Mann im Gras

Klaus K.

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Mann im Gras

Er war bis zum Ende des Waldwegs gefahren und hatte dann seinen Wagen auf dem Parkplatz abgestellt, das einzige Fahrzeug weit und breit. Er war endlich allein und ging jetzt den kleinen Pfad entlang, der rechts von ihm von dichten Tannen begrenzt wurde. Auf der anderen Seite befand sich das sanft abfallende weite Tal, irgendwo unten durchtrennt von einem kleinen Wasserlauf, daneben nach oben aufsteigend eingerahmt durch einen weiteren dichten Tannenwald. Sein Weg, schmal aber gut begehbar, wurde links von ihm durch hohes Gras begrenzt. Die wildwachsenden Halme waren außergewöhnlich lang, vereinzelt mit anderen Pflanzen durchsetzt.

Er war völlig allein. Nach etwa dreißig Minuten, nur begleitet von seinen eigenen Gedanken, sah er am Wegrand im Gras eine Gestalt auf dem Boden liegen. Er kam näher und erkannte einen Mann, der auf dem Rücken lag. Dessen Arme befanden sich in einer eher unnatürlichen Haltung rechts und links gerade ausgestreckt an seinem Körper, der Kopf lag ohne weitere Unterlage auf dem Boden. Der Mann war nur mit einem makellosen weißen Hemd, einer schwarzen Hose und sehr gepflegten ebenfalls schwarzen Schuhen bekleidet. Er trug keine Armbanduhr und auf den ersten Blick erkennbar auch keine Ringe oder anderweitigen Schmuck.
Der Fremde hatte seinen Kopf zu ihm umgedreht, aber er grüßte ihn zuerst. "Guten Tag! In dieser Einsamkeit noch auf jemanden zu treffen, damit hätte ich nicht gerechnet!"
"Der Zufall kennt keine Regeln - seien Sie ebenfalls gegrüßt!"
Der Unbekannte richtete sich dabei jetzt auf, sein Oberkörper und seine Beine bildeten fast einen rechten Winkel. Seine Arme lagen immer noch seitlich dicht an seinem Körper. Es ließ sich jetzt zudem erkennen, daß er glatt rasiert war und volles, schwarzes Haar hatte, sauber geschnitten und mit einem Seitenscheitel. Der Mann war ungefähr fünfundvierzig Jahre alt.

Er bemerkte, daß das Gras unter dem Rücken des Fremden nicht heruntergedrückt wirkte, als dieser sich aufgerichtet hatte. Es war nur ein ganz kurzer, mehr fotografischer Ausschnitt, den er dabei registrierte. Er maß ihm keine Bedeutung bei.
"Sie sind sicher auch nur zur Entspannung hierher gekommen?"
"Im weitesten Sinne...ja. Wie gesagt, es ist eher Zufall."
"Und Sie betrachteten den Himmel über sich, wenn ich das richtig registriert habe?"
"Auch. Aber da hat sich eher hier nichts verändert."
"Sie sind sicher Philosoph, oder? Oder Dichter?"
"Beileibe nicht, weder noch. Falls Sie weiter fragen, ich bin auch kein Hellseher, Wahrsager oder Träumer, wenn Sie darauf abzielen. Ich bin auch kein Ausserirdischer, wie man leicht erkennen kann."
"Es geht mich ja auch überhaupt nichts an. Die Gegenwart ist ja spannend genug, finden Sie nicht auch?"
"Wenn man sie aus der Zukunft betrachtet, wohl nicht. Aber da wird sich einiges ändern. Nehmen Sie nur die Physik. Niemand wird doch behaupten wollen, daß die derzeitigen Erkenntnisse das Maß aller Dinge sind. Das gilt bereits bei Newton's Gesetzen zur Gravitation - die Sache mit dem Apfel, der vom Baum fällt - die hier ihre Gültigkeit haben. Hier und im gesamten von hier aus sichtbaren Universum, ganz präzise also nur in diesem Universum! Aber wer sagt, daß dies überall so sein muß? Vielleicht fällt anderenorts der Apfel nach oben zum Baum? Haben Sie - hat man - darüber überhaupt schon einmal nachgedacht? Weiß man das hier und jetzt schon? Was weiß man darüber im Jahr 2546? Ist da dann der Blick zurück auch immer noch verwehrt oder generell möglich? Zeit und Raumzeit, beide sind heute und hier doch ein noch ungelöstes Mysterium, aber in einem anderen Universum gäbe es auch andere Regularien.- Oder die Lichtgeschwindigkeit. Die gilt als unumstößliches Gesetz in eben diesem Universum. Gilt sie aber überall, gilt sie für alles? Die Physik hat noch Erkenntnisse vor sich, von denen bislang niemand etwas ahnt."
"Sie haben bei Ihren Ausführungen sehr intensiv unsere aktuelle Physik betont... Wie kommen Sie auf das Jahr 2546?"
"Verzeihung, aber ich wollte Sie nicht dadurch irritieren. Ich hätte auch ein anderes Jahr nehmen können. Das Ergebnis bliebe gleich."
"Ich habe dadurch jetzt den Verdacht, daß Sie mehr wissen, als Sie jetzt sagen."
"Insistieren Sie bitte nicht - betrachten Sie mich nur als einen Reisenden, der seine Gedanken äußert, sich Ihnen gegenüber jetzt vielleicht schon zuviel geäußert hat. Lassen Sie uns hier enden, sonst wird das Fahrwasser eventuell zu stürmisch. "
"Ja, ich muß auch weiter, ich wollte sowieso noch ein paar Kilometer laufen. Es war mir jedenfalls ein Vergnügen, alles Gute für Sie! Vielleicht sieht man sich irgendwann ja mal wieder?"
"Das Vergnügen war ganz meinerseits! Und, was das Wiedersehen anbelangt, könnte dies gut sein. Aber auch nur, wenn es der Zufall so vorsieht...! Alles Gute daher auch für Sie!"
Der Mann brachte jetzt seinen Körper zurück in seine ursprüngliche Position und legte sich der Länge nach wieder ins hohe Gras. Dann schloß er zusätzlich seine Augen.

