Manches vermisst man erst, wenn man es nicht mehr hat.

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Nostoc

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„Manches lernt man erst zu schätzen, wenn es nicht mehr da ist.“ Diesen Gedanken wiederholte ich immer und immer wieder in meinem Kopf. Ich war traurig, wütend, verzweifelt. Wie konnte mir das nur passieren? Ich war doch immer sorgsam gewesen, hab mich immer darum gekümmert, dass wir keinen Mangel hatten. Aber nun ja, ich bin jetzt 49 Jahre alt, wir haben schon so viel Zeit miteinander verbracht, mal mehr, mal weniger intensiv, mal seltener, mal häufiger. Aber wenn wir Zeit miteinander verbrachten, war es immer wichtig, beieinander zu sein. Ohne schien es mir bis heute immer unmöglich, absurd, ja widerwärtig.

Für andere schien es immer einfach zu sein, keine große Sache, Kleinigkeit. Aber mir war es jetzt passiert. Ich hatte vom einen zum anderen Moment nichts mehr. War ich schon zu abgestumpft? Wollte nur noch raus aus diesem ewigen Trott? Hab dann einfach nicht mehr darüber nachgedacht? Geschah mir wahrscheinlich recht. Dazu kam, dass seit Jahren die Leute ja von nichts anderem mehr sprachen. „Du musst darauf achten!“ sagte zum Beispiel mein Bruder immer wieder. „Und wenn es mal weg ist“, sagte er, „bekommst Du es wahrscheinlich so schnell nicht wieder.“ „Jaja“ hatte ich immer gedacht. MIR passiert das doch nicht. Da war ich immer souverän. Naja früher zumindest.

