewerten. Die Geschichte als solche funktioniert damit - meine zumindest ich. Liebe Grüße. Horst
 

Rachel

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Es funktioniert, ja ... liegt auch daran, dass deine Erzählstimme und dein Schreibstil wunderbar sind und zur Geschichte passen. :)
 



 
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