Er ging weiter. Ein eigenartiger Fremder, ein eigenartiges Gespräch. Wer war das, wo kam der Mann her, was waren das für Aussagen, oder waren es Andeutungen und Erkenntnisse aus der Zukunft? Und was war mit seiner Haut? Sie war ihm irgendwie aschfahl vorgekommen, hatte ungesund auf ihn gewirkt. Ein insgesamt sehr seltsames Erlebnis, ein sonderbares Zusammentreffen. Nach einiger Zeit beschloß er umzukehren, denn der Weg wurde zunehmend schmaler und unpassierbarer. Seit der Begegnung mit dem Mann im Gras waren nur etwa zwanzig Minuten vergangen. Er kehrte um.
Dann erreichte er wieder die Stelle, wo sie sich getroffen hatten. Er hatte sich den Punkt gut merken können, da sich dort, jetzt von ihm aus links am Wegrand, drei Eichen befanden, die überhaupt nicht zu den Tannen passten. Da hatte der Fremde doch irgendwo auf der gegenüberliegenden Seite im Gras gelegen. Der Mann war nicht mehr da, aber das Gras. Und das Gras war überhaupt nicht niedergedrückt, die Halme wiesen keinerlei Knicke, Brüche oder Verformungen auf. Er prüfte dann die Umgebung rechts und links. Auch sein Uhrenvergleich stimmte, zwanzig Minuten war er weitergegangen, dann zwanzig Minuten zurück, um jetzt die Stelle wieder zu lokalisieren. Der Mann im Gras war verschwunden, er hatte keine Spuren hinterlassen. Oder doch? Wie war das? Das Jahr 2546? Der Blick aus der Zukunft auf die Gegenwart? War er aus einer anderen Zeit gekommen? Und plötzlich, vielleicht zwanzig Meter entfernt erhob sich jetzt eine Gestalt aus dem Gras am Wegrand.
"Hallo, da sind Sie ja wieder! Schon zurück? Ich habe mich vorhin überhaupt nicht vorgestellt, ich bin Martin Wertkolb, Professor für theoretische Physik! Dies nur, um eventuell bei Ihnen aufgekommene Bedenken nach unserem kurzen Gespräch zu minimieren. Glauben Sie mir, es gibt sie, die Paralleluniversen." Der Mann legte sich jetzt sofort ins Gras zurück und war dadurch nicht mehr sichtbar.
Einige Schritte genügten und er hatte die Stelle erreicht, an der der Fremde soeben noch gestanden und sich dann niedergelegt hatte. Das Gras war erkennbar unverändert dort, es wies keinerlei Druck- oder Knickspuren auf. Nichts deutete darauf hin, daß dort gerade noch ein Mensch gelegen hatte. Allein die Farbe der Halme war etwas verändert, das satte Grün wirkte eher aschfahl. Und das Blau des Himmels schien sich gleichfalls vermischt zu haben, es wirkte milchig-grau.
"Hallo, suchen Sie mich?"
Der Professor stand jetzt wieder einige Meter entfernt vor ihm am Wegrand. "Lassen Sie es gut sein, es ist zwecklos. Es braucht noch einige hundert Jahre hier, Sie werden mich bis dahin nicht erreichen. Umgekehrt geht es, das haben Sie erfahren können. Alles Gute erneut für Sie! Und berichten Sie besser nicht von unserer Begegnung, man würde Sie für verrückt erklären. Überlassen Sie es den Zweiflern, den Ignoranten, den Theoretikern, die sich alle unter der Kuppel der Wissenschaft tummeln. Ihre Erfahrung und Erkenntnis hingegen heute hier ist die Realität. Und Sie, Sie sind allen bereits jetzt Äonen voraus."
Der Mann aus dem Gras drehte ihm jetzt den Rücken zu und ging den Weg vor ihm zurück. Nach der nächsten Biegung war er dann aus seinem Blickfeld verschwunden. Der Himmel war wieder blau.
Diese Begegnung erfolgt erst im Jahr 2104.
 
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