Es klingelte an der Tür. Verflixt! Mein Freund Marcel wollte ja vorbeikommen. Wir wollten zusammen eine Fahrradtour in den Rheingau machen und hatten uns für heute nachmittag verabredet. Natürlich konnte ich ihm in meiner momentanen Situation nicht einfach die Tür aufmachen. Was sollte er denn denken? „Alex, wie siehst Du denn aus?“ würde er wahrscheinlich fragen. „Was ist passiert?“ Ich würde ihm später alles erzählen, dachte ich. Ich konnte ja auch gar nichts tun. Es klingelte erneut. „Ding, dong, ding, dong!“ In diesem Moment fragte ich mich zum ersten Mal, warum ich eigentlich unbedingt eine Türklingel haben wollte, die wie BigBen in London klang. Warum kam mir der Klang heute so besonders laut und eindringlich vor? Fast fühlte ich mich verhöhnt von dem fröhlichen Klang der Glocken. Es klingelte ein drittes Mal. Ich kannte Marcel nun schon lange genug, um zu wissen, dass er unten vor dem Haus stand und sich wunderte, warum ich nicht öffnete. Gleich würde er mich auf dem Handy anrufen. Dann konnte ich ihm entweder alles erklären oder es einfach klingeln lassen. Ich stützte den Kopf auf meine Hände und seufzte, als ich merkte, dass das Handy in der Küche lag.
„Manches lernt man erst zu schätzen, wenn es nicht mehr da ist.“ Wieder dieser Gedanke. Aber ich konnte nicht aufstehen. Aus dieser Situation entfliehen, so gerne ich es auch täte. Einfach hinausgehen, Marcel treffen und ihm sagen „Alles okay, mein Freund! Lass uns los, in die Pedale treten!“ Das ging jetzt nicht mehr, dachte ich niedergeschlagen. Ich hatte schon häufiger gehört, dass es Menschen gab, die in solchen verzweifelten Situationen Hilfe anboten. Nicht kostenlos, aber he was soll’s, es gibt Wichtigeres als Geld! „Wenn es nicht mehr da ist!“ Ja soweit war ich jetzt. Würde ich es je wiederbekommen?
„Komm jetzt hör mal auf zu jammern, ist ja jetzt kein Weltuntergang!“ Das war die eine Stimme in meinem Kopf. „Ja aber, was soll ich denn jetzt machen?“ Das war die andere Stimme, die mit dem etwas weinerlichen Unterton in meinem Kopf. Die zwei ständigen Widersacher, Sieger und Besiegter, Aktiv und Passiv, A- und B-Hörnchen oder wie man sie auch immer nennen wollte. Sich nicht unterkriegen lassen, das wäre doch genau jetzt die richtige Strategie, oder? Wo ist der Plan B, die Notfall-Strategie? Mit Notfällen kannte ich mich beruflich aus, aber all das Wissen half mir hier rein gar nichts. Das hatte ich sofort gemerkt, als mir der Satz zum ersten Mal durch den Kopf schoss wie eine Kugel aus einem Gewehr. Diese Kugel traf mein Selbstwertgefühl, mein tiefstes Inneres. Diese Kugel verdammte mich dazu, hier an diesen Ort gefesselt zu sein. Verzweiflung stieg in mir auf. Mein Körper begann inzwischen zu schmerzen. Ich verkrampfte mich immer mehr, gefangen in dieser misslichen Lage.
Allmählich packte mich der vielzitierte Mut der Verzweiflung. Ich würde das Problem jetzt anpacken und ihm den Garaus machen. Ich musste mir eine Strategie zurechtlegen. An mir arbeiten. Vielleicht mich mit anderen über das Thema austauschen, sofern ihnen das auch schon einmal passiert war. Doch wie fand man Menschen, denen das Gleiche passiert war wie mir? Es gab ja bestimmt keine Selbsthilfegruppe, wo man sich im Stuhlkreis hinsetzte und dann loslegte „Also passt mal auf, ich erzähle Euch jetzt mal, was mir passiert ist…“ Demütigend. Absolut demütigend wäre das. Ich konnte die anderen schon Lachen hören. Ich verdrehte die Augen. Nein, so ging es nicht. Ratgeber! Ein Ratgeber aus dem Buchladen musste her! Im Studium hatte ich eine Kommilitonin, die hat zu allem, wovon sie noch nichts wusste, erst mal ein Buch bestellt und gelesen. Das war die Idee! Ich überlegte mir schon Suchworte, wie ich nach dem Ratgeber im Internet fahnden würde. Eine Recherche bis ins kleinste Detail würde das werden, ich würde nichts auslassen, in jeden Winkel des Internets hineinleuchten und die Erkenntnisse ans Licht zerren, die ich benötigte.
Aber würde ich es jemals schaffen, überhaupt nur damit anzufangen? Ich saß doch noch hier. Seit mich die Erkenntnis wie eine an die Felsen klatschende Welle weggespült hatte. „Manches lernt man erst zu schätzen, wenn es nicht mehr da ist.“ Immer wieder dröhnte dieser Satz durch meinen Schädel. Ich drosch mit meinen Fäusten auf meinen Kopf ein. „Geh weg!“ schrie ich. Ich wollte nur noch, dass es aufhörte. Ich wollte mein altes Leben zurück. Mich mit meinen Freunden treffen, einfach eine unbeschwerte Zeit verleben, mich um meine Familie kümmern.
Marcel! Ich musste wieder an Marcel denken, der wahrscheinlich schon längst wieder gegangen und sicher stinksauer war. Zurecht. Hoffentlich nahm er es mir nicht zu übel, dass ich ihm nicht aufmachen konnte. Aber was hätte ich tun sollen? Irgendwo in meinem inzwischen benebelten Gehirn nahm ich ein Klopfen wahr. „Was willst Du noch?“ schrie ich wie von Sinnen. Ich hätte jeden umbringen können, der hinter dieser Tür stand. „Papa, brüll bitte nicht so!“ hörte ich die Stimme meiner Tochter Leonie. „Ich hab Dir Toilettenpapier vor die Badezimmertür gestellt, wir hatten doch noch welches im Keller!“

- Ende -​
 
Hallo Nostoc,

als ich den Titel las, kam mir sofort das vergangene Wochenende in den Sinn. Da haben wir Schränke ausgemistet. Da waren auch einige Sachen dabei, wo man mindestens zweimal überlegte, ob sie wirklich weg können.
Dennoch hat mich Deine Geschichte, als ich sie zu lesen begann, neugierig gemacht. Du hast die Spannung wirklich super aufgebaut, ohne dem Leser eine Idee zu geben, was tatsächlich fehlte.
Eine Selbsthilfegruppe? Oh, mein Gott. Wie peinlich. Was konnte das denn sein?
Tja, und dann kam das Ende Deiner Geschichte ins Blickfeld. Ich las nur 'Toilettenpapier' und begann zu lachen. Nee, dachte ich, das ist ja nicht zu fassen. Er sitzt auf dem Klo und hat kein Papier mehr. Dafür gibt es gewiss keine Selbsthilfegruppe ... ;)

Schöne Grüße,
Rainer Zufall
 

Nostoc

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Hallo Rainer Zufall,

vielen Dank für Deine positive Kritik. Die Geschichte ist bei einem Workshop zum Schreiben entstanden, wo die Kursleiterin eben diesen Satz als Thema vorgab. Da ich initial keine rechte Idee hatte, hab ich den Satz bei Google eingegeben. Unter anderem kam dann eine Art Postkarte mit diesem Spruch und einer leeren Klopapierrolle zum Vorschein. So war die Idee geboren :D.

Schönen Tag und viele Grüße,
Nostoc
 

lietzensee

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Hallo Nostoc,
eine klasse Geschichte. Wie Rainer geschrieben hat, die Spannungskurve hältst du gut durch und das Ende ist ... überraschend.

Zwei Details:
Aber nun ja, ich bin jetzt 49 Jahre alt, wir haben schon so viel Zeit miteinander verbracht, mal mehr, mal weniger intensiv, mal seltener, mal häufiger. Aber wenn wir Zeit miteinander verbrachten, war es immer wichtig, beieinander zu sein. Ohne schien es mir bis heute immer unmöglich, absurd, ja widerwärtig.
Nach drei Mal lesen ergeben die Sätze mit Hinblick auf das Ende Sinn. Trotz dem finde ich die Formulierung abwegig. Ich würde nicht davon sprechen, mit Klopapier "beieinander zu sein". Auch ist "Miteinander Zeit verbringen" und "beieinander sein" die selbe Sache. Dann ist es komisch zu sagen, dass eins für das andere "wichtig ist". Ich würde die Passage umformulieren.



Ich kannte Marcel nun schon lange genug, um zu wissen, dass er unten vor dem Haus stand und sich wunderte, warum ich nicht öffnete.
Dass Marcel sich hier wundert, kann man sicher auch wissen, ohne ihn lange zu kennen.

Viele Grüße
lietzensee
 

Nostoc

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Hallo Lietzensee,

vielen Dank für die Kritik, ich denke drüber nach. Die Geschichte ist gestern Abend in kurzer Zeit im Rahmen eines Workshops entstanden. Zwischendurch ist es mir auch etwas zu „dramatisch“ geworden, aber die Geschichte lief so darauf zu. Werde es bestimmt nochmal überarbeiten.

LG, Nostoc
 

Klaus K.

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Hallo Nostoc,

da scheint auch viel persönlich Unverarbeitetes mitzuschwingen. Zudem ist zumindest eine inspirative Anleihe (siehe lietzensee, Humor und Satire, Januar) zu erkennen. Das "anrüchjge" Thema ist damit m.E. erschöpfend abgehandelt.- Um mit Hera Klit bei Shakespeare zu bleiben: Sorry, not my cup of tea.
Mit Gruß, klaus k.
 

Nostoc

Mitglied
Hallo Nostoc,

da scheint auch viel persönlich Unverarbeitetes mitzuschwingen. Zudem ist zumindest eine inspirative Anleihe (siehe lietzensee, Humor und Satire, Januar) zu erkennen. Das "anrüchjge" Thema ist damit m.E. erschöpfend abgehandelt.- Um mit Hera Klit bei Shakespeare zu bleiben: Sorry, not my cup of tea.
Mit Gruß, klaus k.
Hallo Klaus, danke für Deine Kritik: Soweit ich das beurteilen kann, ist da nichts unverarbeitetes von mir drin, aber wer weiß ;) . Die Geschichte, auf die Du anspielst, habe ich gelesen, aber während des Schreibens tatsächlich nicht daran gedacht. Vielleicht unterbewusst…

Schöne Grüße,
Nostoc
 



 
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